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Jerewan sucht eine Alternative zu den russischen Friedenstruppen


Die Ansprache von Premier Nikol Paschinjan an das Volk Armeniens am Sonntag hat nicht nur die früher erzielten Vereinbarungen von Jerewan und Baku in Bezug auf den Status von Bergkarabach und das weitere Schicksal seiner Bevölkerung in Frage gestellt, sondern auch die Bündnisbeziehungen von Jerewan mit Moskau. Armeniens Regierungschef hat den russischen Friedenstruppen (und damit Moskau – Anmerkung der Redaktion) alles angelastet, was sich in Bergkarabach – beginnend ab dem Jahr 2020 und bis zur antiterroristischen Operation Aserbaidschans vom 19. September dieses Jahres – ereignete, wobei er die Ziele des Kontingents der russischen Friedenstruppen in Bergkarabach insgesamt in Zweifel zog. In Jerewan ist man der Auffassung, dass die Sicherheit der Region andere Friedenstruppen – unter UNO-Flagge – gewährleisten könnten.

Am Sonntag tauchten in den Medien Informationen unter Berufung auf den Sicherheitsrat Armeniens über das mögliche Treffen Paschinjans mit Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew im spanischen Granada am 5. Oktober auf. Jerewan beabsichtigt, mit der aserbaidschanischen Seite über Sicherheitsgarantien für die Bergkarabach-Armenier zu sprechen. Den Status der Region wird Baku nicht diskutieren, da es Bergkarabach de jure als aserbaidschanisch ansieht. Und es hat dafür Grundlagen: Nikol Paschinjan hatte im vergangenen Jahr in Prag eine Erklärung über die Anerkennung der Grenzen Aserbaidschans entsprechend dem Stand von 1991 unterschrieben, das heißt zusammen mit Bergkarabach. Was die Sicherheit der Bergkarabach-Armenier angeht, so erläuterte Paschinjan in der Sonntagansprache an die Bürger des Landes, dass „die Regierung Armeniens mit internationalen Partnern an der Etablierung internationaler Mechanismus für eine Gewährleistung der Rechte und Sicherheit der Armenier von Bergkarabach arbeitet“. „Wenn diese Anstrengungen aber keine konkreten Ergebnisse bringen, wird die Regierung mit aller Fürsorge unsere Brüder und Schwestern aus Bergkarabach in der Republik Armenien willkommen heißen“, betonte der armenische Premier.

Am Vorabend des Paschinjan-Auftritts hatte Armeniens Außenminister Ararat Mirsojan vor der UNO-Vollversammlung aufgerufen, Blauhelm-Truppen nach Bergkarabach zu entsenden. „Man darf keine Tragödie wie in Ruanda zulassen“, unterstrich der Minister. Unter anderem sollten nach Aussagen von Mirsojan die UNO-Friedenstruppen die Flüchtlinge in ihre Häuser zubringen, auf deren Sicherheit aufpassen und einen Abzug der aserbaidschanischen Truppen aus den Ortschaften von Bergkarabach fordern.

Es muss betont werden, dass man für die Entfaltung einer Friedensmission von allen Beteiligten des Konflikts eine Zustimmung für sie erhalten muss. So war es unter anderem im Fall mit den russischen Militärs in Bergkarabach, die dabei ab den ersten Tagen nur humanitäre und Vermittlerfunktionen wahrnehmen konnten. Baku wird wohl kaum irgendein anderes Kontigent bei sich aufnehmen, besonders wenn zu seiner Aufgabe eine Verdrängung der aserbaidschanischen Truppen aus Bergkarabach wird.

Wie dem auch sein mag, im Informationszentrum der selbstproklamierten Republik Bergkarabach teilte man mit, dass im Rahmen der erzielten Vereinbarung zur Beendigung der Kampfhandlungen Stepanakert seine Streitkräfte auflösen werde. Gleichfalls erfolge eine Suche nach Verschollenen. Verwundete und Kranke würde man über den Latschin-Korridor nach Armenien bringen. Über die gleiche Trasse wird man humanitäre Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes aus Jerewan nach Stepanakert transportieren.

Der ehemalige Regierungschef von Bergkarabach, Ruben Vardanjan, betonte, dass sich die gesamte Bevölkerung der selbstproklamierten Republik in einer Risikozone befinde. Die Menschen könnten keine normale Verpflegung erhalten. „Nach 30 Jahren eines unabhängigen Lebens im eigenen Land ist jetzt alles zerstört worden. Und die Menschen machen sich über ihre Zukunft große Sorgen“, betonte er.

Dabei unterstrich Vardanjan, dass sich Stepanakert zehn Monate lang in einer Blockade befand. Bis dahin wären jeden Tag rund 400 LKW mit unterschiedlichen Waren dorthin gekommen, jetzt aber nur zwei. „Die können wohl kaum irgendwie helfen, da hier 120.000 Menschen sind, darunter 30.000 Kinder“, sagte Vardanjan. „Es gibt viele Verwundete, viele Menschen sind verschollen und können nicht gefunden werden. Und ein Paar LKW, dies sind Peanuts“.

Der einstige Premierminister glaubt nicht an die Fähigkeit Bakus, die Rechte der armenischen Bevölkerung von Bergkarabach zu gewährleisten, da das Regime Alijews nach seinen Worten selbst das eigene Volk unterdrücke. „Und jetzt sollen sie bestimmte Rechte und eine bestimmte Sicherheit für die Menschen einer anderen Nationalität gewährleisten, gegen die sie bereits 30 Jahre lang einen Krieg führen, in dessen Verlauf viele Menschen ums Leben gekommen sind. Wer wird jetzt die Rechte jener Menschen gewährleisten, die niemals im Bestand von Aserbaidschan gewesen waren, kein Aserbaidschanisch sprechen? Ich sage es noch einmal, wie wird dieser Prozess erfolgen?“, empört sich Vardanjan.

Seinerseits erklärte Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew gegenüber dem Sondervertreter der Europäischen Union für den Südkaukasus, Toivo Klaar, dass eine Arbeitsgruppe zur Lösung der sozialen, humanitären, ökonomischen und Infrastruktur-Fragen in Bergkarabach gebildet worden sei. Geleitet wird sie durch den Vizepremier des Landes, Shahin Mustafayev. Außerdem hätten sich nach Aussagen des Staatsoberhaupts von Aserbaidschan die Vertreter von Stepanakert bei dem Treffen in Jevlach mit den Plänen der aserbaidschanischen Seite zur Reintegration der Region vertraut gemacht. Gleichfalls unterstrich Alijew, dass sich gegenwärtig günstigere Bedingungen für eine einen Friedensvertrag zwischen Armenien und Aserbaidschan ergeben hätten.

Der Außenminister der Republik, Jeyhun Aziz oglu Bayramov, berichtete bei seinem Auftritt vor der UN-Vollversammlung, dass Aserbaidschan Armenien einen Friedensvertrag angeboten hätte, der „auf Gleichberechtigung und einer gegenseitigen Achtung der legitimen Interessen beider Seiten im Rahmen einer gegenseitigen Anerkennung sowie Achtung der Souveränität und territorialen Integrität, aber auch der Integrität und Unantastbarkeit der Grenzen beruht“. Dabei beklagte sich Bayramov, dass Jerewan Verhandlungen ausweiche und die übernommenen Verpflichtungen ignoriere. Baku glaube aber dennoch an die Möglichkeit des Erreichens von Frieden und Prosperität für alle.

Der Vertreter des aserbaidschanischen Präsidenten für Sonderaufträge, Elchin Amirbekov, leistete ebenfalls seinen Beitrag zum Konstruieren eines menschenliebenden Bildes von Baku. Nach seinen Worten würden die Armenier von Bergkarabach bereits Medikamente und andere notwendige Hilfe erhalten. Insgesamt seien ihnen 50 Tonnen humanitäre Hilfsgüter gebracht worden. Zur gleichen Zeit bezifferte er in einem BBC-Interview die Anzahl der Einwohner von Bergkarabach nicht mit 120.000 Menschen, wie man in Jerewan erklärt, sondern nur mit 50.000.

Derweil sind am 24. September die ersten 30 Flüchtlinge im armenischen Sjunik eingetroffen. Die Menschen berichten, dass die Aserbaidschaner an den Kontrollpunkten im Latschin-Korridor ihre Dokumente nicht überprüft hätten. Die Offiziellen Armeniens behaupten, dass sie Unterbringungsmöglichkeiten für 40.000 Menschen vorbereitet hätten. Dabei erklärte man im Innenministerium Aserbaidschans, dass alle jetzigen und einstigen Angehörigen der armenischen Streitkräfte mit persönlichen Fahrzeugen oder speziellen Bussen Bergkarabach verlassen könnten. Unter Berücksichtigung dessen, dass der Dienst in der Armee von Bergkarabach ein obligatorischer war, kann es um die gesamte männliche Bevölkerung der Region gehen.

Post Skriptum:

Die Regierung Armeniens gab am Montag bekannt, dass mit Stand 12.00 Uhr Ortszeit 4850 Einwohner aus Bergkarabach in der Republik eingetroffen seien.