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In Weißrussland kann es auch zu einem Bürgerkrieg kommen


Am 15. Juni ist das Urteil gegen Maria Uspenskaja gefällt worden, der Witwe von Andrej Selzer, der bei dem Versuch einer Wohnungsdurchsuchung einen KGB-Mitarbeiter erschossen hatte und selbst durch Gegenfeuer getötet worden war. Fortgesetzt wird der Prozess gegen die Gruppe von Nikolaj Awtuchowitsch, deren Mitgliedern Terrorismus und Pläne für die Schaffung einer „Partisanen-Bewegung“ angelastet werden. Derweil haben die Oppositionsführer, die sich in der Emigration befinden, den Beginn der Bildung einer „nationalen Befreiungsbewegung“ bekanntgegeben. Alexander Lukaschenko stellt eine Volkswehr auf. Und Vertreter des Kastus-Kalinouski-Regiments signalisieren vor diesem Hintergrund die Absicht, auf Panzern nach Weißrussland zurückzukehren.

Das Minsker Stadtgericht hat am vergangenen Mittwoch das Urteil gegen Maria Uspenskaja gesprochen, der Witwe von Andrej Selzer, der einen KGB-Mitarbeiter in Zivil erschossen hatte, der gemeinsam mit Kollegen die Tür zu dessen Wohnung aufzubrechen versuchte, um eine Durchsuchung in ihr vorzunehmen. Selzer selbst war durch Gegenfeuer getötet worden. Und seine Gattin, die alles Geschehen mit einem Mobiltelefon aufgenommen hatte, wurde verhaftet. Durch den Gerichtsbeschluss sind für Uspenskaja „eine erzwungene Sicherheitsmaßnahme und eine Heilbehandlung in Form einer Zwangsheilung in einer stationären Psychiatrie-Einrichtung“ festgelegt worden. Was als Grundlage für das Urteil diente, ist schwer zu verstehen, da das Strafverfahren bei einer Gerichtsverhandlung hinter verschlossenen Türen behandelt wurde.

Aber der „Fall Selzers“, der sich geweigert hatte, auf Verlangen von KGB-Mitarbeitern in Zivil und ohne sich auszuweisen, die Wohnungstür zu öffnen, und sie mit Schüssen in Empfang nahm, zieht in der weißrussischen Gesellschaft weiterhin Kreise. So hatte das KGB dieser Tage die offizielle Liste von Terroristen auf seiner Internetseite aktualisiert. Vier von ihnen bezichtigt man „des Schürens von Rassen-, nationaler, religiöser oder anderer sozialer Feindschaft und Zwietracht“. Und zum Anlass für eine strafrechtliche Verfolgung wurden Kommentare, die sie in den sozialen Netzwerken unter Veröffentlichungen über den Schusswechsel in der Wohnung von Selzer und Uspenskaja zurückgelassen hatten.

Derweil wird in Grodno der Prozess gegen die Gruppe von Nikolaj Awtuchowitsch fortgesetzt, deren Teilnehmer der Brandstiftung in Bezug auf ein Haus und zwei Autos, die Rechtsschützern gehörten, angeklagt worden sind. Allerdings werden dem Anführer der Gruppe auch Pläne zur Organisierung einer umfangreichen regierungsfeindlichen Tätigkeit angelastet. Ihm kann ein Urteil drohen, das die Todesstrafe vorsieht. Am Mittwoch wurde im Gericht seine Befragung abgeschlossen, die mehrere Tage andauerte.

Awtuchowitsch hat nur teilweise seine Schuld eingestanden. Er hatte es abgelehnt, auf eine ganze Reihe von Fragen zu antworten, und erklärt, dass alle anderen Angeklagten hinsichtlich seines Falls vollkommen unschuldig seien. Er hatte unter anderem nicht den Plan für eine „Partisanenbewegung“ kommentiert, dessen Ausarbeitung die Untersuchungsbehörden ihm anzulasten versuchten.

Aber die Gründer der „Nationalen Befreiungsbewegung“, die auf einen Sturz von Alexander Lukaschenko abzielt, machen in keiner Weise einen Hehl daraus. Freilich, eine derartige Offenheit wird dadurch bedingt, dass sie sich außerhalb von Weißrussland befinden. So hatte einer der Anführer der Opposition, Pawel Latuschko, der auch Chef der Organisation „Antikrisenverwaltung des Volkes“ ist, dieser Tage in einer Sendung des YouTube-Kanals „Malanka Live““ den Verlauf der Anstrengungen zur Aufstellung der Bewegung kommentiert: „Es erfolgen aktive Konsultationen mit unterschiedlichsten Gruppen. Das Wichtigste ist, die Stimme des Aktivs zu hören. Ohne seine Unterstützung ist es unmöglich, von einem Erfolg zu sprechen“. Er bestätigte unter anderem, dass aktive Gespräche mit den Kräften erfolgen würden, die den vorangegangenen Plan für aktive Handlungen „Peramoga“ (weißrussisch: „Sieg“) ausgearbeitet hatten.

Derweil unternimmt Alexander Lukaschenko Handlungen dagegen. Unter anderem ist jüngst durch ihn die Bildung einer Volkswehr initiiert worden. „Ich habe gedacht, dass wir für jeglichen Fall bei jedem Dorfrat eben diese Volkswehr, eine Gruppe von Menschen haben müssen. Sie werden nicht viele sein. Vielleicht 50 Mann. Aber sie müssen auch ihre Waffen irgendwo in einem Lager haben. Wir ziehen sie für eine Ausbildung ein. Sie werden ihre Maschinenpistolen nehmen (vor allem Maschinenpistolen, Granatwerfer und Pistolen), damit sie ihr Haus verteidigen können“, erklärte Weißrusslands Staatsoberhaupt.

Diese Idee kommentierte Pawel Latuschko so: „Lukaschenko sagt, dass in jedem Dorfrat jeweils 50 Männer unter Waffen sein sollen. Aber 70 Prozent der Weißrussen leben in Städten. Warum sagt er nicht, wieviel Kalaschnikows auf einen Hauseingang kommen werden? Vertraut er nicht den Städtern? Doch im Jahr 2020 hatte es in den Dörfern auch Proteste gegeben. Er versucht, eine selektive Auswahl vorzunehmen, diejenigen zu bewaffnen, die ihm persönlich ergeben sind“.

Latuschko erklärte: „Wir schlagen unseren Anhängern vor, gleichzeitig sowohl der Volkswehr als auch unserer nationalen Befreiungsbewegung beizutreten“. Diese scheinbar paradoxe Initiative ist einfach zu erklären. Latuschko ist der Auffassung, dass viele Weißrussen, nachdem sie in den Besitz von Waffen gekommen sind, sie ganz und gar nicht dafür verwenden würden, wie das Lukaschenko annehme.

Charakteristisch ist, dass mit einem analogen Aufruf auch Vertreter des Kastus-Kalinouski-Regiments aufgetreten sind. Der Kommandeur dieser Einheit, der unter dem Code-Namen „Kit“ (russisch: Wal) agiert, gewährte dieser Tage dem Internetportal „Zerkalo“ ein ausführliches Interview, indem er eindeutig die Möglichkeit eines Bürgerkrieges signalisierte, wobei unter Ausnutzung äußerer Unterstützung. „Möglicherweise müssen wir auf Panzern nach Belarus fahren. Vielleicht wird sich alles von selbst lösen. Ich hätte es gern, wenn maximal ohne Rummel. Ich hoffe, dass das Volk von Belarus in uns eine Kraft und Hoffnung sieht. Aber auch einen ernsthaften Konkurrenten für die Herrschenden“, betonte „Kit“.

Der Kommandeur des Regiments behauptet, dass unter seiner Führung bereits mehr als 400 ausgebildete und vollkommen ausgerüstete Kämpfer seien. Dabei erklärt er aber: „Es ist klar, dass unsere Kräfte nicht ausreichen (obgleich sie möglicherweise bis zu diesem Zeitpunkt auch bereits ausreichende sein werden). Daher hoffe ich, dass dies gemeinsam mit Einheiten der Ukraine sein wird“.