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In Kiew fürchtet man einen Deal des Westens mit dem Kreml


Die Poroschenko-Partei „Europäische Solidarität“ fordert vom Wladimir-Selenskij-Team, eine klare Position zur Krim und zum Donbass vor dem Zeitpunkt des Treffens von Joseph Biden und Wladimir Putin vorzustellen. In Kiew befürchtet man, dass sich die Präsidenten der Russischen Föderation und der Vereinigten Staaten hinsichtlich der ukrainischen Frage ohne Berücksichtigung der ukrainischen Position einigen. Experten sind der Auffassung, dass solche Vereinbarungen aufgrund der Stimmungen in der ukrainischen Gesellschaft nicht umgesetzt werden könnten.

Der politische Analytiker Alexander Kotschetkow schrieb in einer Kolumne für das Internetportal „Glavred“, dass das für Juli geplante Treffen von Joseph Biden und Wladimir Selenskij nach den Gipfeltreffen der NATO, der Staats- und Regierungschefs der USA und EU in diesen Tagen, aber auch nach dem Gespräch des amerikanischen und russischen Präsidenten erfolge: „Die Ukraine stellt man einfach vor die Tatsache, worüber man sich geeinigt hat … und veranlasst, die Vereinbarungen der Starken dieser Welt zu erfüllen“.

Die geforderten Entscheidungen könnten nach Meinung des Experten den Minsker Prozess betreffen. „Was wird zuerst sein: Entweder gibt man der Ukraine die Kontrolle über die Grenze zurück, und danach wird sie den Sonderstatus des Donbass verankern. Oder es wird so laufen, wie es der Kreml möchte. Das heißt: zuerst der Sonderstatus, Wahlen in einzelnen Kreisen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk, und dann wird Russland bereits entscheiden, ob es der Ukraine die Kontrolle über die Grenze zurückgibt“. Der zweite Block von Themen, den Biden mit Selenskij erörtern könne, laufe nach Meinung von Kotschetkow auf eine „harte Position der USA bezüglich sensibler Fragen hinaus, zum Beispiel hinsichtlich der Zusammenarbeit mit dem IWF… Das heißt: Man wird auf die Ukraine aufgrund deren Schwäche, in erster Linie der wirtschaftlichen, Druck ausüben“.

Wie der Experte betonte, bleibe dem Team von Selenskij eine Möglichkeit, die Beschlüsse nicht zu erfüllen, die den Interessen der Ukraine zuwiderlaufen. „Der Westen würde beispielsweise die Position der Mehrheit der Bürger der Ukraine berücksichtigen, auf die Selenskij verweisen könnte … Außerdem, wenn wir es ablehnen werden, die Realisierung einer bestimmten Entscheidung vorzunehmen oder aufzuschieben, muss man etwas im Gegenzug anbieten. Die Ukraine muss sich bemühen, zumindest ein Junior, aber ein Partner zu sein und kein schweigender Vollstrecker“, betonte der Experte.

Darüber sprechen heutzutage auch die politischen Gegner Selenskij. Der Diplomat Konstantin Jelisejew aus dem Team von Petro Poroschenko betonte, dass es für Kiew äußerst wichtig sei, dass „die Ukraine in der ersten Riege Bidens ist (im Verlauf der Begegnung mit Putin – „NG“). Mag es besser sein, wenn die Seiten hinsichtlich der Verhandlungsergebnisse prinzipielle Meinungsverschiedenheiten signalisieren. Man darf es aber nicht zulassen, dass sich das Thema der Ukraine im Block „Verschiedenes“ wiederfindet, dass das Thema der Ukraine vor dem Hintergrund der anderen Herausforderungen abgewertet wird“. Jelisejew ist der Auffassung, dass man die Interessen auf politischem Wege verteidigen könne. Nach seinen Worten sei eine „Mobilisierung der Kontakte des Präsidenten-Office und des Außenministeriums der Ukraine mit den G-7-Ländern, der EU und der NATO für die Gestaltung eines für die Ukraine positiven Inhalts der Diskussion der westlichen Staats- und Regierungschefs mit dem Präsidenten der USA“ erforderlich. Der Diplomat erläuterte: „All unsere Freunde müssen Biden auf die Vorrangigkeit der Unterstützung für die Ukraine einstellen. Der amerikanische Staatschef müsse als ein Führer des Westens nach Genf kommen, der die kollektive Position der internationalen demokratischen Gemeinschaft vertrete. Es müsse gewährleistet werden, dass Biden in Genf ganz bestimmt über die Ukraine und für die Ukraine spricht, dies von einer Position der Stärke aus und für eine Verteidigung der euro-atlantischen Perspektiven, der Einheit und Solidarität mit Kiew tut“.

Dafür müsse Kiew aber seine klare Haltung haben, betonen die Poroschenko-Mitstreiter. Sie kritisieren das Selenskij-Team wegen der widersprüchlichen Erklärungen. Die Rada-Abgeordnete von „Europäische Solidarität“ Irina Gerastschenko verwies darauf, dass ein Beamter dieser Tage, der mit dem Präsidenten-Office zusammenarbeitet, eine Wiederaufnahme der Wasserlieferungen für die Krim eingeräumt hätte, „wenn Russland aufhört, den Donbass zu beschießen oder seine Truppen abzieht“. Gerastschenko erklärte: „Wir sind kategorisch gegen eine derartige Position… Man darf die Krim nicht gegen den Donbass „eintauschen“. Dies ist ein einheitliches Ganzes. Es müssen eine Befreiung der Krim und des Donbass sowie eine Demilitarisierung der Krim und des Donbass erfolgen“.

Im Poroschenko-Team ist man der Auffassung, dass im Office von Präsident Selenskij Chaos und Inkompetenz herrschen würden. Und deshalb würde es den westlichen Partnern der Ukraine nicht immer gelingen, die offizielle Position Kiews zu verstehen. Ausgehend von solch einer Bewertung der Situation hat der Führer von „Europäische Solidarität“ Petro Poroschenko jüngst Ratschläge für den amtierenden Präsidenten verkündet, die in Form von fünf Punkten-Forderungen und fünf sogenannten roten Linien festgehalten wurden. Der Anführer der Oppositionspartei ist der Auffassung, dass man sich mit dem Westen über eine „Verstärkung des Drucks auf den Aggressor“ und über einen Einsatz einer UN-Friedensmission im Donbass einigen müsse. Dabei müssten die bestehenden Formate der Verhandlungen zur Konfliktregelung bewahrt und der für Kiew prinzipielle Vektor der Außenpolitik in Richtung einer Integrierung in die EU und in die NATO beibehalten werden. Bekanntlich hatte Wladimir Putin im Vorfeld der Begegnung mit Biden direkt erklärt, dass eine Annäherung der Ukraine mit der NATO aus der Sicht Russlands eine rote Linie sei. Poroschenko fordert aber von Selenskij, der Position Moskaus keine Beachtung zu schenken: „Die Unzulässigkeit irgendeiner Revision des in der Verfassung verankerten europäischen und euro-atlantischen Kurses der Ukraine ist die erste rote Linie. Und es sei kategorisch inakzeptabel, sie zu verletzen, wie sehr sich auch (Selenskij – „NG“) mit Putin treffen möchte“.

Der amtierende Präsident der Ukraine hat nie von der Möglichkeit einer Revision dieses Kurses gesprochen. Mehr noch, Selenskij fordert in der letzten Zeit vom Westen Konkretheit in den Fragen nach den Perspektiven für eine Annäherung mit der NATO. Die Herangehensweise Selenskijs an die Reihenfolge der Handlungen zur Konfliktregelung im Donbass deckt sich insgesamt ebenfalls mit der Position des Poroschenko-Teams: zuerst die Umsetzung aller Punkte der Minsker Vereinbarungen, die der Gewährleistung der Sicherheit gewidmet sind, danach – die Realisierung der politischen Punkte.

Maria Solkina, Expertin der I.-Kutscheriw-Stiftung „Demokratische Initiativen“, betonte unter Berufung auf die Ergebnisse einer im Mai durchgeführten Umfrage, dass die Anhänger Selenskijs und der Partei „Diener des Volkes“ bezüglich der Donbass- und der Krim-Frage genau solche Ansichten vertreten würden wie die Anhänger von Poroschenko und der Partei „Europäische Solidarität“. „Die Wähler dieser politischen Kräfte vertreten die gemeinsame Meinung, dass Russland vollkommen die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk kontrolliere, dass die russische Armee zusammen mit den dortigen Rebellen gegen die Streitkräfte der Ukraine kämpfe und dass die Waffen aus Russland in den okkupierten Donbass gelangen würden“. Die Expertin denkt, dass solch ein Querschnitt der öffentlichen Meinung für die diplomatischen Donbass-Verhandlungen wichtig sei. „Die Einheit der Positionen jener, die Anhänger politischer Widersacher sind, ist eine Absicherung vor jeglichen Vereinbarungen über eine Aufgabe der Interessen der Ukraine. Es ist praktisch unmöglich, der ukrainischen Gesellschaft jeglichen Deal eines angenommenen Westens mit dem Kreml, der den Status Russlands als einen Aggressor in Zweifel ziehen würde, aufzudrängen. Die Menschen werden dies einfach nicht annehmen“.