Der Beginn von Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan zu einem Friedensvertrag ist scheinbar nicht mehr fern. Die aserbaidschanische Seite erklärt, dass bei Abschluss solch eines Vertrages die Seiten einander die territoriale Integrität anerkennen müssten und dies „die Verstärkung der aserbaidschanischen Armee fördern wird“. Dabei ruft man in Baku die internationale Staatengemeinschaft auf, Armenien nicht mit Waffen zu versorgen, und verlangt eine unverzügliche Entwaffnung der Verteidigungsarmee der nichtanerkannten Republik Bergkarabach. Armeniens Offizielle haben sich scheinbar mit dem „Unweigerlichen“ abgefunden. Und am 12. April hat Premierminister Nikol Paschinjan im Parlament erklärt, dass die internationale Staatengemeinschaft Armenien aufrufe, „die Planke in der Frage nach dem Status von Bergkarabach herabzusetzen, andernfalls könne sie der armenischen Seite Hilfe verwehren“. Somit erweist sich die ganze langjährige Arbeit zur Gewährung eines unabhängigen Status für die nichtanerkannte Region einschließlich der Anstrengungen im Rahmen der Minsker OSZE-Gruppe als eine auf den Müllhaufen der Geschichte geworfene. Und jetzt setzen Armeniens Offizielle nur auf eine Gewährleistung der Rechte und Freiheiten sowie der Sicherheit der Karabach-Armenier im Bestand Aserbaidschans.
Zu sagen, dass die Erklärung des armenischen Premiers in Stepanakert eine scharfe Reaktion und bereite Resonanz auslöste, bedeutet, nichts zu sagen. Heftige Diskussionen haben im Parlament der nichtanerkannten Republik stattgefunden, begonnen haben unverzügliche Konsultationen der lokalen Offiziellen mit dem Militärkommando der Armee und Verteidigung. Auch Nichtregierungsorganisationen haben sich geäußert. Am 14. April wurde auf einer Sondersitzung des Parlaments eine Erklärung angenommen, in der eindeutig unterstrichen wurde, dass „jeglicher Verhandlungsprozess zu einer gewaltsamen Angliederung von Arzach (armenische Bezeichnung von Bergkarabach – „NG“) an Aserbaidschan gemäß der „Friedens“-Agenda von Armenien und Aserbaidschan, aber auch die Unterzeichnung eines sich aus ihr ergebenden Dokuments nicht nur die Staatlichkeit von Arzach, sondern auch das unveräußerliche Recht der Arzach-Armenier, in ihrer historischen Heimat zu leben, untergraben“.
Die Karabach-Abgeordneten forderten, dass Armeniens Offizielle ihre gegenwärtige „katastrophale Position“ aufgeben und sich ausschließlich von diesen Werten leiten lassen. Sie unterstrich aber auch, dass keinerlei Herrschende das Recht hätten, unter dem Vorwand eines Friedens die Verhandlungsplanke in Bezug eines für Arzach inakzeptablen Status, aber auch in Bezug auf das international anerkannte Recht auf Selbstbestimmung herabzusetzen.
So erklärte David Babajan, der Außenminister der nichtanerkannten Republik, dass Arzach im Bestand von Aserbaidschan nur eine Zukunft habe – einen Genozid und den Verlust der Heimat, wonach auch die Existenz von Armenien vorentschieden sein werde. „Wir befinden uns – ohne eine Übertreibung – in der schwierigsten Etappe unserer Geschichte“, sagte er. „Im Verlauf von Jahren und Jahrhunderten haben wir eine Vielzahl von Schwierigkeiten, von Verlusten durchgemacht. Aber jetzt steht vor uns die Frage nach der Zukunft unserer Staatlichkeit und des Volkes. Und wir müssen dies gut begreifen“.
Die von Nikol Paschinjan formulierte These über ein Herabsetzen der Planke in der Frage nach dem Status von Arzach tangierend, erklärte Babajan: Es gebe von nun an keinerlei Planken, sondern „rote Linien“, deren Übertreten zu einer Katastrophe führe. Dabei erläuterte der Außenminister, dass keiner gegen einen Frieden sein könne. Man müsse aber verstehen, dass es im klassischen Sinne keinen idealen Frieden gebe. Babajan unterstrich ebenfalls, dass Arzach alle erforderlichen Schritte auf dem diplomatischen Feld unternehmen werde, um „das zu retten, was von Arzach geblieben ist“. „Man muss sich vereinen, richtig arbeiten sowie sich nach Möglichkeit Spekulationen enthalten, da dieser Moment sehr wichtig ist. Und wenn man richtig arbeitet, werden wir unser Ziel erreichen. Und unser Ziel ist eines, Arzach zu retten, unser Land zu retten. Es gibt alle Möglichkeiten (dafür). Wir haben einfach kein Recht, sich als Verlierer anzusehen, da wir durch alle und den Herrgott verdammt werden“, erklärte der Außenminister von Bergkarabach.
Nach Meinung der parlamentarischen Opposition in Jerewan löse nicht den geringsten Zweifel aus, dass Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan die antinationale Entscheidung getroffen habe, Arzach an Aserbaidschan abzutreten und alle Forderungen des türkisch-aserbaidschanischen Tandems zu erfüllen. Das wird unter anderem in einer Erklärung des Büros der Partei „Daschnakzutjun“ betont: Weder Paschinjan noch irgendeine politische Kraft hätten das Mandat, eine derartige schicksalsschwere Entscheidung bei Ignorierung der Meinung des Volkes von Arzach zu treffen. „Einen Umbruch in der entstandenen überaus schweren Situation kann ein gesamtnationaler Widerstand bewirken. Die Absetzung der herrschenden Offiziellen Armeniens und eine Auswechselung des Verhandlungsführers sind der erste Schritt zur Veränderung der Situation“, heißt es in der Erklärung.
Ihre Autoren lenken die Aufmerksamkeit der internationalen Staatengemeinschaft, darunter der Länder, die die Co-Vorsitzenden der Minsker OSZE-Gruppe sind, auf den Umstand, dass jegliche Handlungen Paschinjans, die auf eine Übergabe von Arzach unter die Kontrolle von Aserbaidschan abzielen, illegitim seien und keinerlei Rechtskraft besitzen würden.
Das Recht auf Selbstbestimmung des Volkes von Arzach in seiner historischen Heimat ist durch internationale Rechtsakte verankert worden und gilt seit dem Jahr 2007 im Rahmen der Minsker OSZE-Gruppe als eines der Prinzipien für eine friedliche Regulierung des Bergkarabach-Konfliktes.
Übrigens, die Opposition hat das ganze armenische Volk aufgerufen, sich allen inneren und äußeren Bedrohungen zu widersetzen, nicht zu verzweifeln und zu kämpfen – „für die Rechte und Interessen unseres Volkes“.
Armeniens früherer Außenminister Wardan Oskanjan ist ebenfalls der Auffassung, dass man die Unterzeichnung eines Friedensvertrages mit Aserbaidschan vermeiden müsse. In einem von den Medien veröffentlichten Beitrag behauptet er, dass Paschinjan gewichtige und überzeugende Gründe habe, solch ein Dokument nicht zu unterschreiben. Nach seiner Meinung sei die Frage nach dem physischen Bestehen von Arzach in die Waagschale gelegt worden. „Das Volk von Arzach … hat keinem die Vollmachten gegeben, sein Schicksal zu klären“. Außerdem ist der Ex-Minister der Auffassung, dass eine Stimmenmehrheit bei den Wahlen nicht den Erhalt des Rechts bedeute, willkürliche Entscheidungen in der für das armenische Volk existenziellen Frage zu fällen.
Somit sagen die Offiziellen, dass die Garantien für die Freiheiten und Rechte sowie die Sicherheit der Einwohner von Bergkarabach stets für sie wichtig gewesen seien. Aber auf welche Art und Weise die Freiheiten, Rechte und die Sicherheit der Karabach-Armenier im Bestand von Aserbaidschan garantiert werden können, darüber möchte sich scheinbar keiner Gedanken machen. Heute ist dies aufgrund vieler Ursachen unmöglich. Und an einige von ihnen versuche ich zu erinnern. In Aserbaidschan behauptet man, dass nach dem Krieg von 2020 das Bergkarabach-Problem gelöst worden sei und nicht nur solch ein Problem nicht mehr bestehe, sondern im Grunde genommen auch keine solche geografische Bezeichnung wie Bergkarabach.
Vom Prinzip her könnte man es hiermit auch schon belassen. Aber man kann noch einige Gründe anführen. Es vergeht nicht ein Tag ohne Provokationen an der Berührungslinie, die einen Beschuss von armenischen Dörfern einschließen. Es gibt Getötete und Verwundete. Blockiert wird die Zufuhr von Gas und Wasser. Mit Lautsprecheranlagen erfolgen Aufrufe, das eine oder andere Dorf unverzüglich zu verlassen, da der Verbleib der Dorfbewohner dort „widerrechtlich“ sei. Ausgeschlossen wird die Möglichkeit landwirtschaftlicher Arbeiten. Willkürlich wird die einzige Straßenverbindung durch den Latschin-Korridor, die Armenien mit Bergkarabach verbindet, unterbrochen. Die russischen Friedenstruppen, die sowohl für eine unbedingte Straßenverbindung zwischen den Armenien als auch für die Sicherheit der armenischen Dörfer, die sich an der Feuerlinie befinden, verantwortlich sind, können nichts unternehmen, zumal alle begreifen: Wenn sie nicht hier sein würden, wären die aserbaidschanischen Truppen schon längt in Stepanakert einmarschiert. Das Beste, was danach folgen könnte, wären tausende und abertausende neue Flüchtlinge. Ich denke, dass man verstehen muss, dass der Grundgedanke der friedensstiftenden Mission Moskaus in der Region jeglichen Sinn verliert, wenn Bergkarabach unter eine vollkommende Kontrolle Aserbaidschans gelangt.
Außerdem verwandeln sich die Viehweiden, landwirtschaftlichen Nutzflächen, Gärten und Wasserressourcen zu Chagrin-Leder. Es wird Vieh geraubt. Und in den Territorien, die gewaltsam von Armenien geräumt werden, werden konsequent christliche Gotteshäuser und Kirchen zerstört, werden die Spuren des tausendjährigen Aufenthaltes der Armenier auf ihrem historischen Boden beseitigt. Das Leben befindet sich im Visier des Feindes. Es gibt wirklich sehr viele Gründe. Man kann sie lange aufzählen, da die aserbaidschanische Seite noch nicht einen einzigen Schritt in Richtung eines Friedens und den Willen, eine minimale Sicherheit für die Menschen zu garantieren, demonstrierte. Es gibt da nur Ultimaten und Drohungen. In Baku will man auch nicht einmal das eigene politische Lexikon einer Revision unterziehen. In Bergkarabach aber leben immer noch etwa 120.000 Menschen. Keiner fragt diese Menschen, wer und wie ihre Rechte, Freiheiten und die Sicherheit unter der aserbaidschanischen Flagge gewährleisten wird. Die gegenwärtigen Offiziellen Armenien strebten nach einer „Epoche des Friedens“, wobei sie keinerlei Garantien für die Sicherheit der Karabach-Armenien erhalten. Sie erhalten dafür aber neue Blockposten der Aserbaidschaner bereits auf dem Territorium des souveränen Armeniens und eine Fortsetzung der totalen Blockade.
Während die Welt mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt ist, werden hier, auf einem kleinen Landstückchen erneut ethnische Säuberungen vorbereitet. Und es ist keine Kraft auszumachen, die in der Lage ist, sie zu verhindern. Danach aber wird natürlich im Nachhinein ein generelles Bedauern bekundet werden. Dies wird aber den letzten Armeniern wohl kaum helfen, die erneut gezwungen sein werden, ihre Häuser zu verlassen.
Ja, man kann Verständnis für den Wunsch der Offiziellen, gutnachbarschaftliche Beziehungen mit Aserbaidschan herzustellen, aufbringen. Wer möchte denn schon nicht einen Frieden?! Aber es klappt nicht, vor dem Hintergrund von all dem Geschehen dem „guten Willen“ Aserbaidschans Vertrauen zu schenken.
Tigran Abramjan, ein Mitglied der Parlamentsfraktion „Ich habe Ehre“, schrieb auf seiner Facebook-Seite: „Der Status quo der Nachkriegsperiode hat bereits eine schwierige Situation für Arzach und Armenien geschaffen. Aserbaidschan versucht aber, seinen Vorteil zu entwickeln, eine endgültige Kontrolle über die „Arterien“ zur Lebensversorgung Arzachs zu sichern und eine vollkommene Aussiedlung der Armenier aus Bergkarabach zu erreichen“. Das aserbaidschanische Szenario sehe eine komplette Kontrolle über Arzach vor. Und die Hauptanhänger dieses Prozesses seien zweifellos die Offiziellen Armeniens, die mit ihren Erklärungen Aserbaidschan grünes Licht gegeben hätten, ist sich der Abgeordnete sicher. Selbst wenn es den russischen Friedenstruppen in der einen oder anderen Richtung gelingen würde, die aserbaidschanischen Truppen zu den Ausgangspositionen zurückzudrängen, gebe es keine Garantien, dass sie die Vereinbarungen erfüllen und keinen Durchbruch in einer anderen Richtung vornehmen. Die Menschen leben weiter wie auf einem Pulverfass…
Die Perspektiven für eine Abstimmung eines Friedensvertrages zwischen Jerewan und Baku sind selbst bei einer russischen Vermittlung nebulös. In Jerewan und anderen Städten des Landes sowie in Bergkarabach hat eine neue Welle von Protesten gegen eine vollkommene „Übergabe“ von Arzach an Aserbaidschan begonnen.
Bei Protesten am Dienstag wurden über 200 Demonstranten festgenommen, die Straßen in Jerewan im Rahmen der von der Opposition ausgerufenen Aktionen des zivilen Ungehorsams blockiert hatten. Seit dem 17. April erfolgen in der armenischen Hauptstadt gegen die Regierung gerichtete Aktionen, Umzüge und Meetings, die die parlamentarische Opposition organisiert. Das bisherige Vorgehen der Polizei macht deutlich, dass sich Premier Nikol Paschinjan nicht dem Druck der Straße beugen will. Wie lange dies aber noch möglich ist, ist eine andere Frage. Zumal Armeniens Parlamentschef Alen Simonjan, Mitglied der regierenden Partei „Zivilvertrag“, gegenüber Journalisten erklärte, dass es in Armenien keine innenpolitische Krise gebe.