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Im Westen der Ukraine nehmen die militanten Stimmungen zu


Am vergangenen Mittwoch hat Wladimir Selenskij erneut Stellungen der ukrainischen Streitkräfte im Donbass besucht. In den zwei Jahren im Präsidentenamt hat er oft mit Militärangehörigen und Einheimischen gesprochen. Die Herangehensweisen Selenskijs an die Lösung des Konflikts haben sich nicht verändert, die Rhetorik ist aber härter geworden. Es verändern sich auch die Stimmungen in der ukrainischen Gesellschaft.

Eine spezielle Untersuchung, die der Frage nach den Veränderungen der öffentlichen Meinung bezüglich der Konfliktregelung im Donbass galt, haben in der zweiten Maihälfte der soziologische Dienst des Rasumkow-Zentrums und der I.-Kutscheriw-Stiftung „Demokratische Initiativen“ durchgeführt. Laut ihren Angaben sind gegenwärtig 71 Prozent der Ukrainer überzeugt, dass zwischen der Ukraine und Russland ein Krieg erfolge. „Solch eine Meinung dominiert in allen Makroregionen und nimmt vom Osten (48 Prozent) zum Westen hin (91 Prozent) zu“, betonten die Soziologen. Die Anhänger fast aller ukrainischen Parteien teilen die Meinung vom Krieg der Ukraine mit Russland. 85 Prozent unter dem Elektorat von Wladimir Selenskij und der Partei „Diener des Volkes“, 88 Prozent unter der Wählerschaft von Petro Poroschenko und „Europäischer Solidarität“ und 76 Prozent unter dem Elektorat von Julia Timoschenko und „Batkiwstschina“. Zu einer Ausnahme wurden die Wähler, die sich gen Jurij Boiko, Viktor Medwedtschuk und in Richtung der Partei „Oppositionelle Plattform – Für das Leben“ (die als prorussische in der Ukraine gelten – Anmerkung der Redaktion) orientieren. Unter ihnen sind nur 31 Prozent der Meinung, dass sich die Ukraine und Russland im Zustand eines Krieges befinden würden. 50 Prozent stimmen solch einer Behauptung nicht zu.

Unterschiede, die durch die politische Orientierung der Bürger bestimmt werden, sind auch in den Antworten zur Frage bemerkbar, aufgrund welcher Ursache es nicht gelinge, einen Frieden im Donbass zu erreichen. Insgesamt sind 62 Prozent der Bürger der Meinung, dass „ein Hindernis die Ablehnung und der Unwille der Führung Russlands, zu einer Einigung zu gelangen“, sind. Die ukrainische Seite bezichtigen 19 Prozent, von denen die Mehrheit Wähler der Partei „Oppositionelle Plattform – Für das Leben“ sind (25 Prozent der Einwohner der östlichen Verwaltungsgebiete und 27 Prozent der Einwohner der südlichen Verwaltungsgebiete). Dass Russland die Führung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk in militärischen und politischen Fragen kontrolliere, sind 48 Prozent der Ukrainer überzeugt. Die Meinung hinsichtlich einer direkten Beteiligung russischer Militärs an den Kampfhandlungen auf der Seite der „Volksrepubliken“ bekundeten 47 Prozent, über Waffenlieferungen aus der Russischen Föderation in die Separatistengebieten – 43 Prozent der Ukrainer. So bewerteten die Rolle Russlands im Konflikt im Osten der Ukraine vor allem die Einwohner der westlichen und zentralen Verwaltungsgebiete. „In den östlichen Verwaltungsgebieten gibt es keine einheitliche Meinung“, betonten die Autoren der Untersuchung.

Insgesamt bewerteten in der Ukraine 53,5 Prozent die Situation im Donbass als eine „russische Aggression gegen die Ukraine unter Nutzung einheimischer Rebellen“. Laut Angaben des Rasumkow-Zentrums und der Stiftung „Demokratische Initiativen“ habe sich die Anzahl der Anhänger solch einer Position in den zwei Jahren der Präsidentschaft von Wladimir Selenskij fast um zehn Prozent erhöht. „Im Vergleich zum November des Jahres 2019 ist im Westen der Anteil der Vertreter solch einer Meinung von 64 bis 74 Prozent angestiegen, in den zentralen Verwaltungsgebieten des Landes von 54 bis auf 62 Prozent, im Süden von 22 bis auf 31 Prozent und im Osten von 24 bis auf 33 Prozent“. Die übrigen Antwortvarianten auf die Frage nach dem Wesen und Ursprung des Konflikts erhielten erheblich weniger Zuspruch unter den Befragten. Nur 15 Prozent der Ukrainer wählten die Variante „innerer ukrainischer Konflikt, in dem eine der Seiten durch Russland unterstützt wird“; 13 Prozent – „ein Krieg Russlands gegen den Westen auf dem Territorium der Ukraine“; 7 Prozent – „ein ausschließlich innerer Konflikt in der Ukraine“. Die Anhänger der beiden letzten der ausgewiesenen Varianten sind ab dem Zeitpunkt des Machtantritts von Selenskij selbst in den südlichen und östlichen Verwaltungsgebieten weniger geworden, betonten die Soziologen. Während im Jahr 2019 22 Prozent der Einwohner des Südens und 21 Prozent der Einwohner des Ostens die Variante von einem „inneren zivilen bzw. Bürgerkonflikt“ gewählt hatten, so vertreten jetzt 11 Prozent im Süden und 15 Prozent im Osten solch eine Meinung (vor allem Anhänger der Partei „Oppositionelle Plattform – Für das Leben“).

Bezüglich der Zukunft der nicht von Kiew kontrollierten Territorien sind 55 Prozent der Ukrainer der Auffassung, dass das Donezker und das Lugansker Verwaltungsgebiet in den Vorkriegsgrenzen in den Bestand der Ukraine zu den gleichen Bedingungen wie auch vor dem Jahr 2014 zurückkehren müssten. Die Idee einer Autonomie für die sogenannten Volksrepubliken unterstützen 13 Prozent. In der ukrainischen Gesellschaft besteht wie auch früher keine einheitliche Meinung über die Wege für eine Beilegung des Konflikts. Stabil bleibt die Ablehnung der Ukraine von der früher in den Medien kursierenden Variante eines „Austauschs“ – die Anerkennung des russischen Status der Krim als Gegenleistung für eine rasche Konfliktbeilegung im Donbass. Dieses Szenario findet nur bei drei Prozent der Bürger Unterstützung. Ohne das Krim-Thema zu tangieren, sind 46 Prozent mit Kompromissen im Interesse einer Konfliktregelung im Donbass, aber nicht mit Zugeständnissen seitens der Ukraine einverstanden. Weitere 18 Prozent der Ukrainer sind davon überzeugt, dass es im Interesse des Friedens Sinn mache, sich auf jegliche Kompromisse einzulassen. Im regionalen Querschnitt unterscheidet sich die Meinung der Einwohner des Südens und des Ostens der Ukraine in den Antworten auf diese Frage von der Position der Einwohner der übrigen Regionen der Ukraine. „Durch eine ausgeprägtere Bereitschaft zu Kompromissen zeichnen sich der Süden und der Osten aus. 46 und 45 Prozent der Einwohner dieser Regionen halten die Verankerung eines „Sonderstatus“ für einzelne Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk in der ukrainischen Verfassung für akzeptabel. Für 60 Prozent der Einwohner des Südens und 50 Prozent der Einwohner des Ostens ist es akzeptabel, einem neutralen oder blockfreien Status der Ukraine zuzustimmen. Zur Gewährung des Status der zweiten Staatssprache für die russische Sprache sind 66 Prozent der Wähler des Südens und 55 Prozent der Einwohner des Ostens bereit. Rund die Hälfte der Bevölkerung der südlichen und östlichen Verwaltungsgebiete sind bereit, direkten Verhandlungen mit den „Volksrepubliken Donezk und Lugansk“ zuzustimmen.

Insgesamt aber akzeptiert die ukrainische Gesellschaft seit den Zeiten der Präsidentschaft von Petro Poroschenko und nach wie vor die Punkte der Minsker Vereinbarungen nicht als Kompromisslösungen. Die Soziologen betonten, dass in den letzten zwei Jahren die Stimmungen zu härteren geworden seien. In den westlichen Verwaltungsgebieten der Ukraine „wird eine wesentliche Radikalisierung der Stimmungen beobachtet. Derzeit finden unter den einheimischen Bewohnern solche Varianten eine gleiche Unterstützung wie selektive Kompromisse im Interesse eines Friedens (37 Prozent) und „ein Frieden im Donbass kann nur von einer Position der Stärke aus geschaffen werden, wenn eine der Seiten siegt“ (36 Prozent). Dabei hat „eine mit Kompromissen verbundene Herangehensweise“ rund 20 Prozent an Unterstützung in den letzten zwei Jahren verloren. Zur gleichen Zeit hat sich im Osten die Zahl der Anhänger von „selektiven Kompromissen“ im Interesse eines Friedens im Vergleich zum November des Jahres 2019 von 66 bis auf 39 Prozent verringert. „Parallel hat die Orientierung auf jegliche Kompromisse im Interesse eines Friedens zugenommen – von 18 bis auf 33 Prozent.“

Die Experten sprechen von einer Zunahme des Bedürfnisses in der ukrainischen Gesellschaft nach härteren Maßnahmen des Staates in Bezug auf die nichtkontrollierten Regionen. 30 Prozent sind der Auffassung, dass man die „Donezker Volksrepublik“ und die „Lugansker Volksrepublik“ als okkupierte ansehen müsse, mit ihnen keinen Handel treiben dürfe sowie alle Zahlungen und die Gewährung von Leistungen usw. einstellen müsse. Dabei stehen die Ukrainer vor allem mit einem Mitgefühl den Einwohnern der Separatistengebiete gegenüber. Laut den Ergebnissen der zitierten Umfrage unterstützen 38 Prozent der Ukrainer die Handlungen des Präsidenten, die auf eine Konfliktregelung im Donbass ausgerichtet sind.