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Im Gesetz über die Glaubensfreiheit bleibt immer weniger Freiheit


Die Geschichte wiederholt sich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts deklarierten die politischen Kräfte, die an die Stelle der Zarenherrschaft getreten waren, darunter die Bolschewiki, außer den uns seit der Schulzeit bekannten Losungen „Den Bauern der Boden!“ und „Den Arbeitern die Fabriken!“ sowohl die Glaubensfreiheit als auch eine Gleichheit der Religionen. Einer der Mitstreiter von Wladimir Uljanow (Lenin), der Ethnograf Wladimir Bontsch-Brujewitsch, hatte die Genossen davon überzeugt, dass die Raskolniki (die Altgläubigen) und die unterschiedlichen nichtorthodoxen religiösen Strömungen klassenmäßig den Proletariern nahe seien, da sie durch die Staatskirche im zaristischen Russland verfolgte waren. Nach 1917 spielten die neuen Machthaber reichlich mit den Konfessionen, wobei sie die einen begünstigten und andere aus dem Land, in eine Emigration jagten, wobei die Widerspenstigen in Gefängnisse gesteckt wurden.

Im Oktober 1912 verbreitete das Volkskommissariat für Landwirtschaft den Aufruf „An die Sektanten und Altgläubigen, die in Russland und im Ausland leben“. Ihnen waren Land und die volle Freiheit, sich zu ihrem Glauben zu bekennen und ihn zu praktizieren, versprochen worden. Der XIII. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) hatte 1924 in einer seiner Resolutionen bestimmt: „Ein besonders aufmerksames Vorgehen ist gegenüber den Sektanten notwendig, von denen viele überaus schweren Verfolgungen seitens des Zarismus ausgesetzt worden waren und in deren Milieu viel Aktivität bemerkt wird. Durch ein kluges Herangehen muss erreicht werden, dass die unter den Sektanten vorhandenen erheblichen Wirtschafts- und Kulturelemente in die Bahnen der sowjetischen Arbeit gelenkt werden“. Und zehntausende Emigranten, russische Duchoborzen und Molokanen aus Kanada, Uruguay und den USA kehrten nach Russland zurück. Sie brachten neue Landwirtschaftstechnik mit, Saatgut, fortgeschrittene Agrar-Technologien. Innerhalb kurzer Zeit wurden dutzende landwirtschaftliche Kommunen, Kolchose, Artels (Genossenschaften) und Produktionsstätten geschaffen.

Aber die Freiheit zu glauben und seinen Glauben zu verbreiten währte nicht lange: Bereits im Februar 1929 wurde durch den Sekretär des ZK der KPR (B) Lasar Kaganowitsch die Direktive „Über Maßnahmen zur Verstärkung der antireligiösen Arbeit“ als Rundschreiben verschickt. Und im Mai wird auf dem XIV. Allrussischen Kongress der Sowjets eine neue Fassung des Artikels 4 der Verfassung der RSFSR verabschiedet. Anstelle der „Freiheit der religiösen und antireligiösen Propaganda“ tauchte die „Freiheit der religiösen Bekenntnisse und antireliösen Propaganda“ auf.

Wozu dieser historische Exkurs? Es ist alles simpel. Nicht ich allein sehe, dass die heutige staatliche gesetzesstiftende Politik, beginnend ab dem Jahr 2017, mit den berüchtigten „Jarowaja-Oserow-Gesetzesänderungen“, auf eine Einschränkung des Wirkens religiöser Vereinigung und der Rechte gläubiger Menschen ausgerichtet ist. Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den „islamischen Extremismus“ wird in das Gesetz „Über die Glaubensfreiheit und über religiöse Vereinigungen“ eine unverständliche Reglementierung der missionarischen Tätigkeit aufgenommen. Und unter Berücksichtigung dessen, dass für die meisten Konfessionen die Verbreitung ihrer Glaubenslehre ein untrennbarer und natürlicher Teil des tagtäglichen geistlichen Lebens wie das Gebet oder, wenn Sie wollen, die Nahrungsaufnahme ist, wird dies nicht anders als eine Einschränkung der eigentlichen Glaubensfreiheit aufgefasst. Millionen von Bürgern Russlands verstoßen gegen diese Bestimmung des föderalen Gesetzes täglich, indem sie über Gott und ihre Überzeugungen mit anderen Menschen sprechen, indem sie in den sozialen Netzwerken Posts veröffentlichen und indem sie einzelne Bestimmungen der Glaubenslehre in Artikeln und Interviews von Massenmedien und selbst in literarischen Werken und verbalen Auftritten vermitteln. Schon bald werden zig Millionen „Osterkarten“ mit der missionarischen Botschaft „Christus ist auferstanden!“ unsere Chats, Massenmedien und Sendungen von Funk und Fernsehen ausfüllen. Aber dafür, werden Sie sagen, bestraft man doch nicht! Ich versichere Ihnen: Dies ist eine vorübergehende Erscheinung. Das Instrument, um jeglichen Menschen zur Verantwortung zu ziehen, der es wagte, von der Religion zu sprechen, gibt es bereits. Bisher wird es episodisch an jenen ausprobiert, der nicht antworten kann und kein Echo in der Gesellschaft auslöst. Zum Beispiel das Mädchen aus Swasiland, eine Studentin der Medizinischen Akademie von Nishnij Nowgorod. Ihre ganze Schuld bestand darin, dass sie bei einem Gottesdienst christliche Psalmen gesungen hatte. Wofür man sie einer illegalen religiösen Tätigkeit bezichtigten. Und da der Gottesdienst im Internet übertragen worden war, so auch noch einer ungesetzlichen missionarischen Tätigkeit. Die Folge: eine Bestrafung in Form einer Deportation. Und die Kirche bestrafte man dafür, dass sie „solch eine Gesetzlosigkeit“ in ihren Mauern zugelassen hatte.

Nach 2017 ging die Verschärfung der religiösen Gesetzgebung weiter. Geplant wurde, eine Gesetzesänderung zu verabschieden, der entsprechend die Geistlichen und das Personal religiöser Organisationen, die eine Ausbildung im Ausland erhalten haben, eine wiederholte Prüfung in Russland obligatorisch absolvieren müssen. Und erst danach können sie eingestellt werden oder einfach einen Gottesdienst zelebrieren. Leiter religiöser Organisationen und Vereinigen empörten sich, und die Staatsduma ist ihnen entgegengekommen, indem sie die Formulierungen redigierte. Von nun an wird die wiederholte Prüfung diejenigen betreffen, die „erstmals das Zelebrieren von Gottesdiensten, anderen religiösen Ritualen und Zeremonien sowie die Vornahme einer missionarischen oder Lehrtätigkeit auf dem Territorium der Russischen Föderation aufnehmen, aber vor Beginn des Zelebrierens von Gottesdiensten, anderen religiösen Ritualen und Zeremonien sowie der Vornahme einer missionarischen und Lehrtätigkeit auf dem Territorium der Russischen Föderation“.

Ein spitzfindigeres, entschuldigen Sie, Jesuitentum habe ich in Gesetzestexten noch nicht angetroffen. Analysieren wir einmal der Reihenfolge nach. Gegenüber religiösen Organisationen gibt es keine obligatorische Forderung, dass ihre Geistlichen, das religiöse Personal und die Prediger überhaupt irgendeine Ausbildung besitzen müssen. Da ergibt es sich, dass es für sie einfacher ist, das Vorhandensein einer ausländischen Ausbildung zu verheimlichen, anstatt Mittel und Kräfte für eine neue Prüfung aufzuwenden. Weiter. Wenn die im Verantwortungsbereich der religiösen Organisation liegt, kann sie so viele wie möglich Bescheide ohne ein reales Ablegen eben dieser neuen Prüfung drucken oder sie einfach zu einer formellen machen.

Außerdem haben einige zentralisierte religiösen Organisationen und selbst einer der russischen traditionellen Konfession überhaupt gar keine eigenen Bildungseinrichtungen, in denen man zur ausländischen eine zusätzliche Ausbildung vermitteln könnte. Für die Gläubigen ergibt sich die berechtigte Frage: „Warum denn solche Forderungen nur uns gegenüber? Warum verpflichten sie nicht bei einer Einstellung in einem Staatskonzern die Bürger eine wiederholte Prüfung abzulegen, die beispielsweise eine wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung erhalten haben? Ist dies nicht eine Diskriminierung?“

Wenn die Offiziellen entscheiden, diese Forderung des Gesetzes (das am vergangenen Mittwoch in dritter und letzter Lesung durch die Staatsduma verabschiedet wurde – Anmerkung der Redaktion) umzusetzen, und keiner Profanation zustimmen, so wird man bald irgendwelchen Behörden die Vollmachten erteilen, Überprüfungen vorzunehmen und ein Diplom zu fordern, zu untersuchen, hat nicht der jeweilige Mensch, der die Prediger-Kanzel besteigt, nicht heimlich irgendeinen Lehrgang absolviert, während er im Ausland Urlaub machte oder auf einer Pilgerreise war. Es muss ein Vertreter der Behörden in die Prüfungskommissionen der geistlichen Bildungseinrichtungen aufgenommen und irgendwie kontrolliert werden, dass der „Feind nicht zum Altar kommt“. Wie aber kann man bei Millionen Missionaren das Vorhandensein oder das Nichtvorhandensein einer ausländischen Ausbildung überprüfen? Ich kann es nicht fassen. Es gibt aber bei uns im Land Behörden, die Haushaltsmittel dafür ausgeben, um sich darüber für uns Gedanken zu machen. Und ich bin sicher, dass sie sich irgendetwas ausdenken werden. Und schon bald.

P.S.

Wie „NG Deutschland“ aus der Staatsduma, dem Unterhaus des russischen Parlaments, erfuhr, wird in einem Begleitschreiben zur erwähnten Gesetzesänderung erklärt, dass die Annahme der Änderungen erlauben werde, „die Teilnahme der Geistlichen, die eine religiöse Ausbildung im Ausland erhalten haben und eine religiös-extremistische Ideologie verbreiten, an der Tätigkeit religiöser Organisationen zu verhindern“. Schaut man sich jedoch Meldungen über Festnahmen gläubiger Menschen in Russland an, die laut offizieller Lesart Terrorakte vorbereiteten oder anderweitig extremistische Aktivitäten unternahmen, so sind diese hauptsächlich gar keine Absolventen irgendwelcher ausländischer religiöser Ausbildungseinrichtungen. Somit ergibt sich die Frage, ob nicht Russland sich auch auf dem Gebiet der theologischen Ausbildung vom Ausland abschotten will.