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In den Regionen gehen die Impfstoffe aus


Im letzten halben Jahr haben sich in der Russischen Föderation über 20 Millionen Gegner einer Vakzinierung entschlossen, sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen. Und da hat sich auch herausgestellt, dass es im Land keine ausreichende Menge an Vakzinen gibt, besonders jener, mit deren Hilfe man schneller einen Bescheid oder QR-Vakzinierungscode erhalten kann. Kaum hatte es der Leiter des Gesundheitsministeriums Michail Muraschko geschafft, die Liquidierung des Mangels an Vakzinen in den Regionen bekanntzugeben, als aus den russischen Verwaltungsgebieten am Dienstag entgegengesetzte Nachrichten kamen. Dabei verkünden viele Regionalverwaltungen bereits eine Verlängerung der Quarantänemaßnahmen.

Der Anteil der Bürger Russlands, die nicht bereit sind, sich impfen zu lassen, verringert sich im Verlauf des letzten halben Jahres, belegen Umfrageergebnisse des Levada-Zentrums (das in Russland als ein „ausländischer Agent“ eingestuft worden ist). Im Oktober ist der Anteil der Vakzinierungsgegner bis auf 45 Prozent zurückgegangen, während er sich im Februar und April über 60 Prozent bewegte.

Mehr als 50 Prozent der Befragten sind der Auffassung, dass die Hauptschwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Coronavirus noch bevorstehen würden. Ein Drittel der Befragten (33 Prozent) antwortete, dass sie sich bereits impfen ließen. Der Anteil jener, die bereit sind, sich gegen das Coronavirus vakzinieren zu lassen, ist von 15 Prozent im August dieses Jahres bis auf 19 Prozent im Oktober angestiegen.

Als die am wenigsten populäre Maßnahmen bezeichneten die Befragten einen Lockdown. Interessant ist, dass 61 Prozent der Bürger Russlands der Meinung sind, dass das Coronavirus eine biologische Waffe sei. Fast die Hälfte der Bürger Russlands (48 Prozent) hat Angst, an ihm zu erkranken. Etwa genauso viele (50 Prozent) fürchten sich nicht. Dabei ist im Vergleich zum August der Anteil jener, die eine Infektion befürchten, von 43 bis auf 48 Prozent angestiegen.

Am Donnerstag ist in Russland ein erneuter Antirekord fixiert worden – 1195 Todesfälle (am Freitag drei Fälle weniger) aufgrund des Coronavirus an einem Tag. Dabei betrug die Zahl der bestätigten Fälle einer Coronavirus-Infektion am Freitag 40.735. Einige Schwankungen in Richtung einer regionalen Verringerung der Ansteckungsfälle kann man mit dem Beginn des Lockdowns in Verbindung bringen, den man, wie in dieser Woche einige Regionen erklärten, verlängern kann.

Der Gouverneur des Verwaltungsgebietes Andrej Nikitin erklärte, dass die arbeitsfreien Tage in der Region bis zum 14. November verlängert werden würden. Das Oberhaupt der Komi-Republik Wladimir Uiba warnte, dass am 6. November die Frage nach einer möglichen Verlängerung der arbeitsfreien Tage erörtert werde. Am Montag betonte die Chefin der russischen Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadzor Anna Popowa, dass, um die Situation mit dem Coronavirus grundsätzlich zu ändern, möglicherweise mehr als eine arbeitsfreie Woche erforderlich sei. Sie nannte die Komi-Republik in der Liste der Regionen, wo das Tempo der Zunahme der Erkrankungsrate das russische Durchschnittsniveau um mehr als 15 Prozent übersteigt. Und Gesundheitsminister Michail Muraschko zählte die Regionen auf, die das Vakzinierungstempo beschleunigen müssten (mit Stand vom 1. November waren dort 48 Prozent der erwachsenen Bevölkerung gegen COVID-19 geimpft worden).

Der Stand der kollektiven Immunität gegen COVID-19 müsse mindestens 80 Prozent betragen. Bisher ist sie nicht erreicht worden, obgleich das Vakzinierungstempo zunehme, erklärte Popowa. Es sei daran erinnert, dass früher die Vertreter des Gesundheitswesens und dann auch die politischen Offiziellen versichert hatten, dass eine kollektive Immunität von 60 Prozent die Pandemie besiegen könne (unter anderem wurde dies beim Internationalen Petersburger Wirtschaftsforum im Juni erklärt – Anmerkung der Redaktion). Ende Oktober teilte Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa mit, dass die besten Werte für eine kollektive Immunität gegenüber COVID-19 im Moskauer Gebiet (66,1 Prozent), in der Teilrepublik Tuwa (65,1 Prozent), aber auch in Moskau, Sankt Petersburg und Sewastopol auf der Krim, wo dieser Wert über 60 Prozent lag, erreicht worden seien.

In einigen Regionen der Russischen Föderation erreichte der Erfassungsgrad durch die Vakzinierung bereits 70 Prozent. Es gibt aber auch solche, wo der Parameter keine 30 Prozent übersteigt, teilte am Dienstag der ehrenamtliche Chefspezialist für Infektionskrankheiten des russischen Gesundheitsministeriums Wladimir Tschulanow mit. Mit Stand vom 5. November haben in Russland knapp über 60 Millionen Menschen die erste Komponente eines Corona-Impfstoffes erhalten. Die komplette Vakzinierung haben ca. 57,26 Millionen durchlaufen. Die kollektive Immunität habe laut Angaben des operativen Stabes 48 Prozent erreicht, wird auf der Regierungsinternetseite Stopcoronavirus.rf ausgewiesen.

Die Vakzinierung wird mitunter nicht nur den Unwillen der Bevölkerung gehemmt, sondern auch durch andere Ursachen. Irgendwer hält es als beste Variante für sich, neue Medikamente abzuwarten, die Präsident Wladimir Putin bei einer Tagung mit der Führung des russischen Verteidigungsministeriums am Montag in Sotschi ankündigte. Obgleich das Staatsoberhaupt auch betonte, dass es besser sei, sich impfen zu lassen. Manchmal besteht der Grund in einem Mangel an Präparaten.

Obwohl Minister Muraschko am Montag erklärte, dass die Frage hinsichtlich des Mangels an dem Vakzin „Sputnik Light“ in den Regionen gelöst sei, meldeten bereits am nächsten Tag die Offiziellen mehrerer Regionen ein Anhalten des Problems. „Sputnik Light“, das für die Revakzinierung und Vakzinierung jener, die bereits am Coronavirus erkrankten, empfohlen wird, ist im Swerdlowsker Verwaltungsgebiet ausgegangen. Es gebe aber ausreichend „Sputnik V“. Das Vakzin sei in allen medizinischen Einrichtungen der Region vorhanden, teilte Vizegouverneur Pawel Krekow mit. Baschkirien erwartet die Lieferung von über 20.000 „Sputnik Light“-Dosen nach dem 7. November. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei das Präparat in der Region nicht vorhanden, teilte der Gesundheitsminister der Teilrepublik Maxim Sabelin mit.

Gegen die Coronavirus-Infektion lassen sich in Russland derzeit täglich über 650.000 Menschen impfen, ist sich Muraschko sicher. Nach seinen Worten sei das System des Gesundheitswesens derzeit bereit, bis zu eine Million Menschen am Tag zu vakzinieren. Der Minister bezeichnete in neun Subjekten Russlands das Vakzinierungstempo als ein unzureichendes. Zuvor hatte Wladimir Putin die Leitung des Ministeriums beauftragt, sich in die Regionen zu begeben, wo sich die kritischste Situation aufgrund des Coronavirus ergeben hat, um den Medizinern vor Ort Hilfe zu leisten. Während einer Sitzung des Koordinierungsrates für die Bekämpfung der Coronavirus-Infektion zählte Premierminister Michail Mischustin diese Subjekte auf: die Verwaltungsgebiete Wladimir, Belgorod, Iwanowo, Uljanowsk, Nishnij Nowgorod und Orjol, aber auch die Krim, Udmurtien und Tatarstan.

„Die Hauptanstrengungen der Epidemiebekämpfung haben sich in die Regionen verlagert“, sagte der „NG“ Larissa Popowitsch, Direktorin des Instituts für die Wirtschaft des Gesundheitswesens der Moskauer Hochschule für Wirtschaftswissenschaften. „In den Hauptstädten unterscheidet sich die Situation mit der gegenwärtigen Epidemiewelle unerheblich von der ersten Welle. In den Regionen aber haben seit dem Sommer die Infektionen praktisch um das 5fache zugenommen. Dabei wurde offensichtlich, dass dies in Vielem mit den Misserfolgen im System der Leitung zusammenhängt. Leider haben es in den fast zwei Jahren Epidemie einige Beamte des Gesundheitswesens nicht gelernt (oder man hat es ihnen nicht beigebracht), richtig und hart auf eine Verschlechterung der Situation zu reagieren“.

„Die internationale Statistik arbeitet mit dem Parameter prozentualer Anteil der Vakzinierten an der gesamten Bevölkerungszahl, der russische operative Stab aber mit dem Anteil an der erwachsenen Bevölkerung. Daher sind laut den einen Angaben in der Russischen Föderation 33 Prozent vakziniert worden, laut anderen – 46 Prozent. Wenn man bis zum Frühjahr diesen Parameter wieder hervorholt, werden die Zertifikate bereits ihren Wert zu verlieren beginnen, die vor einem Jahr ausgestellt wurden. Und die Statistik wird erneut ins Rudern geraten. Überdies gibt es bisher keine offenen Angaben – beispielsweise wie groß der Anteil der Erkrankten unter den vakzinierten Menschen ist. Und folglich können wir nicht den realen Stand des Schutzes der Bevölkerung vor den Modifikationen des Virus beurteilen“, sagte der „NG“ der Gründer des Zentrums für soziales Projektieren „Plattform“, Alexej Firsow. „Die Wirtschaft weiß nicht, wie sich die Epidemie weiter entwickeln wird“.

Nach seiner Meinung verstärke die Verweigerung einer Vakzinierung wesentlich den Faktor der Unbestimmtheit, selbst wenn man die Version akzeptiert, dass sie gegen die neuen Stämme hocheffektiv sei. „Die Wirtschaft weiß nicht, wie sich die Epidemie weiter entwickeln wird, was für einschränkende Maßnahmen die Regierung ergreifen wird. Und folglich verengt sich der Planungshorizont aufs äußerste – besonders für das Kleinunternehmertum. Ein erheblicher Teil der Unternehmen hat sich an die „neue Normalität“ angepasst. Es gibt keine panischen Stimmungen. Wissenschaftler schließen jedoch die Situation nicht aus, bei der selbst ein hoher Vakzinierungsgrad mit den bisherigen Präparaten der Situation keine Stabilität und Voraussagbarkeit zurückbringt“, sagt der Experte.

„Vom Klassischen her müssen 70 Prozent der Bevölkerung vakziniert sein, um die Epidemie zu stoppen. Jetzt sprechen wir aber von einem sich schnell verändernden Virus, des Auftretens neuer Stämme von ihm. Daher kann die Vakzinierung nicht als ein 100-%-iges Schutzschild gegen ihre Verbreitung wirken“, sagte der „NG“ Olga Schuppo, wissenschaftliche Leiterin des Netzes von Kliniken für Immunrehabilitierung und präventive Medizin „Grand Clinic“. „In einer Reihe von Ländern sind bis zu 90 Prozent der Bevölkerung vakziniert worden, beispielsweise in den Arabischen Emiraten und in Israel. Dennoch sehen wir, dass die Erkrankungsrate erneut zunimmt und die Pandemie dort nicht aufhört“.

Nach Meinung der Expertin müsse die Menschheit ein Medikament gegen dieses neue Virus finden, seine Ätiologie untersuchen, worauf es einwirkt, wie schnell es mutiert. „Nur, wenn man Antworten auf diese Fragen findet, kann man einen pharmakologischen Schlüssel zur Lösung des Problems auswählen und die Verbreitung des neuen Virus stoppen. Man muss die Anstrengungen aller Länder nicht nur auf die Entwicklung neuer Vakzine, die die Besonderheiten des neuen Stamms berücksichtigen, konzentrieren, sondern auch auf die Schaffung eines etiotropen pharmakologischen Präparates (das die Ursachen für das Auftreten einer Erkrankung beseitigt – „NG“)“, sagt Olga Schuppo.