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In der Bundesrepublik schließt man einen punktuellen Dialog mit Russland nicht aus


  1. Der letzte Februartag wurde von der relativ unerwarteten Entscheidung des konservativen Blocks der CDU/CSU und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, unverzüglich Koalitionsverhandlungen aufzunehmen, geprägt. Ursprünglich war angenommen worden, dies nach den Faschingsveranstaltungen und dem traditionellen „Aschermittwoch“, in dessen Rahmen die Parteien einander aktiv kritisieren, zu tun. Jedoch haben die zunehmende globale Instabilität, die Vertiefung der Krise in den transatlantischen Beziehungen und die zunehmenden Widersprüche innerhalb der Europäischen Union die Führung der Konservativen und der Sozialdemokraten veranlasst, den Verhandlungsprozess zu beschleunigen. Die Parteien formierten schnell Delegationen, denen deren führenden Politiker angehören. Die Hauptaufgabe der Verhandlungsführer ist, gemeinsame Herangehensweisen an die strittigen Schlüsselfragen zu formulieren, anders gesagt: Kompromisslösungen zu finden und sie auf einen gemeinsamen Nenner für die strategischen Ziele für den Zeitraum bis zum Jahr 2029 zu bringen. Unter ihnen wird einer der führenden Plätze traditionell der Außenpolitik eingeräumt. In den Wahlkampfprogrammen von CDU/CSU und der SPD ist dem künftigen außenpolitischen Kurs des deutschen Staates recht viel Raum eingeräumt worden. Ungeachtet der ideologischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteien vereinigt sie die Notwendigkeit der Überwindung der Wirtschaftskrise, der Verstärkung des Einflusses von Deutschland in der EU und der Gestaltung einer neuen Politik in Bezug auf die internationalen Hauptakteure inklusive Russlands. Ausgehend von den Parteigrundsätzen und den im Verlauf des Wahlkampfes formulierten Positionen kann man die politische Logik der Vereinbarungen auf folgende Art und Weise beurteilen. Die Koalitionspartner werden im Unterschied zur vergangenen „Ampel“-Regierung einen großen Akzent auf einen ausgewogenen Pragmatismus setzen. Und nicht auf die wertebestimmten und ideologischen Herangehensweisen, die Annalena Baerbock und das von ihr geleitete Auswärtige Amt (Kampf um die Menschenrechte, Feminisierung der Außenpolitik, eine aktive Unterstützung für die Ukraine sowie ein harter Kurs gegen Russland und China) verkörperten. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit werden die wirtschaftlichen Interessen zurückkehren. Die christlichen Parteien werden weiter eine etwas striktere atlantische Haltung einnehmen, die auf stabile Beziehungen mit den USA und der NATO orientiert ist, die Notwendigkeit einer Berücksichtigung der Interessen des deutschen Business unterstreichen und für Härte gegenüber Russland plädieren, die einen punktuellen Dialog nicht ausschließt. Die Sozialdemokraten werden nach der Krise der „Ampel“-Regierung beginnen, zu einem pragmatischeren Kurs zurückzukehren, wobei sie das Festhalten an eine europäische strategische Autonomie, den atlantischen Charakter und die sich gut bewährten diplomatischen Mechanismen für eine Regelung von Konflikten bewahren werden. Eine unbedingte außenpolitische Priorität der künftigen Koalition ist nach wie vor der europäische Vektor, in dessen Hinsicht mehrere Schlüsselrichtungen hervorzuheben sind. Zentraler Partner hinsichtlich der EU bleibt Frankreich – neben Deutschland eine führende politische und Wirtschaftskraft der Union. Unter den nicht einfachen Aufgaben ist die Verstärkung des in den letzten Jahren schwach gewordenen Tandems. Besondere Aufmerksamkeit wird der Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks und der Wiederherstellung der Beziehungen mit Polen als ein strategischer Verbündeter Berlins in Osteuropa und wichtiger Faktor bei der Gestaltung der gesamteuropäischen Sicherheitspolitik geschenkt werden. Einer der größten Wirtschaftspartner der Bundesrepublik und ein Schlüsselland bei der Diskussion um die Reformierung der EU ist Italien. Mit dessen Führung muss eine Lösung für die Frage nach einer Umverteilung der Finanzströme in der EU gefunden werden. Für Berlin ist es wichtig, die konstruktiven Kontakte mit Spanien – einem wichtigen Partner, der seine Rolle bei der Energiesicherheit Europas – darunter im Kontext der Entwicklung der „grünen“ Wirtschaft und Wasserstofflieferungen – verstärkt, zu bewahren. Die Bedeutung der Ostsee-Skandinavien-Makroregion nimmt zu. Sie wird zu einem der Schlüsselpartner in Fragen der Energiewirtschaft, Logistik und Sicherheit. In Europa wird außerhalb der EU Großbritannien zu einem bedeutsameren Partner auf dem Gebiet des Handels, der Sicherheit und Verteidigung. Aber auch die Balkanländer, wo sich die Bundesrepublik aktiv am Prozess deren Euro-Integration und Stabilisierung der Wirtschaftslage beteiligt. Einen wichtigen Platz in der Migrations- und Energiepolitik bewahrt die Türkei. Der zweite strategische Vektor der deutschen Außenpolitik sind unbestritten die transatlantischen Beziehungen und die NATO. Die USA bleiben ungeachtet der sich mit dem Machtantritt von Donald Trump ergebenen Widersprüche um die Wege für eine Lösung des Ukraine-Konflikts und der bilateralen Handelsbeziehungen ein wichtiger Verbündeter. Es ist offensichtlich, dass in diesem Kontext die Koalitionspartner eine Reihe von Schritten zur Gewährleistung einer größeren Autonomie von Brüssel und Berlin beim Treffen von Entscheidungen, besonders in Fragen der europäischen Sicherheit, abstimmen und vereinbaren werden. Gerade dieser Vektor vermag die Durchführung der Gespräche zwischen CDU/CSU und SPD wesentlich zu beschleunigen. Und noch kurz über andere außenpolitische Prioritäten der möglichen künftigen Koalition: Erstens sind dies China und Indien, die mit einander konkurrierenden entscheidenden Akteure im Rahmen des globalen Südens. Zweitens sind da der Mittlere und der Nahe Osten – eine Region, die für Deutschland im Bereich der Energiewirtschaft, der Sicherheit und Migrationspolitik strategische Bedeutung besitzt. Unter den Schlüsselsubjekten sind Saudi-Arabien, die VAE, der Iran und Israel. Drittens – Afrika. Berlin schenkt der Zusammenarbeit mit dessen führenden Staaten (RSA, Nigeria, Ägypten und die Länder der Sahel-Zone) immer mehr Aufmerksamkeit, besonders im Bereich von Infrastruktur-Projekten, der Energiewirtschaft und der Bekämpfung der illegalen Migration. Viertens – Lateinamerika, für das sich in den letzten Jahren das Interesse etwas verringerte. Dennoch wird die Bundesrepublik weiter die Wirtschaftskontakte mit Brasilien, Argentinien, Mexico und Chile verstärken, besonders im Kontext der Lieferungen strategischer Rohstoffe. Einen besonderen Platz auf der außenpolitischen Agenda der künftigen Bundesregierung wird traditionsgemäß Russland einnehmen. Dabei kann man sagen, dass das neue Ministerkabinett (wobei unwichtig ist, in welcher Zusammensetzung) mit der objektiven Notwendigkeit einer Revision der Politik in Bezug auf einen der führenden Akteure auf dem eurasischen Kontinent konfrontiert werden wird. In den letzten Jahren hat Berlin hinsichtlich der Russischen Föderation eine äußerst harte Position eingenommen, indem es die Sanktion unterstützt und bestrebt ist, alle Bereiche der Zusammenarbeit einzuschränken. Die Verstärkung der globalen Krisen und die Veränderung der geopolitischen Realität zwingen es jedoch, Korrekturen an solch einer Strategie vorzunehmen. Nach unserer Auffassung werden die heutigen Koalitionsunterhändler anfangs die „unfreundliche“ Herangehensweise gegenüber Moskau bewahren. Sie umfasst eine weitere Unterstützung der antirussischen primären und sekundären Sanktionen und eine Verstärkung der Kontrolle ihrer Umsetzung. Berlin wird nach wie vor die Position eines Verzichts auf jegliche Verhandlungen bis zur Erfüllung der Forderungen seitens der EU und der NATO einnehmen, wobei es die Unterstützung der osteuropäischen Partner inklusive Polen und der Länder des Baltikums akzentuiert. Zur gleichen Zeit gibt es Voraussetzungen für ein Integrieren von Elementen eines Pragmatismus in solch eine Vorgehensweise, beispielsweise das Bekunden der Bereitschaft zu einer punktuellen Zusammenarbeit in einzelnen Bereichen vor dem Hintergrund der Bewahrung des Sanktionsdrucks. Es können durchaus politische Signale an Brüssel über die Möglichkeit, die Erörterung von Bedingungen für eine Wiederaufnahme des Energiedialogs mit der Russischen Föderation vor dem Hintergrund der Krise in der EU zu beginnen, erfolgen. Berlin wird sicherlich Versuche unternehmen, sich aktiver an eine diplomatische Regelung von Krisen, in erster Linie der Ukraine-Krise, anzuschließen. Im Falle bestimmter Erfolge in dieser Richtung könnten die Koalitionspartner die Frage nach einer schrittweisen Lockerung der Sanktionen im Gegenzug zu Zugeständnissen seitens Moskaus aufwerfen. Das deutsche Business ist an einer Wiederherstellung der früheren Wirtschaftskontakte interessiert, unter anderem in den Bereichen Technologien und Infrastruktur (hervorgehoben sei, dass dessen Klein- und mittelständischen Unternehmen die Präsenz auf den russischen Märkten bewahrten, wobei sie ein minimales Niveau eines wirtschaftlichen Zusammenwirkens unter den Bedingungen der militärischen Sonderoperation sicherten). Die künftige Bundesregierung wird mittelfristig und in der langfristigen Perspektive gleichfalls an einer Verstärkung der Rolle Deutschlands bei den Verhandlungen über Sicherheit in Europa interessiert sein. Wir werden eine Verstärkung der Rolle des künftigen Kanzlers bei der Bestimmung des außenpolitischen Vektors von Deutschland und dessen konstruktiveres Zusammenwirken mit dem Chef des Auswärtigen Amtes zu sehen bekommen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird ein Vertreter der SPD zu diesem werden. Die gegenwärtigen Spekulationen räumen ein, dass dies der im Volk populäre Boris Pistorius sein könne. Unsere Ansicht nach wird er sich aber bemühen, seinen Posten als Bundesverteidigungsminister zu bewahren. Er hat die im Jahr 2023 begonnenen Reformen der Bundeswehr fortzusetzen, aber auch den Kurs auf eine „Militarisierung der Wirtschaft“. Somit wird die Außenpolitik der künftigen Koalition der BRD von einer Vielzahl von Faktoren abhängen, inklusive der innenpolitischen Dynamik und der Wirtschaftslage im Land sowie des Drucks seitens der Führung der EU und der NATO. Ungeachtet der gegenwärtigen Rhetorik der Härte wird Deutschland unter Berücksichtigung der sich vollziehenden geopolitischen Veränderungen gezwungen sein, einen pragmatischeren Kurs in Bezug auf Russland zu wählen, besonders in den Fragen der Energiewirtschaft und Wirtschaftsdiplomatie. Jedoch werden in der nächsten Perspektive keine erheblichen Veränderungen zu erwarten sein. Die frühere „Ostpolitik“ wird es nicht mehr geben können. Aber es besteht ein Begreifen der Notwendigkeit, für das Erreichen der eigenen strategischen Ziele (in erster Linie hinsichtlich des Ukraine-Tracks) „gehaltvolle“ Beziehungen mit dem „östlichen Gegner“, der früher die UdSSR war und jetzt Russland, sowohl beim wahrscheinlichen Kanzler, dem CDU-Chef Friedrich Merz als auch bei den Sozialdemokraten. Berlin wird weiter zwischen europäischer Solidarität und den nationalen Interessen balancieren, was seine Position wenig voraussagbar, aber in der mittelfristigen Perspektive potenziell flexibler machen wird.