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Kann die Pandemie eine Einschränkung der Bürgerrechte rechtfertigen?


Der Vorsitzende des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation Valerij Sorkin und der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates und ehemalige Präsident Dmitrij Medwedjew haben vor dem Hintergrund des Lockdowns programmatische Artikel veröffentlicht, in denen auf unterschiedliche Weise die Akzente in der Frage nach der Zulässigkeit einer Einschränkung der Menschenrechte im Interesse einer Bekämpfung des Coronavirus gesetzt worden sind. Unter Berücksichtigung dessen, dass immer häufiger offen der Misserfolg der Corona-Impfkampagne eingestanden wird, erlauben diese Artikel zu beurteilen, in welcher Richtung die Offiziellen die Situation zu ändern gedenken und was für Befürchtungen dies auslöst.

Sorkin merkte an, dass eines der wichtigsten Verfassungsprobleme für den Staat die Lösung des Widerspruchs zwischen der Pflicht, die Rechte und Freiheit der Bürger zu garantieren, und der Notwendigkeit, die nationale Sicherheit zu gewährleisten und die Gefahren abzuwehren, sei. „Die Gefahr eines willkürlichen Eindringens des Gesetzgebers in die Sphäre der verfassungsmäßigen Menschenrechte nimmt unter den Bedingungen einer Verstärkung der terroristischen Aktivitäten, sozial-ökonomischen und ökologischen Krisen und Pandemien zu“, ist er besorgt.

Während einer Krise „ergibt sich die große Versuchung“, den Weg einer Einschränkung der Bürgerrechte im Interesse des gemeinsamen Wohls zu gehen. Dieser Weg sei aber nicht immer ein richtiger, unterstrich Valerij Sorkin. „Auf jeden Fall, auch wenn man sich auf ihm bewegt, so nicht sehr weit und sehr vorsichtig“, rief er auf. „Die durch ein föderales Gesetz zu verhängenden Maßnahmen zur Bekämpfung von verschiedenartigen Gefahren – aktuellen und potenziellen – müssen durch einen Schutz der verfassungsmäßigen Werte gerechtfertigt, dem Grad der Gefahr für diese Werte proportional (angemessen) sein und dürfen nicht zu einer Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten führen“.

Ex-Präsident Medwedjew formuliert die Prioritäten in einer entgegengesetzten Art und Weise. „In bestimmten Situation werden die öffentliche Sicherheit und das soziale Wohlergehen der gesamten Bevölkerung wichtiger als eine Einhaltung der Rechte und Freiheiten des einzelnen Bürgers. Der Schutz der Mehrheit ist ein fundamentales Prinzip der Demokratie. Ob dies einem gefällt oder nicht“, schreibt er buchstäblich als eine Erwiderung auf die Anmerkungen Sorkins.

Der stellvertretende des russischen Sicherheitsrates gesteht ein: Die Nötigung zur Vakzinierung ist ineffizient. Daher sei Russland den Weg der Freiwilligkeit in Sachen Impfung gegangen, wobei es sie nur für einzelne Kategorien von Bürgern zu einer obligatorischen machte (wobei diese zahlenmäßig sehr große in Bezug auf die Bevölkerungszahl des Landes sind – Anmerkung der Redaktion). Er präzisiert aber: Eine signifikante Beeinträchtigung der Rechte der Nichtgeimpften – die Entsendung ins sogenannte Home-Office, eine Suspendierung von der Arbeit mit Menschen, die Verringerung der Auszahlungen – sei möglich. „Die verursacht zweifellos eine bestimmte Segregation entsprechend dem Merkmal „geimpft“ oder „nicht geimpft“. Solche Maßnahmen sind jedoch recht effektiv. Und bei den meisten stoßen sie auf Verständnis und Unterstützung. Eine Vervollkommnung der Gesetzgebung in diesem Bereich ist jene Herausforderung, auf die unser Staat noch eine Antwort zu finden hat. Und, es sei direkt gesagt, solch eine Antwort wird vom Grad der Bedrohung für die öffentliche Sicherheit, die die Pandemie verursacht, abhängen müssen“, warnt er unverblümt.

Die akute Situation im Zusammenhang mit COVID-19, ausgelöst durch das unzureichende Vakzinierungstempo, zwingt die Offiziellen, Wege für eine Verhinderung der Verbreitung des Virus zu suchen. Es besteht eine harte Einschränkung seitens Präsident Wladimir Putin, die von ihm mehrfach unterstrichen wurde: Man dürfe die Impfungen nicht zu zwangsweisen für alle machen. In der letzten Zeit redet man viel von einer Revision und Verstärkung der Informationskampagne über die Notwendigkeit einer Vakzinierung. Doch scheinbar rechnet man wenig mit einer signifikanten Wirkung solcher Entscheidungen. Die weitere rechtliche Diskriminierung der Ungeimpften, wobei man sie bei einer formellen Wahrung der Freiheit einer Auswahl faktisch zwingt, sich impfen zu lassen, ist eine Form, die Einschränkung des Präsidenten zu umgehen, indem man sie hinsichtlich der Buchstaben erfüllt. Darüber hat man noch vor Medwedjew gesprochen. Der Ex-Präsident aber hat wohl erstmals diesen Gedanken so eindeutig dargelegt und begründet. Dennoch können die Präzisierungen Sorkins, die offenkundig vom Geist her der Position des Präsidenten näher kommen, das Bestehen bestimmter Differenzen bezüglich dieser Frage belegen.