Die Partei von Petro Poroschenko „Europäische Solidarität“ hat den Beginn einer eigenen Erfassung von Reservisten für den Fall eines Krieges bekanntgegeben. In Kiew behandelt man ernsthaft das Szenario einer Offensive Russlands gegen die Ukraine. Die Initiative Poroschenkos hängt damit zusammen, dass nach Meinung der Opposition die Herrschenden „in Ratlosigkeit vor den realen und potenziellen Gefahren“ seien. Derweil hat die Werchowna Rada (das Landesparlament – Anmerkung der Redaktion) in der vergangenen Woche ein Gesetz über die Einberufung von Reservisten in einer Sonderperiode verabschiedet.
Als Initiator der Änderungen an den Einberufungsregeln war Präsident Wladimir Selenskij aufgetreten. Die Werchowna Rada stimmte für den vorgeschlagenen Gesetzesentwurf über eine Reformierung des Systems der Militärkommissariate. Auf deren Basis werden territoriale Zentren gebildet, was erlauben wird, die Erfassung der Rekruten, Wehrpflichtigen und Reservisten in Ordnung zu bringen.
Das Dokument sieht vor, dass im Falle von Gefahren bzw. Bedrohungen (eine Zuspitzung der Lage in der Konfliktzone im Donbass, eine Verletzung der Grenzen der Ukraine durch Truppen eines anderen Staates) Reservisten ohne die Ausrufung einer Mobilmachung einberufen werden können. Wie die Abgeordneten erläuterten, werde die Entscheidung über eine Einberufung zum Wehrdienst in einer Sonderperiode durch die Werchowna Rada getroffen. In erster Linie werden die Personen einberufen, die früher an der antiterroristischen Operation oder der Operation der Vereinigten Streitkräfte im Donbass teilgenommen hatte.
Am vergangenen Dienstag (30. März), als das Gesetz verabschiedet wurde, hatte man in der Werchowna Rada erklärt, dass „Russland Truppen an den Grenzen der Ukraine und auf dem Territorium der Krim konzentriert“. Über eine wahrscheinliche Bedrohung sprach man gleichfalls bei einer Beratung hinter verschlossenen Türen bei Präsident Selenskij. Danach wandte sich Kiew an die westlichen Partner. Der Chef des Präsidenten-Offices Andrej Jermak erörterte telefonisch mit dem Berater des US-Präsidenten für Fragen der nationalen Sicherheit Jacob Sullivan die Situation. Der stellvertretende Leiter des Präsidenten-Offices Roman Maschowez sprach mit dem NATO-Vertreter in der Ukraine Alexander Vinnikov. Es ging insbesondere um die Organisierung von Patrouillenflügen durch NATO-Kräfte im Luftraum der Ukraine. Außenminister Dmitry Kuleba telefonierte mit dem amtierenden OSZE-Vorsitzenden, mit Schwedens Außenministerin Ann Linde. Nach Aussagen Kulebas sprach man über die „Verstärkung der Truppen der Russischen Föderation an den Grenzen der Ukraine“ und darüber, dass „klare und starke diplomatische Signale“ erforderlich seien, „um Moskau vor weiteren destruktiven Schritten zu demotivieren“.
Als solch ein Signal wertet man in Kiew das am Freitag erfolgte erste Telefonat der Präsidenten Joseph Biden und Wladimir Selenskij nach den Wahlen in den USA. Danach erklärte das ukrainische Staatsoberhaupt, dass Kiew zu jeglicher Entwicklung der Ereignisse bereit sei, aber bestrebt sei, den Waffenstillstand zu bewahren: „Die Bewahrung des Regimes einer vollkommenen Feuereinstellung ist ein Unterpfand für die Fortsetzung der schweren, aber sehr notwendigen Verhandlungen im Minsker und im Normandie-Format. Erneut betone ich: Unsere Armee ist in der Lage, jedem beliebigen eine Abfuhr zu erteilen. Und dies verstärkt unsere Positionen für eine Regulierung auf diplomatischem Wege. Gerade auf diplomatischem, den die Ukraine für eine Reintegration der zeitweilig okkupierten Territorien und eine Rückkehr unserer Menschen gewählt hat“. Selenskij unterstrich, dass sich die Ukraine einer Unterstützung Europas und der Vereinigten Staaten versichert hätte. „Präsident Biden hat mir versichert, dass die Ukraine niemals allein mit einer russischen Aggression bleiben werde“.
Übrigens, Alexej Resnikow, der ukrainische Vizepremier und Minister für Fragen der zeitweilig okkupierten Territorien sowie stellvertretende Leiter der ukrainischen Delegation bei den Minsker Verhandlungen, räumte am Freitag in der TV-Sendung „Redefreiheit von Sawik Schuster“ eine Beteiligung der USA an den Verhandlungen zur Konfliktbeilegung im Donbass ein. „Die Teilnahme der USA auf verschiedenen Ebenen absolut möglich und akzeptabel“. Er erläuterte, dass die USA ein Mitglied und Geber der OSZE – der heute einzigen internationalen Organisation sei, die bevollmächtigt sei, ein Monitoring der Situation im Donbass vorzunehmen. Die Botschaft der Vereinigten Staaten in der Ukraine rief alle Seiten auf, „einen ungehinderten Zugang für die OSZE-Sonderbeobachtermission auf das gesamte Territorium des Donbass zu gewährleisten“. Die Sache ist die, dass die Mission an sich dieser Tage von einem „Systemcharakter“ der Behinderung ihrer Arbeit seitens der Donezker und der Lugansker Volksrepublik sprach.
Die Anzahl der Verstöße gegen die Waffenruhe in der Konfliktzone nimmt zu. Und die Seiten bezichtigen sich gegenseitig dieser Verletzungen. Das Mitglied der ukrainischen Delegation bei den Minsker Verhandlungen, Sergej Garmasch, sagte gegenüber dem Fernsehkanal „Ukraine 24“, dass im Donbass wahrscheinlich eine militärische Provokation vorbereitet werde. Doch ein großer Krieg sei gegenwärtig nicht zu befürchte. „Nachdem Moskau eine Niederlage an der diplomatischen Front erlitten hat, setzt es das einzige verbliebene Instrument ein – das militärische, um uns zu zwingen, einen direkten Dialog mit Donezk und Lugansk zu führen. Unsere westlichen Partner, vor allem die USA, demonstrieren eine so entschiedene Position, die es nicht im Jahr 2014 gegeben hat“.
Am Wochenende wurde eine gemeinsame Erklärung der Außenministerien Deutschlands und Frankreichs veröffentlicht, in der die Teilnehmer des Normandie-Formats Besorgnis im Zusammenhang mit der Zunahme der Verstöße gegen das Feiereinstellungsregime im Donbass bekundeten. „Wir beobachten die Situation, insbesondere die Bewegungen russischer Truppen sehr aufmerksam und rufen die Parteien zur Zurückhaltung und sofortigen Deeskalation auf“, zitierten ukrainische Nachrichtenagenturen aus dem Wortlaut der Erklärung. Zuvor hatten Deutschlands Bundeskanzlerin und Frankreichs Präsident in einem Gespräch mit Wladimir Selenskij vorgeschlagen die Verhandlungen im Normandie-Format fortzusetzen. Jedoch geht es gegenwärtig nicht um ein baldiges Treffen der Vierer-Gruppe.
Die Partei Poroschenkos ist der Ansicht, dass das Selenskij-Team die Situation in eine Sackgasse geführt habe. Dies erklärte der Stabschef der Partei „Europäische Solidarität“ Alexander Turtschinow. „Die Führung unseres Staates hat im Verlauf von zwei Jahren über „Friedensinitiativen und eine Feuereinstellung“ gesprochen und die Situation in
eine Sackgasse geführt. Indem sie die Truppen abzogen und verboten haben, eine Aufklärung vorzunehmen und adäquat auf die Provokationen zu reagieren, haben sie unsere Positionen unter den Bedingungen einer Zuspitzung der Situation an der Front geschwächt“.
Turtschinow teilte mit, dass die Oppositionspartei, „ohne Initiativen und schnelle Entscheidungen von den Offiziellen abzuwarten“, begonnen hat, eine eigene Erfassung von Reservisten und ehemaligen Teilnehmern der antiterroristischen Operation im Donbass und der Operation der Vereinigten Streitkräfte vorzunehmen. Er erläuterte, dass dies „für die Gewährleistung eines schnellen Reagierens für den Fall des Aufkommens realer Gefahren gebraucht werde. Es darf keine Panik geben. Gebraucht werden eine systematische Arbeit und die Gewissheit hinsichtlich unseres Sieges“. Eine derartige Tätigkeit einer politischen Partei ist durch die ukrainische Gesetzgebung nicht vorgesehen. Und sie kann theoretisch bestraft werden, betonen Experten. Sie erinnern daran, dass allein in der vergangenen Woche der Sicherheitsdienst der Ukraine eine illegale private Militärfirma entlarvte, für die man vorrangig ehemalige Teilnehmer des Krieges im Donbass anwarb. Ihr Chef Semjon Sementschenko, ein ehemaliger Abgeordneter der Werchowna Rada, der im Jahr 2014 das Freiwilligen-Bataillon „Donbass“ geleitet hatte, ist jetzt festgenommen worden und befindet sich in U-Haft.