Im neuen Roman „Lemner“ des Schriftstellers Alexander Prochanow (in diesem Jahr vom Verlag AST veröffentlicht, wobei die Erstauflage innerhalb eines Monats vergriffen war – Anmerkung der Redaktion) gibt es Personen, die dem einen oder anderen Wladimir Putin (Präsident Leonid Leonidowitsch Trojewidow, was so viel heißen mag wie: der dreimal so weit Sehende oder auch in drei Formen erscheint), Jewgenij Prigoschin (Michail Solomonowitsch Lemner, „Prigoschij“ bzw. auf Deutsch „Hübscher“) sowie anderen Helden und Antihelden der aktuellen russischen Geschichte und Wirklichkeit als ähnliche erscheinen können.
Im Internet tauchten sofort auch Zitate auf. Die Zitate erschienen einigen Teilnehmern des literarischen Prozesses und der politischen Situation beinahe als oppositionelle. Sie werden wir verständlicherweise an dieser Stelle auf jeden Fall nicht anführen. Es sei bloß gesagt, dass dies die direkte Rede des Haupthelden – eines negativen – ist.
Das Geschehende kann man natürlich nicht als einen Skandal bezeichnen. Gegenwärtig gibt es keinerlei Literaturskandale, und es kann sie auch nicht geben. Dies ist nicht die Zeit dafür. Literatur- und literaturnahe Staatsbeamte halten sich möglicherweise auch als Herrscher der Gedanken, als die Spitzenvertreter der öffentlichen Meinung (wie man jetzt gern sagt), doch die können sie in keiner Weise sein. Heutzutage braucht niemand ganz stark weder Schriftsteller noch Literatur an sich. Die Zeit (die glückliche und schreckliche) ist vergangen. Die Propaganda (und sie wird gerade gebraucht) wird irgendwie ohne die „Bollitra“ (so bezeichnen einige Spezialisten die „große Literatur“, auf Russisch „bolschaja literatura“) zurechtkommen.
Und Prochanow… Nun, was ist er für ein Kämpfer gegen das „Regime“? Er ist ein Schriftsteller (geboren im Februar 1938 – Anmerkung der Redaktion). Ein loyaler. Aber kein langweiliger, sondern – im Gegenteil – ein recht markanter. Was natürlich wie ein Oxymoron aussieht, aber dennoch mitunter anzutreffen ist. Prochanow war stets ein politischer Schriftsteller. Und seine Texte konnten sogar den sogenannten Liberalen in der Literaturwelt (gerade aufgrund ihres markanten Charakters) gefallen.
Doch die Personen (des jeweiligen Textes, und dies darf man nicht vergessen) sind immer gerade Personen. Sie können Prototypen ähnlich sein. Vor uns haben wir aber gerade eine künstlerische Arbeit. Und sie ist nicht so wie ein Pamphlet, ein wissenschaftlicher oder publizistischer Artikel aufgebaut. Im Roman gibt es viele handelnde Personen. Es gibt da beispielsweise die sogenannte Armee „Puschkin“ und die handelnde „Person“, über die da dies geschrieben wurde: „In einem Glasgefäß stand, in Spiritus konserviert, ein nackter Mann. Dies war Boris Jefimowitsch Schtum (angespielt wird auf den im Februar 2015 ermordeten Boris Nemzow – Anmerkung der Redaktion), ein Oppositionspolitiker, der vor einigen Jahren auf der Kreml-Brücke von einem tschetschenischen Schützen ermordet wurde. Ein glänzender Orator, ein furchtloser Redner, ein Liebling der Frauen, der Präsident Trojewidow der Sprengung Moskauer Häuser bezichtigt hatte. Er stand in dem Glasgefäß mit leicht geöffneten verblassten Lippen… Auf der Stirn war ein winziges Löchlein auszumachen, ein Einschussloch“.
Oder da ist beispielsweise die handelnde Person, die Ksenia Swertschok (Deutsch „Grille“, angespielt wird auf Putins Patentochter Xenia Sobtschak – Anmerkung der Redaktion) heißt. Wenn Sie wollen, erkennen Sie die oder auch nicht. Aber die direkten Zitate des negativen Helden (von „Prigoschij“) müssen auch Angriffe gegen die Herrschenden enthalten. Was ist er denn sonst für ein negativer?
Ja, und da schreibt Prochanow selbst in seinem Telegram-Kanal: „Rund um den Roman „Lemner“ flammt ein Skandal auf. Liberale Witzbolde – die einen in Israel, andere in Paris oder in Venedig – reißen aus Buch Sätze heraus, in denen ironisch und böse vom Helden des Romans, von Präsident Trojewidow, die Rede ist. In ihm haben die Witzbolde die Figur des gegenwärtigen Präsidenten Russlands ausgemacht. Die Worte sind – direkt gesagt — keineswegs Zucker. Die Sache ist aber die, dass diese Worte nicht aus dem Munde des Autoren kommen, nicht im Namen des den Roman schreibenden Autors, sondern in den Mund eines der negativsten handelnden Personen des Romans gelegt wurden, den man später umbringt, in einem Eisloch – im Eisloch der russischen Geschichte – ertränkt…
Die liberalen Witzbolde verbreiten diese Sätze in den sozialen Netzwerken, wobei sie den Wunsch hegen, den Zorn des Staates auf den Autoren des Romans zu lenken. Sie wollen den Faktor des Buches als ein Instrument zur Ausübung von Druck auf die Herrschenden nutzen. Ob es gelingen wird, „Lemner“ in einen neuen „Doktor Schiwago“ (der 1956 fertiggestellte Roman von Boris Pasternak wurde in der Sowjetunion erst Ende der 1980er erstmals offiziell veröffentlicht – Anmerkung der Redaktion) zu verwandeln, mag ich nicht zu beurteilen…“.
Unter Berücksichtigung dessen, dass die Bekanntgabe der Nobelpreisträger erfolgte, sehen die Verweise auf „Doktor Schiwago“ besonders amüsant aus. Wir bezweifeln nicht, dass der Schriftsteller Prochanow mehr als nur des Nobelpreises für Literatur würdig ist (ja und nicht nur für Literatur). Freilich besteht keine Gewissheit dahingehend, dass der Preis ihm würdig ist. Aber um den geachteten Schriftsteller eines Liberalismus zu bezichtigen, gibt es keinerlei Grundlagen.
Alles in allem wird man sich ohne die „große Literatur“ keine Klarheit verschaffen.
Im neuen Roman von Alexander Prochanow handeln Personen, die an Putin und Prigoschin erinnern. Und dies macht hellhörig.
12:46 15.10.2025