In einer Videobotschaft in der Nacht zum Montag hat der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij Jerusalem als möglichen Ort für Verhandlungen mit Russland bezeichnet. Dieser Vorschlag zielte darauf ab, die negative Reaktion auf seinen Auftritt vor der israelischen Knesseth abzuschwächen. Dem ukrainischen Präsidenten hatte man vorgehalten, dass die Botschaft seines Landes nicht nach Jerusalem umgezogen sei und sich nach wie vor in Tel Aviv befinde. Um aber Dokumente in der Heiligen Stadt zu unterzeichnen, muss der Verhandlungsprozess erfolgreich abgeschlossen werden. Als eine Kompromisslösung zu einer der brisantesten Fragen haben Experten eine erneute Abhaltung eines Referendums in der Donezker Volksrepublik und der Lugansker Volksrepublik eingeräumt.
Wladimir Selenskij hatte in der Videobotschaft erneut Jerusalem als Ort für ukrainisch-russische Verhandlungen vorgeschlagen. „Dies ist der richtige Ort, um Frieden zu finden, wenn dies möglich ist“, merkte Selenskij an.
Ein derartiger Vorbehalt war augenscheinlich auch dazu bestimmt, jene negative Reaktion abzuschwächen, die der am Vorabend erfolgte Auftritt Selenskijs vor der israelischen Knesseth ausgelöst hatte. Er hatte unter anderem die Israelis aufgrund der Ablehnung, der Ukraine das Raketenabwehrsystem „Eisenkuppel“ zu liefern, und auch wegen des Unwillens, Sanktionen gegen die Russische Föderation zu verhängen, kritisiert. Und dabei hatte er aufgerufen, der Ukraine genauso zu helfen wie die Ukrainer den Juden während des Holocausts geholfen hatten.
Einen derartigen Aufruf hatte man beispielsweise negativ auf dem russischsprachigen Telegram-Kanal „Stimme Israels“ aufgenommen. Wie man dort angenommen hatte, würde sich der Präsident der Ukraine nicht dessen erinnern, wem die Ukrainer tatsächlich vor 80 Jahren geholfen hätten. Und weiter zählte man eine ganze Reihe von sich angesammelten Vorwürfen gegen die ukrainische Seite auf – von eben jener Beibehaltung der ukrainischen Botschaft in Tel Aviv bis zur Nichtanerkennung von „Hisbollah“ und der HAMAS als terroristische Organisationen nach dem Vorbild der westlichen Länder.
Solch eine Reaktion konnte nach der Serie erfolgreicher Auftritte von Wladimir Selenskij vor Parlamentariern Großbritanniens, Kanadas, der USA und Deutschlands wie eine überraschende aussehen. Allerdings sei der israelische Staat im Unterschied zu anderen Ländern unter Berücksichtigung der eigenen schweren Erfahrungen und der bestehenden Verbindungen sowohl mit der Russischen Föderation als auch mit der Ukraine „bodenständiger“ und zu einer eigenständigeren Haltung geneigt, wie der Leiter der Abteilung für das Studium Israels des Orientalistik-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, Dmitrij Marjasis, gegenüber der „NG“ erläuterte.
Und deshalb habe Israel keine schlechten Chancen, fuhr Marjasis fort, um zu einem Verhandlungsort für Vertreter Moskaus und Kiews zu werden. „Für die israelische Seite haben sich nicht nur mit Russland und der Ukraine positive Beziehungen herausgebildet, sondern auch mit der EU und den USA. Und dies ist natürlich wichtig, dass sie die entscheidenden Akteure positiv wahrnehmen“, betonte der Wissenschaftler. Zur gleichen Zeit unterstrich er, dass man auch in Israel an sich an einem Erfolg der Vermittlermission interessiert sei. Unter anderem unter Berücksichtigung der Besorgtheit der jüdischen Diaspora in der Russischen Föderation und in der Ukraine, aber auch der Interessen des existierenden Business in beiden Ländern.
Wie dem nun auch sein mag, doch, damit Jerusalem auch wirklich zu einem perspektivreichen Ort wird, wo man einen Punkt im Verhandlungsprozess setzen könnte, müssen Kompromissentscheidungen auch zu den umstrittensten Fragen erzielt werden. Bisher aber gestehen die Vertreter beider Seiten ein, dass ihre Diskussion schwer vorankomme. Wobei, wie am Montag der Pressesekretär des russischen Präsidenten, Dmitrij Peskow, erklärte, die Frage nach einer Wiederaufnahme des Regimes einer Waffenruhe für den Zeitraum der Verhandlungen nicht diskutiert werde. Da jegliche Unterbrechung in der Militäroperation Russlands die ukrainischen nationalistischen Einheiten für eine Umgruppierung der Kräfte und Attacken gegen russische Militärs ausnützen würden, erläuterte Peskow.
Derweil bleibt in dem angespannt vorankommenden Verhandlungsprozess die territoriale Frage nach wie vor eine der brisantesten. Am Vorabend hatte das Mitglied der ukrainischen Delegation, der Berater des Leiters des Office des ukrainischen Präsidenten, Michail Podoljak, bekanntgegeben, dass sich Kiew hinsichtlich dieser Frage auf keine Zugeständnisse einlassen werde. „Wir können keinerlei Territorien abgeben“, konstatierte Podoljak.
Ist hier jedoch nicht doch in der Perspektive das Erreichen gewisser Kompromisspositionen möglich?
Solche Entscheidungen seien im vom Prinzip her möglich, augenscheinlich aber bereits nach dem Erreichen eines Umbruchs in der von Wladimir Putin befohlenen Militäroperation der Russischen Föderation, sagte der „NG“ Dmitrij Suslow, stellvertretender Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien der in Moskau ansässigen Nationalen Forschungsuniversität „Hochschule für Wirtschaftswissenschaften“. Vorerst aber, präzisierte er, würde die ukrainische Seite weiterhin verzweifelt Widerstand leisten. Dies fördere seiner Meinung nach auch das Wirken Washingtons, das Kiew zu einer Fortsetzung der Kampfhandlungen veranlasse und ihm eine gewaltige Menge an Waffen liefere. (Offen bleibt dabei freilich, wie viele Waffen Moskau gegen die Ukraine zum Einsatz bringt. – Anmerkung der Redaktion) es sei aber offensichtlich: Mit der Wende in der Militäroperation werde sich auch die Einstellung der ukrainischen Unterhändler verändern, die es heute vorziehen würden, einen Status quo zu bewahren. Darunter auch in der Frage nach dem von Moskau verlangten neutralen Status der Ukraine, der faktisch bereits durch das Ausbleiben der Bereitschaft der NATO, sie in ihre Reihen aufzunehmen, vorbestimmt sei. Obgleich bei einer Veränderung der generellen Situation auch hinsichtlich anderer Punkte Bewegungen möglich seien, räumte Suslow ein. Und wenn man über mögliche Kompromisse hinsichtlich des Status der DVR und der LVR Überlegungen anstelle (die Krim-Frage betrachtet man in Moskau als eine abgeschlossene), konkretisierte der Experte, würde theoretisch die Möglichkeit einer erneuten Abhaltung eines Referendums in den Donbass-Republiken bestehen. Damals waren die Ergebnisse der Abstimmung im Donbass im Jahr 2014 von Moskau nicht offiziell anerkannt worden. Dabei belegen die Erfahrungen heutiger Konflikte: Es gelingt selten, derartige Fragen auf friedlichem Wege zu lösen. Und von diesem Standpunkt aus müsse man – versteht sich – positiv eine mögliche Erweiterung des Kreises der Vermittler bewerten – nach der Türkei, die bereits aktiv in dieser Richtung tätig ist, nun auch Israel. Zumal mit den bekannten israelischen Erfahrungen und den Kontakten unter den führenden internationalen Akteuren, resümierte der Experte aus der „Hochschule für Wirtschaftswissenschaften“ Dmitrij Suslow.