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Privatwohnungen-ein Hindernis für die Arbeitsmobilität der Bürger Russlands


Russlands Bürger halten sich an ihren angestammten Wohnorten fest und sind nicht bereit, selbst für einen besser bezahlten Job umzuziehen. Nur jeder vierte Bürger der Russischen Föderation räumt für sich die Möglichkeit eines Umzugs ein. Und von jenen, die ihren Wohnsitz wechseln würden, nannten nur 16 Prozent die Möglichkeit, eine Arbeit zu finden, als Grund. Dies sind Ergebnisse neuer soziologischer Erhebungen. Ein starker Stimulus für die Sesshaftigkeit der Bürger Russlands ist der hohe Anteil von Wohnungseigentümern, erläutern Experten der „NG“.

Die Arbeitsmobilität wie im Übrigen auch die generelle Mobilität der Bevölkerung bleibt in der Russischen Föderation eine geringe. Laut Angaben einer Umfrage des staatlichen russischen Meinungsforschungszentrums VTsIOM lebt die Hälfte der Bürger Russlands (50 Prozent) seit der Geburt am Wohnort. Nur jeder vierte (25 Prozent) würde in einen anderen Ort Russlands für ständig umziehen wollen. (72 Prozent würden überhaupt nicht umziehen.) Die Arbeit als einen der Hauptgründe für einen Umzug nannten 19 Prozent der Bürger Russlands, die den Wohnort gewechselt hatten (im Jahr 2019 war dieser Wert höher und machte 25 Prozent aus). Die Suche nach einem Job ist von der Relevanz her der zweite Grund für einen Umzug. Und auf dem ersten Platz liegen familiäre Umstände (25 Prozent). Weitere elf Prozent nannten als Umzugsgrund ein Studium bzw. eine Ausbildung.

Von jenen, die gern umziehen würden, wiesen 16 Prozent als Grund die Möglichkeit aus, einen Arbeitsplatz zu finden. Höher ist die Motivation nur bei jene, die von einem höheren Lebensniveau träumen (17 Prozent). Dabei werden als die populärsten Städte, wohin die aktiven Bürger umziehen würden, Moskau (24 Prozent) sowie Sankt Petersburg und Krasnodar (jeweils 12 Prozent) genannt.

Die Aufgabe der Gedanken von einem Ortswechsel erklärten die Bürger Russlands meistens damit, dass ihnen alles recht sei (35 Prozent, im Jahr 2019 waren es 27 Prozent). Aber auch damit, dass man neben den Freunden oder Verwandten leben möchte (17 Prozent). Weitere zehn Prozent der Befragten erklärten, dass ihr Alter an einem Umzug hindere (10 Prozent).

Der Wunsch der Bürger Russlands, den ständigen Wohnsitz auf der Suche nach besserer Arbeit zu wechseln, hat bei weitem nicht zugenommen, und dies ungeachtet der drastischen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Nach den verhängten Quarantäne-Restriktionen hat das Land einen größeren Teil des Zustroms von Arbeitsmigranten verloren. Die Beamten behaupten, dass sie allein auf den Baustellen einen Mangel von mehr als einer Million ausländischer Beschäftigter gezählt hätten.

Der Mangel an Arbeitsressourcen bremst die Wirtschaftsentwicklung, und der Personalmangel in Russland betrifft nicht nur die Bauarbeiter. Den Unternehmen der digitalen Wirtschaft fehlen hunderttausende Mitarbeiter, ein akuter Mangel an Spezialisten ist in der Medizin, Pharmazeutik und im Bereich der Schulbildung zu verspüren. Selbst steigende Löhne und Gehälter stimulieren nur gering die Bereitschaft, angestammte Orte zu verlassen, obgleich nach Aussagen von Staatsbeamten im bereits erwähnten Bauwesen die Löhne der Arbeiter aufgrund des Personalmangels um 50 Prozent gestiegen sind, und irgendwo auch um das 2fache. Allerdings sind, wie eine im vergangenen Herbst durchgeführte Untersuchung des Internetportals headhunter.ru zeigte, nur drei Prozent der Bürger Russlands bereit, die traditionellen „Migranten“- („Gastarbeiter“-) Arbeitsplätze, die mit einer schweren körperlichen Arbeit in eben jenem Bauwesen oder in der Landwirtschaft verbunden sind, einzunehmen. Übrigens, nach Schätzungen des russischen Statistikamts Rosstat hat etwa ein eben solch geringer Prozentsatz von beschäftigten Bürgern Russlands – 4,1 Prozent – im Jahr 2019 außerhalb ihrer ständigen Wohnorte gearbeitet.

„Im Jahr 2020 machte die Zahl der Beschäftigten, die zum Arbeiten in ein anderes Subjekt fuhren, gemäß der selektiven „Untersuchung der Arbeitskräfte“ von Rosstat 2,8 Millionen Menschen aus. Im Vergleich dazu machten sie im Jahr 2018 rund drei Millionen aus. Wie wir sehen, war der Einfluss der Pandemie auf die Binnenströme der überregionalen Migration doch kein solch katastrophaler“, sagte der „NG“ Jelena Kiseljowa, Analytikerin des Instituts für komplexe strategische Untersuchungen.

Wichtig ist zu verstehen, dass in diesem Parameter die Bewegungen innerhalb einer Region nicht erfasst werden. Berücksichtigt wird aber die Pendel-Migration zwischen den Regionen, wenn die Fahrten Haus-Arbeit-Haus im tagtäglichen Regime vorgenommen werden (beispielsweise aus dem Moskauer Gebiet nach Moskau), präzisiert die Expertin.

Nach ihren Worten entfällt rund die Hälfte des gesamten Zustroms von Binnen-Arbeitsmigranten auf Moskau. Außerdem sind Anziehungsprunkte Sankt Petersburg, das Moskauer Gebiet, aber auch die Öl- und Gasregionen, die Autonomen Bezirke der Chanten und Mansen und der Jamal-Nenzen.

„Das Potenzial der Binnen-Arbeitsmigration ist heutzutage bereits in Vielem ausgeschöpft worden. Die Zahl der attraktiven Arbeitsplätze ist beschränkt und konzentriert sich entweder in Großstädten oder an den Orten der Förderung von Rohstoffressourcen und auf Großbaustellen. Um die Richtungen der Binnen-Arbeitsmigration zu diversifizieren, muss man neue Arbeitsplätze mit einer würdigen Bezahlung und guten Arbeitsbedingungen in verschiedenen Regionen, darunter in Sibirien und im Fernen Osten, schaffen“, sagt Kiseljowa.

Der Verzicht auf einen Umzug zeigt, dass die heutige Lage den Bürgern Russlands mehr recht ist. Das Gleichgewicht zwischen dem Einkommen, dem Wohnkomfort und anderen Lebensbedingungen in der Region bewegt sie dazu, zu bleiben, sagte der „NG“ Maxim Grigorjew, Direktor der Stiftung für die Untersuchung von Demokratieproblemen. Die Coronavirus-Restriktionen haben den Arbeitsmarkt stark beeinflusst, doch die Arbeitsmigration der Bürger Russlands hat deshalb nicht zugenommen, da sich die Landsleute nicht beeilen, die ausländischen Arbeiter an körperlich schweren und schmutzigen Arbeitsplätzen wie beispielsweise auf Baustellen zu ersetzen, betont der Experte. „Es gibt keine besondere Konkurrenz, zumal die Ausländer zurückzukehren beginnen. Und in der Perspektive von zwei bis drei Jahren wird ihre Anzahl zum Stand vor COVID (-19) zurückkehren“, sagt Grigorjew.

Die Arbeitsmobilität in Russland ist traditionell geringer als beispielsweise in den USA. „Im Ausland mieten mehr Menschen Wohnraum. Und sie sind leichter zum Ortswechsel bereit“, sagt Grigorjew (laut Angaben einer Befragung der Versicherungsgesellschaft „Rosgosstrakh Shizn“ und der Bank „Otkrytiye“ hatten im Jahr 2020 80,5 Prozent der Bürger Russlands eigene, sprich: Privatwohnungen).

Die Binnen-Arbeitsmigration wird nicht nur durch überregionale Bewegungen bzw. Ortswechsel, sondern auch durch einen Berufswechsel und einer Veränderung der Lebensweise charakterisiert“, sagte der „NG“ die Dozentin Ludmilla Iwanowa-Schwez vom Basislehrstuhl „Entwicklung des menschlichen Kapitals“ der Industrie- und Handelskammer der Russischen Föderation in der Russischen G.-V.-Plechanow-Wirtschaftsuniversität. „Die überregionale Arbeitsmigration wird durch einen Ortswechsel in die zentralen Regionen charakterisiert, wo sich das Wirtschaftsleben konzentriert, wo es leichter ist, einen Job zu finden und einen höheren Lohn zu bekommen. Es gibt aber Regionen, wo ein großes Produktionspotenzial existiert, aber es an Arbeitskräften mangelt. Bisher aber sind entsprechend dem Programm zur Erhöhung der Arbeitsmobilität nur 2.200 Menschen umgezogen. Dies ist bisher äußerst wenig für ein Besetzen der offenen Arbeitsstellen. Die Coronavirus-Situation hat die Situation ein wenig verändert. Und ein Teil der Bürger, die seinerzeit in die regionalen Regionen für ein „besseres Leben“ gekommen waren, sind zurückgekehrt, arbeiten oft im Homeoffice-Regime. Aber das größte Problem im Zusammenhang mit dem Coronavirus ist die drastische Verringerung der Anzahl ausländischer Arbeitskräfte. Ohne sie sind mehrere Branchen mit einem Mangel an Produktionspersonal konfrontiert worden. Und diesen Mangel durch Inlandsarbeitskräfte zu überwinden, ist bisher nicht möglich“, sagt die Expertin.