Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

In der Ukraine bereitet man sich auf einen „Black Wednesday“ vor


Mit der Erklärung über einen sich für diese Woche in Vorbereitung befindenden Staatsstreich hat Wladimir Selenskij den Startschuss für eine politische Krise gegeben. Solch eine Meinung vertreten viele Politiker und Experten. Die Situation wird am Mittwoch klar werden, wenn der ukrainische Präsident mit seiner Jahresbotschaft in der Werchowna Rada (dem Landesparlament – Anmerkung der Redaktion) auftreten wird. Petro Poroschenko, der Selenskijs Hauptkonkurrent ist, teilte mit, dass er zu einem USA-Besuch aufbrechen werde.

Poroschenko erinnerte daran, dass er jüngst mit europäischen Politikern gesprochen hätte und bei einem Forum zu Fragen der internationalen Sicherheit in Kanada gewesen sei. „Jetzt plane ich, die USA mit einem Ziel zu besuchen – die Wiederherstellung einer proukrainischen Koalition…“. Die Mitstreiter des fünften Präsidenten der Ukraine sind der Auffassung, dass das Team Selenskijs die Unterstützung der Verbündeten eingebüßt habe und immer lauter die Notwendigkeit eines Machtwechsels signalisieren würden. Selenskij hatte bei einer mehrstündigen Pressekonferenz am Freitag die sensationelle Erklärung abgegeben, dass für den 1., 2. Dezember in der Ukraine ein Staatsstreich vorbereitet werde. Er verwies dabei auf gewisse Geheimdienstangaben und Aufzeichnungen von Telefongesprächen. Wer gerade solche Pläne erörtert hatte, blieb ausgeklammert. Der Präsident der Ukraine sagte aber, dass diese Personen versuchen würden, den Geschäftsmann Rinat Achmetow für eine Teilnahme an dem Putsch zu gewinnen, von dem man angeblich eine Finanzierung im Umfang von einer Milliarde Dollar erwarte. „Man zieht ihn in einen Krieg gegen den Staat Ukraine hinein“, sagte Selenskij, wobei er Achmetow einlud, sich eben jene Aufnahmen anzuhören, um dies es gehe.

Der Geschäftsmann reagierte sofort auf die Erklärung des Staatsoberhauptes: „Mich empört die Verbreitung solch einer Lüge, unabhängig davon, von welchen Motiven sich der Präsident leiten lässt. Meine Position war und wird eine eindeutige sein: eine unabhängige, demokratische und ganzheitliche Ukraine – mit der Krim und meinem heimatlichen Donbass“. Der politische Experte Andrej Golowatschjow schrieb in einem Blog, dass im Land eine großangelegte politische Konfrontation begonnen habe. In einem Lager seien Präsident Selenskij, der Leiter des Präsidenten-Office Andrej Jermak und der Geschäftsmann Igor Kolomoiskij. Im anderen – die übrigen Geschäftsmänner, die man üblicherweise als Oligarchen bezeichnet. „Nach der Pressekonferenz Selenskijs ist die Krise in die offene Form eines unversöhnlichen Krieges übergegangen“, meint der Experte. Nach seiner Meinung gebe es Grundlagen für eine politische Zuspitzung im Land. „…der drastische Rückgang der Unterstützung für Selenskij in der Gesellschaft aufgrund seiner ineffektiven Führung, Vetternwirtschaft, der Korruption in seiner Umgebung, des erfolglosen Kampfes gegen die Pandemie und Energiekrise…“.

Für eine Reihe von Poroschenko-Anhängern hatte die Veröffentlichung der Ergebnisse einer Untersuchung, die von der internationalen Journalistengruppe „Bellingcat“ durchgeführt worden war, das Fass zum Überlaufen gebracht. Sie galt den Gründen für das Scheitern der Sonderoperation zur Festnahme von „Wagner“-Männern im vergangenen Jahr („Wagner“ ist lt. Medienberichten eine russische private Söldnerfirma, die mit Duldung Moskaus aktiv im Ausland agiert – Anmerkung der Redaktion). Am 21. November war bei einer Protestaktion im Herzen Kiews ein Ultimatum gegenüber Wladimir Selenskij gestellt worden. Mitglieder der „Widerstandsbewegung gegen eine Kapitulation“ und der Partei „Demokratische Streitaxt“ forderten vom Staatsoberhaupt, innerhalb von zehn Tagen Andrej Jermak, den sie eines Verrats verdächtigen, aus dem Amt des Leiters des Präsidenten-Office zu entlassen. Andernfalls drohen die Aktivisten unbefristete Protestaktionen an. Die gestellte Frist endet gerade am 1. Dezember. Daher sind augenscheinlich auch die Vermutungen hinsichtlich eines geplanten Staatsstreichs aufgekommen.

Bemerkenswert ist, dass noch in der vergangenen Woche Selenskij für den 1. Dezember seinen Auftritt in der Werchowna Rada mit der Jahresbotschaft über die Innen- und Außenpolitik anberaumte. Zur gleichen Zeit erklärte der Führer der Radikalen Partei und Parlamentsabgeordnete vergangener Legislaturperioden Oleg Ljaschko in einem Interview des Fernsehkanals „Nasch“ („Unserer“), dass sich die Sache nicht nur auf den Auftritt des Präsidenten beschränken werde. „Ich denke, dass sie (das Selenskij-Team – „NG“) derzeit die Variante der Verhängung eines Kriegszustands im Land ab dem 1. Dezember erörtern. Denn die Menschen schicken sich an, gegen den Landesverrat zu protestieren, gegen die Wirtschafts- und internationale Politik der Herrschenden…“, sagte Ljaschko. Selenskij widersprach im Verlauf der Freitag-Pressekonferenz den Vermutungen des Anführers der Radikalen Partei. „Wozu macht er (Ljaschko – „NG“) dies? Was für einen Kriegszustand? Begreift er, was mit den Märkten passiert? Das Finanzministerium geht auf die internationalen Märkte, um Mittel zu gewinnen. Es gibt keine Gelder. Die Investoren haben Angst. Warum? Weil es „einen Kriegszustand geben wird“. Der Wert der ukrainischen Aktion fällt, weil die Medien melden: „Es gibt eine Energiekrise, es wird einen Maidan geben, es wird einen Kriegszustand geben“…“.

Der Investitionsbankier Sergej Fursa ist der Auffassung, dass Selenskij selbst der Investitionsattraktivität der Ukraine mit seiner Erklärung über einen sich in Vorbereitung befindenden Staatsstreich einen Schlag versetzt habe. In einer vom Internetportal „Neue Zeit“ veröffentlichten Kolumne schrieb er, dass dieses Statement die Investoren verschreckt habe und die Notierungen der Euro-Obligationen der Unternehmen, die zur Unternehmensgruppe SKM gehören und deren Eigner Achmetow ist, einbrechen ließ. Die Folgen könnten aber größere sein. „Die heutige Wirtschaft wird auf Vertrauen entwickelt. Wenn man Ihnen vertraut, kommen Investitionen zu Ihnen. Wenn man nicht vertraut, macht das Geld einen Bogen um Sie… Ob zu dieser Definition die Situation gehört, in der der Präsident öffentlich den Namen eines der größten Geschäftsmänner des Landes mit einem Putsch in Verbindung bringt? Dies sind sehr ernsthafte Vorwürfe. Was sollen die Investoren denken, die Schuldverschreibungen der Achmetow-Unternehmen besaßen und riesige Geldsummen innerhalb eines Tages verloren haben? Und sie haben Verluste gemacht. Vor dem Hintergrund der schwächelnden Märkte am „Black Friday“ waren die Verkäufe der Schuldverschreibungen Achmetows exorbitante. Wollen sie da noch in die Ukraine investieren, wenn da solche Erklärungen mit solchen Konsequenzen möglich sind? Hat dies etwa etwas mit Voraussagbarkeit zu tun? Hat dies etwa mit Spielregeln zu tun?“

Jetzt warten alle auf den 1. Dezember, wenn Selenskij im Parlament auftreten wird und auf dem Platz an der Werchowna Rada Vertreter der radikalen Kräfte zusammenkommen werden. Experten sprechen bereits von einem „Black Wednesday“ („Schwarzen Mittwoch“) der ukrainischen Politik. Der politische Kommentator Jurij Wischnewskij betonte in einer Kolumne für das Nachrichtenportal „DS News“, dass die Entwicklung der Situation in Vielem von den Handlungen der Offiziellen abhängen würde. „Wenn man im Präsidenten-Office die Ernsthaftigkeit der Situation begreift, könnten in der Präsidenten-Botschaft Sätze darüber vorkommen, dass wir jetzt eine Einheit demonstrieren müssen, damit Russland nicht die Einsätze bei den Verhandlungen erhöhen kann und damit wir auf maximale Weise auf eine mögliche Attacke vorbereitet sind. Daran ist aber schwerlich zu glauben. Und es ist gänzlich unwahrscheinlich, dass Selenskij der patriotischen Opposition entgegen gehen wird. Eine Absetzung Jermaks, ein Runder Tisch und ein Pakt über eine nationale Einheit sowie eine breite patriotische Regierungskoalition – all dies ist unter den gegenwärtigen Bedingungen Phantastik. Anstelle einer Glättung der innenpolitischen Konflikte werden die Herrschenden den Grad der politischen Spannungen erhöhen. Und dies kann die Proteststimmungen radikalisieren“.