Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

In Moskau wird behauptet, dass Russlands Militäroperation in der Ukraine nach Plan läuft


Serbiens Präsident Aleksandar Vučić äußerte sich dieser Tage zur Arbeit der russischen Medien bei der Berichterstattung über die gegenwärtigen Ukraine-Ereignisse. Das Fazit nach seinen eigenen – vor allem nächtlichen – Beobachtungen unterschiedlichster Nachrichtenprogramme: Die russischen Massenmedien seien stärker und aktiver beim Covern der Sonderoperation in der Ukraine als die westlichen geworden. Er nannte dabei unter anderem auch den russischen TV-Sender Channel One, der am 19. Tag der von Präsident Putin begonnenen Operation in die Schlagzeilen geriet. Mitten in der Hauptnachrichtensendung „Wremja“ tauchte hinter der Studiomoderatorin eine Frau mit einem Plakat für mehrere Sekunden auf. Auf dem stand in englischer und russischer Sprache: „Kein Krieg! Stoppt den Krieg!“.

Marina Owsjannikowa, Redakteurin des Staatssenders(Kanal 1), hatte sich zu diesem Schritt entschlossen und machte damit deutlich: Auch wenn der russische Staat massive Anstrengungen unternimmt, um seine Militäroperation in der Ukraine zu rechtfertigen, wobei jegliche alternative Informationsquellen und Protestierende mit entsprechenden Plakaten die Gefahr laufen, als Verbreiter von Fake-News abgestempelt zu werden, gibt es in Russland nach wie vor Menschen, die anderer Meinung sind. Sie sind jedoch in der Minderheit, wie das Meinungsforschungsinstitut „Stiftung für öffentliche Meinung“ (FOM) am 20. Tag des Konflikts kundtat. Die Moskauer kremlnahe Stiftung ermittelte am 5. und 6. März, dass 68 Prozent der befragten russischen Bürger die Handlungen der Armee in der Ukraine unterstützen. Drei Prozent mehr als eine Woche zuvor. Auffällig ist dabei: In den Altersgruppen „über 60 Jahre“ und „46 bis 60 Jahre“ ist die Befürwortung der Kampfhandlungen im Nachbarstaat noch stärker – 79 Prozent bzw. 76 Prozent. Experten weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diese Altersgruppen gerade auch die Hauptkonsumenten der zentralen Fernsehkanäle sind. Diese haben buchstäblich gleich nach dem 24. Februar methodisch, allumfassend und fast rund um die Uhr begonnen, die Message aus dem Kreml zu vermitteln, zu erläutern und zu untermauern: Die Regierenden in Kiew sind Faschisten, organisierten einen Genozid im Südosten der Ukraine und müssen mit allen Mitteln gestoppt werden. Das Nachbarland müsse demilitarisiert und entnazifiziert werden. Und überdies müsse es zu seiner Verfassung von 1996 zurückgebracht werden, in der nichts von einer angestrebten NATO-Mitgliedschaft steht.

Diese massive Bearbeitung der russischen Fernsehzuschauer wirkt inzwischen auf viele junge Menschen im Land penetrant, abstoßend. Oft hört man selbst im öffentlichen Nahverkehr und persönlichen Gesprächen, dass man dies alles schon nicht mehr anschauen könne. Man werde ja davon verrückt. Dabei ist sicher für viele Zuschauer untergegangen, dass manche bekannten Gesichter vom Bildschirm verschwunden sind. Lilia Gildejewa, Nachrichtenmoderation des von GAZPROM finanzierten TV-Senders „NTW, Iwan Urgant mit seiner Late-Night-Show auf Channel One, die Frankreich-Korrespondentin Jeanna Agalarowa vom gleichen Sender sowie andere Journalist*Innen… Die Liste kann noch lange fortgesetzt werden. Und sie widerspiegelt eins: Die Zahl derjenigen, die nicht mehr mit dieser staatlichen Propaganda einverstanden sind, nimmt zu – langsam, aber stetig.

Während die Militäroperation Russlands auch am 20. Tag laut Plan erfolge, wie Nikolaj Patruschew, Sekretär des russischen Sicherheitsrates, versicherte, befasste sich am Dienstag das Untersuchungskomitee des Landes mit der Aktion von Marina Owsjannikowa. Der Pressesekretär des Staatsoberhauptes, Dmitrij Peskow, bezeichnete sie schon als „Rowdytum“. Und auf die Frage, ob man die Journalistin hinsichtlich des Tatbestands gemäß dem neuen Artikel über die Verbreitung von Fakes aus dem Strafgesetzbuch überprüfe, erklärte Peskow: „Es gibt bestimmte Institutionen, Behörden, die sich damit befassen. Zumal eine Livesendung eines jeglichen Fernsehkanals eine besondere Dimension und eine besondere Verantwortung darstellt, umso mehr für jene, die dort arbeiten“.

Im russischen Internet wird die pazifistische Aktion von Marina Owsjannikowa diametral kommentiert. Die Sprecherin des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, für den just am Dienstag die Staatsanwaltschaft 13 Jahre strenge Lagerhaft wegen Betrugshandlungen forderte, schrieb auf Twitter: „Wow, das Mädchen ist cool“. So wie Kira Jarmisch reagierten viele Menschen – nicht nur in Russland, sondern auch im Ausland. Andere übten Kritik an Owsjannikowa und sehen keine Heldentat in ihrem Handeln, wobei sie auf andere Journalisten verweisen, zum Beispiel vom abgeschalteten hauptstädtischen Hörfunksender „Echo Moskaus“, vom TV-Kanal „Doschd“, der seine Arbeit eingestellt hat, oder der Zeitung „Novaya Gazeta“, die über Jahre ständig unter der Gefahr gearbeitet hatten, Repressionen des russischen Staates ausgesetzt zu werden. Und dritte verurteilten die 43jährige, die auf Russland gespukt und dem Ansehen des Landes geschadet habe, zumal in den ukrainischen Medien der Vorfall umfangreich dargestellt wurde.

„NG Deutschland“ veröffentlicht eine Übersetzung der Erklärung von Marina Owsjannikowa, Mutter von zwei Kindern, die sie vor der aufsehenerregenden Aktion in einem Video festgehalten hat:

„Das, was jetzt in der Ukraine geschieht, ist ein Verbrechen. Und Russland ist ein Aggressor-Land. Und die Verantwortung für diese Aggression liegt auf dem Gewissen von nur einem Menschen. Und dieser Mensch ist Wladimir Putin.

Mein Vater ist Ukrainer, meine Mutter – Russin. Und sie sind nie Feinde gewesen. Diese Kette an meinem Hals ist wie ein Symbol dafür, dass Russland unverzüglich den Bruderkrieg stoppen muss und sich unsere Brüdervölker noch versöhnen können.

Leider habe ich die letzten Jahre bei Channel One (Ersten Kanal) gearbeitet und mich mit Kreml-Propaganda befasst. Und ich schäme mich jetzt sehr dafür. Ich schäme mich dafür, dass ich es zugelassen habe, dass vom TV-Bildschirm gelogen wurde. Ich schäme mich dafür, dass ich es zugelassen habe, die russischen Menschen zu Zombies zu machen.

Wir haben 2014 geschwiegen, als das alles anfing. Wir sind nicht zu Meetings gekommen, als der Kreml Nawalny vergiftete. Wir haben einfach nur stillschweigend dieses menschenfeindliche Regime beobachtet. Und jetzt hat sich die ganze Welt von uns abgewendet. Und noch zehn Generationen unserer Nachfahren werden sich von der Schande dieses Brudermord-Krieges nicht reinwaschen können.

Wir russischen Menschen sind denkende und kluge. Es liegt nur in unseren Kräften, diesen ganzen Wahnsinn zu stoppen. Kommen Sie zu Meetings. Es wird nichts passieren, fürchten Sie nicht. Sie können uns nicht alle einsperren“.

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=rEfZ0MMXpXQ&t=16s

Nach Redaktionsschluss wurde bekannt, dass Marina Owsjannikowa von einem Moskauer Stadtbezirksgericht mit einer Geldstrafe von 30.000 Rubel entsprechend dem Ordnungsstrafrecht Russlands belegt wurde. Grundlage für diese Entscheidung bildete der Teil 2 des Artikels 20.2 (Organisierung oder Durchführung einer öffentlichen Veranstaltung ohne ordnungsgemäße Benachrichtigung über die Durchführung der öffentlichen Veranstaltung), der neben einer Geldstrafe auch Zwangsarbeiten im Umfang von bis zu 50 Stunden oder gar eine Ordnungshaft von bis zu zehn Tagen vorsieht.