Ich hatte nicht gedacht, dass ich in meinen Notizen zum Thema der Todesstrafe zurückkehren muss, deren Verzicht in Russland ich bereits mehrfach kommentierte, darunter auch in der „NG“. Die Hartnäckigkeit, mit der die Diskussion über eine Wiederaufnahme der Anwendung des höchsten Strafmaßes vor dem Hintergrund des Austritts (nach Meinung Russlands) oder des Ausschlusses (nach Meinung des Ministerkomitees und der PACE) unseres Landes aus dem Europarat angefacht wird, veranlasst, die Richtigkeit meiner Ansichten aufs Neue zu überprüfen. Das Hauptargument der Verfechter einer Aufhebung des Moratoriums (vorerst werden wir diesen Begriff verwenden) ist solch eines: Nach Beendigung der Mitgliedschaft im Europarat – seit dem 16. März – und in der Konvention über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ab 16. September ist Russland nicht mehr an die Pflicht gebunden, ein Moratorium hinsichtlich der Todesstrafe zu verhängen und einzuhalten.
Es sei gleich ausbedingt: Das Problem der Todesstrafe behandele ich ausschließlich aus formaler, aus juristischer Sicht, wobei ist die Rechtssituation beurteile, in der sich Russland befindet, und mich von Emotionen loslöse, soweit dies möglich ist. Es sei eingestanden, dass letztere nicht die letzte Rolle in dieser Diskussion spielen.
Also denn, erinnert sei an die Grundlagen. Die Verfassung der Russischen Föderation, die jedem das Recht auf Leben garantiert, macht eine zeitweilige Ausnahme aus ihm: „Die Todesstrafe kann bis zu ihrer Aufhebung durch ein föderales Gesetz als eine ausschließliche Maßnahme zur Bestrafung aufgrund besonders schwerer Verbrechen gegen das Leben festgelegt werden…“. Eine zeitweilige, da die Verfassung davon ausgeht, dass irgendwann solch eine Art von Bestrafung aus dem Arsenal der Mittel für eine bestrafende Einwirkung auf eine Person ausgeschlossen wird. Als eine Erziehungsmaßnahme kann man sie schwerlich bezeichnen, da, wenn man einmal Jean-Jacques Rousseau umformuliert, für den zu Erziehenden keine Möglichkeit bleibt, die Früchte der erhaltenen Lehrstunde zu nutzen. Wie effektiv diese Maßnahmen für eine Verbrechensprophylaxe ist, ist eine schwierige Frage, auf die die zuständigen Spezialisten (Kriminologen, Psychologen u. a.) keine eindeutige Antwort haben.
Der Verfassungstext weist nicht die Umstände aus, deren Wirksamwerden erlaubt, gesetzgeberisch die Todesstrafe aufzuheben, und er schreibt umso mehr keine konkreten Fristen vor. Die Sprache der Verfassung sieht jedoch keine Verwandlung der zeitweiligen Ausnahme in eine ständige vor. In einigen Fällen, in denen die Verfassung die Regelung einiger Fragen dem Ermessen des Gesetzgebers überließ, der aber bummelte, erinnerte das Verfassungsgericht daran, dass die Jahre ins Land gehen und es an der Zeit sei, die höchste normsetzende Anweisung zu erfüllen.
Was die Todesstrafe angeht, sind für den abseitsstehenden Beobachter in der Entwicklung des Vorgehens des Verfassungsgerichts zwei Etappen auszumachen: 1999 hat das Gericht die Verhängung von Todesurteilen bis zur Bildung von Geschworenengerichten in allen Subjekten der Föderation verboten, um überall dem jeweiligen entsprechend dem „Erschießungsparagrafen“ Angeklagten das verfassungsmäßige Recht auf Behandlung seines Falls unter Beteiligung einer Jury (von Geschworenen) zu garantieren. Und im Jahr 2009 kam das Verfassungsgericht zu dem Schluss, dass es in Russland „ein komplexes Moratorium in Bezug auf die Anwendung der Todesstrafe“ gebe. Ein komplexes, da es aus dem Verbot für eine Vollstreckung von Urteilen (dem Russland bei seiner Aufnahme in den Europarat zugestimmt hatte) und aus dem Verbot für deren Verhängung besteht, wobei nicht nur auf der Grundlage des Beschlusses von 1999, sondern auch im Ergebnis der viele Jahre angewandten Praxis von Begnadigungen und der Ersetzung der Todesstrafe durch andere Strafen, aber auch infolge der Nichtanwendung solch einer Bestrafung durch die Gerichte.
1999 hatte das Verfassungsgericht seinen Beschluss ohne eine sichtbare Verbindung mit den Pflichten Russlands gegenüber dem Europarat gefasst. Und was da für welche Argumente im Beratungszimmer genannt wurden, haben Dritte nicht zu wissen. Die Entscheidung von 2009 war voller Verweise auf das internationale Recht, unter anderem auf Akte des Europarates. Hier ist aber eine Präzisierung erforderlich: Die europäische Menschenrechtskonvention räumt an und für sich eine Todesstrafe ein. „Niemand darf absichtlich getötet werden, außer durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.“ Ein teilweises Verbot, mit Ausnahme für Kriegszeiten oder einer „unmittelbaren Kriegsgefahr“, ist durch das Protokoll Nr. 6 zur Konvention vorgesehen worden, das Russland unterzeichnet, aber nicht ratifiziert hat. Jedoch schafft die Unterschrift unter dem Vertrag sich bestimmte Pflichten. Und bis zu einer Ratifizierung oder der Ablehnung dieser kann ein Staat keine Handlungen vornehmen, die grob und offenkundig dessen Bestimmungen verletzen. Die Beendigung der Beteiligung an der Konvention hebt für Russland gleichzeitig die Pflichten, wenn auch eingeschränkten, hinsichtlich des Protokolls auf.
Folglich endet ab 16. September dieses Jahres nicht nur das Moratorium für die Vollstreckung von Todesurteilen, sondern enden auch die teilweisen Pflichten hinsichtlich des Protokolls Nr. 6? Ganz und gar nicht.
Die Sache ist die, dass das Verfassungsgericht durch seine Entscheidung von 2009 das komplexe Moratorium von den internationalen Pflichten losgelöst hatte, wobei es sie lediglich zum Teil der Grundlagen für eine Nichtanwendung der Todesstrafe rechnete. Es hatte konstatiert, dass „sich ein legitimes verfassungsrechtliches Regime, in dessen Rahmen ein unumkehrbarer Prozess erfolgt, der auf eine Aufhebung der Todesstrafe als ausschließliches Strafmaß abzielt, einen zeitweiligen Charakter trägt und sie nur im Verlauf einer bestimmten Übergangsperiode zulässt, nicht auf der Grundlage und nicht im Rahmen einer Umsetzung herausgebildet hat“, sondern nur „unter Berücksichtigung der völkerrechtlichen Tendenz und der Pflichten“, die von Russland übernommen wurden. Außerdem haben sich nach Meinung des Verfassungsgerichts „stabile Rechtsgarantien, keiner Todesstrafe ausgesetzt zu werden, herausgebildet“. Anders gesagt: Selbst bei Ausbleiben einer formellen Aufhebung der Todesstrafe durch deren Ausschluss aus der Strafgesetzgebung hat das Verfassungsgericht festgelegt, dass das verfassungsmäßige Recht auf Leben bereits die Garantie einschließe, dessen nicht durch die Behörden des Staates beraubt zu werden. Das Moratorium war durch den Verzicht der Verfassung auf die ausschließliche Bestrafungsmaßnahme ersetzt worden.
Kann man aber die „Erschießungs- bzw. Hinrichtungsbestimmungen“ des Strafgesetzbuches wiederbeleben? Und wie kann man dies bewerkstelligen? Man kann es. Man muss da lediglich das Verfassungsgericht davon überzeugen, seine Entscheidungen zu revidieren, selbst wenn sie gemäß Gesetz endgültige sind und unanfechtbare sind, damit es im Rahmen der Änderung seiner Rechtsposition die Garantien als keine immanenten, als instabile und den Prozess als einen umkehrbaren anerkennt. Oder man verabschiedet eine neue Verfassung, die eine Todesstrafe ohne jegliche Klauseln vorsieht.