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In Weißrussland gibt es bereits fast 1000 politische Häftlinge


Die weißrussischen Offiziellen beabsichtigen, das Referendum zum Entwurf der neuen Verfassung im Februar abzuhalten. Zur Vorbeugung von Protesten werden die Repressalien im Land nicht eingestellt. Menschenrechtler haben bereits 978 Gefangene (Stand vom 11. Januar – Anmerkung der Redaktion) als politische anerkannt.

Die Offiziellen Weißrusslands melden, dass die Öffentlichkeit aktiv den Verfassungsentwurf erörtere, der am Vorabend der Neujahrsfeiern veröffentlicht wurde. In den staatlichen Unternehmen, Hochschulen und staatlichen Organisationen und Einrichtungen würden Diskussionen auf Dialogplattformen stattfinden. Am 11. Januar teilte der Präsidialamtschef Igor Sergejenko bei einer solchen Diskussion mit, dass die Verfassungskommission, die sich mit der Vorbereitung des Entwurfs befasst, bereits 4.000 Reaktionen und Vorschläge von der Bevölkerung erhalten habe. „Wir sehen ein aktives Interesse für den Wortlaut der Änderungen und Zusätze zur Verfassung. Dies demonstrieren unterschiedliche Kategorien von Bürgern sowohl auf dem Land als auch in den Städten… Es gibt interessante konkrete Vorschläge, die wir bei einer Sitzung der Arbeitsgruppe und Verfassungskommission behandeln werden. Es dominieren die Reaktionen zur Unterstützung des Verfassungsentwurfs. Es gibt auch ablehnende, wo im Gegenzug nichts vorgeschlagen wird“, berichtete er.

Die Vorbereitung auf das Verfassungsreferendum, das für Februar anberaumt worden ist, dauert an. Obgleich, wie Experten meinten, Alexander Lukaschenko angesichts der letzten Ereignisse in Kasachstan keinen Machttransit brauche, der ursprünglich auch als Ziel der Verfassungsreform genannt worden war. Allerdings neigen die meisten Analytiker dazu, dass Weißrussland das Referendum nicht absagen werde. Aufgrund der heiklen Situation versuche man in Minsk, aus dieser entweder durch zusätzliche Änderungen am Entwurf, die noch stärker die Positionen der Gesamtweißrussischen Volksversammlung verstärken werden, zu deren Führung Alexander Lukaschenko wechseln wollte, oder durch ein eigenartiges Begreifen des Zeitraums für den Machttransit, der sich über Jahrzehnte in die Länge ziehen kann, herauszukommen. Eine indirekte Bestätigung der Prognosen der Experten kann die Erklärung des Propagandisten der Herrschenden Jurij Woskresenskij sein, der sich als konstruktive Opposition bezeichnet. In seinem Telegram-Kanal schrieb er, dass in der weißrussischen Gesetzgebung ein „Absicherungsmechanismus“ gegen ein „Abgehen vom vorgezeichneten Weg“ verankert werden müsse. Und die Gesamtweißrussische Volksversammlung soll zu dem werden. Tatsächlich nimmt keinerlei Öffentlichkeit an der Diskussion teil. Die Herrschenden Weißrusslands haben alle gesellschaftlichen Organisationen inkl. der Gesellschaften zum Schutz von Vögeln, der Natur, zur Unterstützung von Invaliden usw. vernichtet (insgesamt rund 250). Im Land sind nur vom Staat kontrollierte Organisationen geblieben, die die Offiziellen aktiv unterstützen. Die Säuberungen in den staatlichen Organisationen sind zu einer gewohnten Sache geworden.

In der vergangenen Woche hatte die Zeitung „Intex-Press“ aus Baranawitschy über massenhafte Entlassungen in der Stadt aufgrund irgendwelcher geheimnisvollen Listen berichtet. Die Leitung lädt jene vor, die auf diese Liste geraten waren, und bittet, ein Entlassungsschreiben auf eigenen Wunsch zu verfassen. Auf Veröffentlichungen lokaler Medien ergibt sich, dass die Kampagne von Entlassungen in allen Regionen und Unternehmen läuft. Wenn ein Direktor sich weigert, seine Beschäftigten zu entlassen, entlässt man ihn selbst. Am 10. Januar hatte sich eine derartige Geschichte mit der Direktorin des Janka-Kupala-Museums Jelena Leschkowitsch ereignet. Sie hatte es abgelehnt, ihre Mitarbeiter aufgrund erfundener Gründe zu entlassen. Und der Vertrag mit ihr selbst wurde kurzerhand nicht verlängert.

Im Telegram-Kanal der Hauptverwaltung für die Bekämpfung organisierter Kriminalität und Korruption tauchen täglich neue Bekenner-Videos auf, aus denen sich ergibt, dass die Behörden jene anhand von Fotos und Videos aufspüren, die im Jahr 2020 zu Protestaktionen gekommen waren. Sie werden schon nicht mehr für mehrere Tage eingesperrt. Sie werden zu Angeklagten in Strafverfahren.

Die Gesamtzahl der aufgrund politischer Motive festgenommenen und eingesperrten Weißrussen ist schwer zu erfassen, da die Menschenrechtsorganisationen nicht legal arbeiten können. Am Dienstag kamen zur Zahl der Eingesperrten, die von den Menschenrechtlern offiziell als politische anerkannt worden sind, weitere 16 Menschen hinzu. Im Ergebnis dessen gibt es in Weißrussland derer 978. Unter den 16 neuen politischen Gefangenen sind Andrej Kusnetschik, ein Freelance-Journalist des weißrussischen Dienstes von Radio Liberty, die leitende Spezialistin für Kundenarbeit des Mobilnetz-Betreibers A1 Swetlana Kalentschiz, die Direktorin eines Minsker Gymnasiums Swetlana Chromowa und ihre Tochter Jana sowie der leitende Business-Analytiker des IT-Unternehmens EPAM Denis Nasuro.

Die Rechtsschutzorgane leiten neuen Verfahren ein und melden den Abschluss der Untersuchung zu früher erhobenen Anklagen. In den Anklageschriften sind dutzende Paragrafen und die Perspektive für Freiheitsstrafen von einer Dauer von zehn bis zwanzig Jahren. Am Dienstag teilte das Untersuchungskomitee mit, dass ein neuer Protestfall an die Staatsanwaltschaft übergeben worden sei. Unter den zehn Paragrafen, denen entsprechend zehn Personen angeklagt werden, sind die Organisierung von Massenunruhen und Gruppenhandlungen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen, die Zufügung von Schaden an der nationalen Sicherheit, die Schaffung einer extremistischen Formation usw. Bezeichnend ist, dass als eine Angeklagte in diesem Fall die 27jährige Menschenrechtlerin Marfa Rabkowa ausgewiesen wird, die sich mit nichts außer mit einer Menschenrechtstätigkeit befasst hatte. Aber das, was sie getan hat, reichte für elf Paragrafen des Strafgesetzbuches. Die Dauer der Freiheitsstrafe kann ihnen entsprechend zwanzig Jahre ausmachen.

Derweil treten neue Paragrafen des StGB in Kraft, die die Möglichkeiten für eine Bestrafung Nichteinverstandener erweitern. Am 11. Januar ist die Norm in Kraft getreten, wonach die Beteiligung an der Tätigkeit einer nichtregistrierten Organisation strafrechtlich geahndet werden kann. Dafür kann man für zwei Jahre die Freiheit verlieren. In Weißrussland haben über 250 gesellschaftliche Organisationen ihren offiziellen Status verloren. All ihre Mitglieder können nun strafrechtlich verfolgt werden. Am Dienstag ist auch das Sammeln von Geld für das Tilgen von Strafen für jene, die wegen unterschiedlicher Formen einer Ablehnung der Herrschenden bestraft wurden, zu einem Verbrechen geworden. Dafür droht eine Strafe in einer Höhe von umgerechnet rund 400 Dollar.

Bei der Kommentierung der Fortsetzung der Repressalien bei Ausbleiben von Protestaktivitäten sprechen Experten von der Vorbereitung zum (Verfassungs-) Referendum und Plänen, dieses auf maximale Weise „steril“ abzuhalten, aber auch von der Unsicherheit der Herrschenden bezüglich ihres Triumphs. „Die Weißrussen sind abgetaucht und warten darauf, dass sich ein Fenster von Möglichkeiten auftut“, meinen Analytiker.