Wie die „NG“ erfahren hat, bezichtigte man den Chef der „Jabloko“-Fraktion in der Gesetzgebenden Versammlung von Petersburg, den Abgeordneten Alexander Schischlow, der Diskreditierung der russischen Streitkräfte. In der Verwaltung des Innenministeriums für den Petrograder Stadtbezirk hat man gegen den 67jährigen Schischlow ein Protokoll über einen ordnungsrechtlichen Rechtsverstoß gemäß Artikel 20.3.3. (öffentliche Handlungen, die auf eine Diskreditierung des Einsatzes der Streitkräfte abzielen) erstellt. Den Fall wird das Gericht des Petrograder Stadtbezirks behandeln. Die Polizeibeamten sind der Auffassung, dass Alexander Schischlow durch Publikationen im russischen sozialen Netzwerk „VKontakte“ die Armee diskreditiert habe. Experten haben bereits in dem Geschehen ein besorgniserregendes Signal für die Partei „Jabloko“ insgesamt und für pazifistische Abgeordnete unterschiedlicher Ebene in Sonderheit ausgemacht.
In der Partei „Jabloko“ teilte man mit, dass der nunmehrige Petersburger Fall ein Präzedenzfall sei. Das heißt: Dies sei der erste Fall, bei dem man „Jabloko“-Abgeordneten regionaler Ebene einer Diskreditierung der Armee bezichtigt. Bisher ist unklar, wann das zuständige Stadtbezirksgericht den Fall behandelt. Bestätigt hat dies Alexander Schischlow auch gegenüber der „NG“. Der „Jabloko“-Vertreter ist aber der Auffassung, dass man die Gerichtsverhandlung nicht auf die lange Bank schieben werde. Nach Aussagen des Abgeordneten hatte man den Fall auf der Grundlage von Materialien der Staatsanwaltschaft eingeleitet, die die sozialen Netzwerke hinsichtlich extremistischer Veröffentlichungen beobachtet. Schischlow erläuterte, dass er im Netzwerk „VKontakte“ über das Geschehen bei den Tagungen der Gesetzgebenden Versammlung berichtet hatte. Aus den Veröffentlichungen wird klar, dass der „Jabloko“-Vertreter nur indirekt seine Haltung zur Sonderoperation in der Ukraine bekundete.
Dabei ist das Protokoll über die ordnungsrechtliche Rechtsverletzung auf der Grundlage eines Expertengutachtens abgefasst worden, das auf Bitten der Petersburger Staatsanwaltschaft von der Dozentin Viktoria Abakanowa des Lehrstuhls für Strafrechtsprozesse der Russischen staatlichen pädagogischen A.-I.-Herzen erstellt worden war. Sie behauptet, dass „ein ausgerichteter Charakter der Absicht des Autors auf eine öffentliche Diskreditierung der Handlungen der Streitkräfte der Russischen Föderation und eine Destabilisierung der Lage im Land auszumachen ist“.
Alexander Schischlow erklärte, dass er mit der vorgebrachten Anschuldigung einverstanden sei und die Schlussfolgerungen der Expertin für absurde halte. Er unterstrich gegenüber der „NG“, dass der Fall gegen ihn ein politischer sei. „Dies ist eine Fortsetzung der Linie zur Einschüchterung der Gesellschaft und zur Verfolgung politischer Opponenten“, meint er. „Ungeachtet der Absurdität der Anschuldigung erlaubt die heutige Gesetzgebung, alles in die nötige Richtung auszulegen“. Der „Jabloko“-Vertreter schloss nicht aus, dass sein Fall der erste gegen Abgeordnete sei. „Unsere Partei hat nicht vor, ihre Haltung weder auf der Stadt- als auch auf föderaler Ebene zu ändern, denn derzeit ist es sehr wichtig, einen anderen Standpunkt zu zeigen“, unterstrich Schischlow.
Das Mitglied des politischen Komitees der Partei, Emilia Slabunowa, erläuterter der „NG“: „In der Praxis der Rechtsschutzorgane erleben die schlimmsten sowjetischen Traditionen eine Wiedergeburt: Wenn es einen Menschen geben würde, werden sich ein Paragraf und ein Anlass finden“. Sie betonte, dass der Fall mit Schischlow ein sehr besorgniserregender sei, weil allein schon Petersburg jene Stadt sei, die oft politische Tendenzen für das ganze Land vorgebe. Daher sei die Initiative scheinbar eine lokale, es sei aber nicht ausgeschlossen, dass sie bei weitem keine örtlich begrenzte sei. „Es kann durchaus sein, dass Abgeordnete gesetzgebender Versammlungen (regionaler Parlamente – Anmerkung der Redaktion) aufgrund ihrer pazifistischen Haltung verfolgt werden können. Und Schischlow ist ein demonstratives Beispiel dafür, dass weder der Status noch das Ansehen jetzt als ein Schutz dienen“, konstatierte Slabunowa, wobei sie daran erinnerte, dass Schischlow früher Ombudsmann für Menschenrechtsfragen in Petersburg gewesen war.
Die „Jabloko“-Vertreterin ist der Auffassung, dass man ihre Partei ein weiteres Mal daran erinnert habe, dass sie zu jedem beliebigen Zeitpunkt verboten werden könne.
Alexej Makarkin, 1. Vizepräsident des Zentrums für politische Technologien, erklärte gegenüber der „NG“, dass, obwohl es nur um einen Fall gegen einen Abgeordneten gehe, dies für „Jabloko“ ein schlechtes Signal sei. „Es gibt eine Tendenz von oben, die informellen politischen Spielregeln zu revidieren. Und in dieser Situation kann „Jabloko“ einem Schlag ausgesetzt werden“, unterstrich er. Während früher in der Politik die Meinung vorherrschte, dass die liberalen Intellektuellen ihre Partei bräuchten, zumindest für ein Dampfablassen, so verliere nunmehr solch eine Herangehensweise an Aktualität. Früher sei die Partei durch ihre Präsenz im legalen Bereich geschützt gewesen. Aber mit dem Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine würde eine neue, tatsächlich aber eine gut vergessene alte Vorgehensweise triumphieren: „Wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns“. Daher interessiere nicht die parlamentarische Opposition die Vertreter der Rechtsschutzorgane. Ja, aber die außerparlamentarische Opposition pazifistischer Ausrichtung gerate unter Angriffe und werde still und leise vom legalen politischen Feld entfernt. Der Fall mit Schischlow sei für „Jabloko“ nur ein erstes ernsthaftes Signal. „Die Vertreter der Rechtsschutzorgane haben vollkommene Handlungsfreiheit. Es ist wohl kaum ein Signal von oben in Bezug auf „Jabloko“ gekommen. Die Aktivität der Pazifisten in den sozialen Netzwerken wird einfach verfolgt. Die Sonderoperation hat die Politiker klar in zwei Lager getrennt – „dafür“ und „dagegen“. Und die Vertreter der Rechtsschutzorgane unterteilen alle in die eigenen und in fremde. Gegen die Fremden kann man Verfahren einleiten, ohne den früheren Verdiensten und dem Status Beachtung zu schenken“, unterstrich Makarkin.