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Kasachstan muss die Notbremse ziehen


Die Offiziellen Kasachstans bereiten sich darauf vor, ab dem 5. Juli das Regime eines Lockdowns zu verhängen. Die epidemiologische Situation ist eine katastrophale. Allein am 1. Juli wurden für die vergangenen 24 Stunden 1595 neue Fälle einer Covid-19-Infektion gemeldet. Insgesamt gab es laut Angaben des Gesundheitsministeriums von Kasachstan vom Mittwochvormittag 41.055 Infizierte, von denen 13.558 ausgeheilt wurden und 188 Menschen verstarben. Der Lockdown wird zu sehr ernsten Wirtschaftsproblemen führen, doch er ist scheinbar nicht zu umgehen.

Die ganze vergangene Woche wurden in Kasachstan täglich über 1.500 neue Fälle einer Coronavirus-Infektion registriert. Präsident Kassym-Schomart Tokajew beauftragte die Regierung, innerhalb von zwei Tagen Vorschläge zur Verhängung einer strengen Quarantäne analog zu der, die in der Republik vom März bis Mai galt, vorzulegen. Seinen Worten zufolge sei nach der Aufhebung der Quarantäne am 11. Mai die Zahl der neuen Fälle einer Coronavirus-Erkrankung um das 7fache angestiegen. Das Staatsoberhaupt gestand ein, dass „dies in Vielem mit den Mängeln in der Arbeit einer Reihe staatlicher Organe zusammenhängt“. Doch auch die Bevölkerung entspannte sich und hörte auf, die sanitären Normen einzuhalten. Tokajew betonte, dass in den Regionen ein akuter Mangel an Krankenhausbetten, medizinischem Personal sowie an Medikamenten und Ausrüstungen zu beobachten sei. 

Auf die Probleme Kasachstan reagierte Moskau. Die russische Regierung hat beschlossen, Kasachstan humanitäre Hilfe zur Bekämpfung der Epidemie bereitzustellen, schrieb Tokajew am Mittwoch in seinem Twitter-Account, wobei er der „obersten Führung Russlands für die rechtzeitige Entsendung von medizinischen Präparaten und Medikamenten“ Dank bekundete. 

Russland wird Kasachstan mit Medikamenten, Testsystem und Verbrauchsmaterialien helfen, aber auch Spezialisten zur Einrichtung von Infektionskrankenhäusern und Virusologie-Labors entsenden. Gemeinsame Maßnahmen zur Bekämpfung einer Verbreitung von Covid-19 erörterten die Premierminister beider Länder, Michail Mischustin und Askar Mamin, teilte der Pressedienst des Chefs des Ministerkabinetts der Republik Kasachstan mit. 

Die Frist, die Tokajew den Beamten zur Beurteilung der Situation und Treffen von Entscheidungen gesetzt hat, läuft Ende dieser Woche aus. Der neue Gesundheitsminister Alexej Tsoi stellte mehrere Szenarios für die Entwicklung der epidemischen Situation in Kasachstan vor. Der Minister ist sich sicher, dass nur ein Lockdown das Land vor einer Katastrophe retten könne. Andernfalls würden jeden Tag bis Ende August im Land jeweils 27.000 Infizierte registriert werden. Und viele würden eine stationäre Behandlung brauchen. Dafür muss die Regierung bis zu 300.000 Betten in stationären Einrichtungen vorbereiten. Während bei Verhängung eines Lockdowns für zwei Wochen lt. Berechnungen Tsois die tägliche Zunahme der Krankenfälle 7.000 Menschen ausmachen werden, für vier Wochen – 2.500 Menschen. Dementsprechend werde der Bedarf an Bettenplätzen insgesamt bis auf 274.000 zurückgehen. Alexej Tsoi schlägt vor, den Lockdown ab 3. Juli zu verhängen. Wie aber die Praxis zeigt, lösen die Prognosen des Gesundheitsministeriums bei den Einwohner Kasachstans große Zweifel aus. Das letzte Wort hat die zuständige staatliche Kommission. Gerade sie wird entscheiden, wie das Land ab den nächsten Tagen zu leben beginnen wird. Letzte Meldungen vom 1. Juli unter Berufung auf Tokajews Twitter-Account besagen, dass am 5. Juli der Lockdown für 14 Tage beginnen werde.

Wirtschaftsexperten berechnen bereits, welchen Schaden eine strenges Quarantäne-Regime der Wirtschaft Kasachstans zufügen werde. Eine neue Welle der Arbeitslosigkeit sei nicht zu vermeiden. Die erste nahm rund 700.000 Menschen die Arbeit. Wobei die Bevölkerung bereits vorgewarnt ist. Sie wird nicht mit einer Kompensation von 42.500 Tenge (rund 100 US-Dollar) rechnen könne, die im März und April die sozial schwachen oder arbeitslos gewordenen Bürger erhalten hatten. Ernsthafte Verluste wird auch der Haushalt der Republik einstecken müssen. Der Wirtschaftsexperte Aidar Alibajew ist der Auffassung, dass im Falle der Verhängung strenger Maßnahmen Kasachstan drei bis vier Millionen Arbeitslose erhalten werde, was beinahe die Hälfte der arbeitsfähigen Landesbevölkerung ausmache. „Vernichtet wurden 50 bis 60 Prozent des Kleinunternehmertums und Mittelstands. Die Einnahmen des Haushalts werden um 30 bis 40 Prozent einbrechen. Wie wird der Staat mit den sozialen und anderen Pflichten fertig werden, wenn selbst in den fetten Jahren unsere Beamten nichts für die Entwicklung des Landes tun konnten?“, fragt sich der kasachische Wirtschaftsexperte auf dem YouTube-Kanal „MaximUm“.

Der kasachische Politologe Dossym Satpajew bezeichnete den bürokratischen Apparat als Hauptursache für die Krise in allen Sphären. „Die reale Macht im Land besitzt der bürokratische Apparat, der auch unter Nursultan Nasarbajew viele verabschiedete und von oben verordnete Entwicklungsprogramme sabotierte. Diese Sabota wird auch unter Kassym-Schomart Tokajew fortgesetzt. Bei uns ist schon vor langem ein Widerspruch zwischen der sperrigen und großen Verwaltungshierarchie und dem dynamischeren äußeren Umfeld als ein Ergebnis der Ineffizienz der klassischen Verwaltungsstrategie aufgekommen. Letztere eignet sich mehr für ein stabiles und voraussagbares Umfeld, ist aber schlecht für dynamischere Veränderungen und außerordentliche Situationen unterschiedlicher Art einsetzbar. Das heißt, der bürokratische Apparat, den wir derzeit haben, ist a priori zu keiner schnellen Reaktion im Falle des Auftretens von Force-majeure-Situationen und – das Wichtigste – zu keiner operativen und effektiven Umsetzung von Antikrisen-Lösungen fähig“, sagte der „NG“ Dossym Satpajew. Seiner Meinung nach werden in Kasachstan ständig Krisen, ausgelöst durch verschiedene innere oder äußere Faktoren, auftreten. Daher wird das Fehlen einer qualitätsgerechten Szenario-Planung, eines effektiven staatlichen Antikrisen-Managements auf allen Ebenen – wie die Epidemie gezeigt hat — nur eine Zunahme der Proteststimmungen provozieren. „Es ergibt sich, dass nicht nur das neue Coronavirus gefährlich ist, sondern auch das alte Nomenklatura-Virus der Imitierung einer stürmischen Tätigkeit auf staatliche (und nicht nur) Kosten unter den Bedingungen jeglicher Krisensituation“, ist der Politologe überzeugt. 

Bei alle dem bereitet sich die Nur-Sultan auf Festveranstaltungen vor. Am 6. Juli werden die Einwohner und Gäste der Hauptstadt mit Feuerwerk und großen Volksfesten den Tag der Stadt und das Jubiläum von Jelbasy Nursultan Nasarbajew, der 80 Jahre alt wird, feiern. Informationen über eine mögliche Absage der Feierlichkeiten liegen bisher nicht vor.