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Kasachstan schafft ein besonderes Klima für Russland unfreundlich gesinnte Länder


Kasachstan wird eine Umsiedlung (Relocation) der ausländischen Unternehmen, die die Russische Föderation verlassen haben, gewährleisten. Im Kreml dramatisiert man diese Entscheidung nicht. Möglicherweise wird Kasachstan auch zu einem Kanal für eine Lieferung ausländischer Waren in die Russische Föderation. Dies wäre auch Europa recht. Nach Einschätzungen der in Moskau ansässigen Hochschule für Wirtschaftswissenschaften könnten die europäischen Hersteller zwischen die Skylla in Gestalt einer geringen Nachfrage und Charybdis in Gestalt der gestiegenen Rohstoffpreise geraten. Wie am Donnerstag Eurostat mitteilte, würde der Anteil der Russischen Föderation am europäischen Warenexport „ganze“ vier Prozent ausmachen. Dies sind aber dutzende Milliarden Euro. Für die Länder der EU wird eine teilweise Wiederholung des Szenarios von Sri Lanka zu einer weniger phantastischen.

Aus Russland weggegangene ausländische Unternehmen hat bereits Kasachstan im Blick. „Wir sind Zeugen eines globalen Ringens um Investitionskapital“, teilte am Donnerstag der Präsident Republik, Kassym-Schomart Tokajew, mit. Nach Aussagen des kasachischen Staatsoberhauptes „hat jedes zweite von fast 1400 großen ausländischen Unternehmen die Tätigkeit ausgesetzt oder hat vollkommen den russischen Markt verlassen“. „Die Regierung hat günstige Bedingungen für ihren Umzug nach Kasachstan zu schaffen“, betonte er. Tokajew ist sich sicher, dass dies Kasachstan gute Möglichkeiten für einer Aufstockung der Produktion von Waren der mittleren und hohen Klassen verschaffen werde. Freilich erfolge die Relocation nach seinen Worten bisher träge. Die Zitate von Tokajew hatten russische Nachrichtenagenturen und Medien verbreitet. Einige von ihnen präzisierten, dass die Erklärungen auf dem Telegram-Kanal des Pressedienstes des kasachischen Staatsoberhauptes veröffentlicht wurden.

Im Kreml bezeichnete man das Bestreben Kasachstans, Bedingungen für eine Ansiedlung der ausländischen Unternehmen zu schaffen, die Russland verlassen hatten, als ein normales. „Jedes beliebige Land versucht, bei sich komfortable Bedingungen für ausländische Investoren zu schaffe. Dies versuchen alle Länder zu tun, einschließlich unseres Landes. Eine andere Sache ist, dass gegenwärtig unter dem beispiellosen Druck von außen viele Unternehmen gezwungen sind, solche Entscheidungen zu treffen. Dies ist die Realität, mit der wir leben und arbeiten“, erläuterte am Donnerstag Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des Präsidenten der Russischen Föderation.

Wobei allem nach zu urteilen eine bestimmte Relocation Kasachstan nicht nur Unternehmen aus dritten Ländern, sondern auch Bürgern Russlands an sich gewährleisten wird. Wie Ende Mai die russische Nachrichtenagentur Interfax unter Berufung auf Angaben des Innenministeriums von Kasachstan meldete, hätten seit Beginn der russischen militärischen Sonderoperation in der Ukraine fast 36.000 Bürger Russlands in Kasachstan eine individuelle Identifikationsnummer erhalten. Und dies sei 16mal mehr als im analogen Zeitraum des vergangenen Jahres gewesen.

Es sei nicht ausgeschlossen, dass Kasachstan auch zu einem Kanal für den Transport ausländischer Waren nach Russland werde. „Es existiert die Möglichkeit der Lieferungen von Erzeugnissen über dritte Länder. Als solch ein Zwischenhändler kann sowohl Kasachstan als auch ein anderes Land, das sich nicht den antirussischen Sanktionen angeschlossen hat, auftreten“, erläuterte Anastasia Prikladowa, Dozentin an der Russischen G.-V.-Plechanow-Wirtschaftsuniversität.

„Der eigene Markt Kasachstans ist zu gering, als dass sich viele der Unternehmen, die Russland verlassen, auf ihn stützen. Folglich wird dies zu keiner Massenerscheinung. Obgleich, selbst wenn mehrere Unternehmen nach Kasachstan umziehen und dadurch den Zugang zum russischen Markt bewahren können, wird dies sowohl für sie als auch für die Republik von Vorteil sein“, meint der Experte des Unternehmens „IVA Partners“ Artjom Schachurin.

Wie am Donnerstag Eurostat mitteilte, hatte entsprechend den Ergebnissen für das Jahr 2021 der Anteil Russlands am Warenexport aus der Europäischen Union lediglich rund vier Prozent ausgemacht. Für die EU sind dies aber dutzende Milliarden Euro, deren Zufluss jetzt aufhört.

Beispielsweise ist laut Angaben des Bundesamtes für Statistik der Warenexport aus Deutschland nach Russland im Mai dieses Jahres um fast 51 Prozent im Vergleich zum Mai des Vorjahres zurückgegangen und belief sich auf 1,1 Milliarde Euro in diesem Monat. Obgleich im Vergleich zum April des Jahres 2022 der Export Deutschlands nach Russland um beinahe 36 Prozent oder unter Berücksichtigung des Kalenderfaktors und der saisonbedingten Schwankungen um etwa 29 Prozent gewachsen ist.

Das Amt fixierte im Mai einen wesentlichen Anstieg des Exports von Pharma-Erzeugnissen in die Russische Föderation und gleichzeitig einen drastischen Rückgang der Lieferungen von Maschinen und Ausrüstungen sowie Transportmitteln ins Land. Vor einigen Monaten hatte das Amt gleichfalls erklärt, dass der Exportrückgang sowohl durch die Sanktionen als auch durch die Entscheidungen der Marktteilnehmer verursacht wurde.

„Die Einfuhr nach Russland machte im Jahr 2021 fast 300 Milliarden Dollar aus. Rund die Hälfte der nach Russland eingeführten Waren (für etwa 145 Milliarden Dollar im Jahr 2021) waren Maschinen und Anlagen zusammen mit Metallfertigerzeugnissen. Mehr als die Hälfte des Imports entfiel im Jahr 2021 auf die Länder, die als unfreundliche eingestuft wurden, etwa ein Viertel – auf China, und ein weiteres Viertel – auf die restliche Welt“, teilte man im Zentrum für Entwicklung der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften mit. „Unter den unfreundlichen Ländern war der Hauptexporteur nach Russland Deutschland“, präzisierte man in dem Zentrum.

Im Endergebnis entfielen 20 bis 30 Milliarden Dollar im Jahr auf die Lieferungen aus Deutschland, urteilt man anhand der Angaben, die der stellvertretende Direktor des Zentrums für Entwicklung der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften, Valerij Mironow, gegenüber der „NG“ anführte, auf Frankreich und Italien – jeweils 10 bis 15 Milliarden Dollar im Jahr. Folglich könne sich, wie der Wirtschaftsexperte präzisierte, die Situation in den Ländern mit einer hohen Schuldenbelastung als schwierigste im Falle einer Zunahme der globalen wirtschaftlichen Instabilität erweisen, zum Beispiel in Italien.

„Polen exportierte im Jahr 2021 Waren für etwa sechs Milliarden Dollar nach Russland, was relativ wenig ist. Aber die Firmen dieses Landes hängen, wie auch überhaupt die der Länder Zentral- und Osteuropas in starkem Maße von der Situation in der Region ab, unter anderem von der Ukraine, wo sich ein wirtschaftlicher Einbruch vollzieht“, fügte der Wirtschaftsfachmann hinzu.

„Ein Teil der Waren aus Europa wird zweifellos weiterhin nach Russland entsprechend Schemas eines parallelen Imports gelangen, besonders jene, die die europäischen Unternehmen in anderen Regionen, insbesondere in Asien herstellten“, erwartet Schachurin. „Teilweise werden die Europäer augenscheinlich die Produktion drosseln müssen, insbesondere aufgrund der Verteuerung der Energieressourcen, der Düngemittel und Rohstoffe“.

„Wenn die europäischen Unternehmen kategorisch gegen eine Zusammenarbeit mit Russland auftreten, tendiert die Wahrscheinlichkeit der Realisierung von Lieferschemas über dritte Länder gen Null“, präzisierte Prikladowa. „In diesem Fall müssen die Warenströme auf andere Märkte umorientiert werden, was für jene Unternehmen zu einem besonders ernsthaften Problem wird, für die der russische Markt einer der Schlüsselmärkte gewesen war“.

„Die Haupteinfuhr nach Russland machten europäische Maschinen und Anlagen aus. Den Europäern wird es wohl kaum gelingen, unseren Markt zu ersetzen, da ein Rückgang der Nachfrage überall zu beobachten ist. Und auf dem asiatischen Markt dominiert China mit seinen Kapazitäten. Und die muss man auch auslasten, wobei ein hochtechnologisches Produkt realisiert wird“, meinte Michail Selzer, Experte des Investitionsunternehmens „BKS – Welt der Investitionen“.

Dabei wird es möglicherweise nicht einfach werden, innerhalb der EU diese Erzeugnisse umzuverteilen. Laut jüngsten Studien der Prognos AG ist Deutschland beispielsweise ein überaus wichtiger Absatzmarkt für Tschechien, Polen, Ungarn, Rumänien und die Slowakei. Vom Zustand der deutschen Wirtschaft hängen direkt die Perspektiven Zentral- und Osteuropas ab. Ja, und insgesamt erzeugen die EU-Mitgliedsstaaten 2,2 Prozent ihres Brutto-Mehrwertes (rund 290 Milliarden Euro) durch den Export nach Deutschland. Im Falle einer wesentlichen Reduzierung der Lieferungen russischer Energieträger nach Deutschland riskiert jedoch die Wirtschaft des Landes, in eine Rezession abzurutschen, was – wie man erwarten kann – auch deren Möglichkeiten verringern wird, unterschiedliche Erzeugnisse in den Nachbarländern einzukaufen.

Nach Einschätzung von Schachurin würden augenscheinlich einen Teil der Waren die wachsende Märkte Asiens und Südamerikas aufnehmen. „Dies betrifft aber vor allem Luxusgegenstände“. Wobei nach seiner Meinung die anfälligsten solche Branchen wie der Maschinenbau, in erster Linie der Schwermaschinenbau, der Gerätebau und die Flugzeugbauindustrie seien. „Am schwierigsten wird es, die Lieferungen solcher Waren auf „halblegale“ Art und Weise anzuschieben“, fügte der Experte hinzu.

Wie Valerij Mironow erläuterte, würden in der gegenwärtigen Etappe die europäischen Hersteller vorerst in stärkstem Maße durch die Zunahme der Rohstoffpreise leiden. Doch im Falle einer globalen Rezession „können sie zwischen die Skylla in Gestalt einer geringen Nachfrage und Charybdis in Gestalt der gestiegenen Rohstoffpreise eingezwängt werden“. „Die Sache ist die, dass bei einer Rezession in erster Linie und am stärksten die Investitionen zurückgehen. Und dies bedeutet die Einkäufe von Maschinen und Anlagen, auf die sich Europa spezialisiert hat“, erläuterte er. „Der Euro-Verfall gegenüber dem Dollar zeugt von Erwartungen des Marktes auf einen „Niedergang“ (möglicherweise eines vorübergehenden) gerade von Europa“.

Im Endergebnis würden bei einem Zusammentreffen all dieser Faktoren die größten Risiken für die Stabilität erstens die Staaten erleben, deren Energiesysteme in erheblichem Maße auf Erdgas basieren. „Italien, Ungarn, Deutschland, Griechenland, Belgien, Österreich, Spanien, Portugal, aber auch Großbritannien, das vor kurzem noch EU-Mitglied war, und dies ungeachtet dessen vorhandenen Gasfelder“, zählte Prikladowa auf.

Zweitens werde die Verschlechterung der Situation für die Wirtschaften jener Länder zu einer spürbaren, die am aktivsten mit Russland Handel betrieben hätten – „für Deutschland, Frankreich und Italien“, fügte Schachurin hinzu. Außerdem müsse man nach seinen Worten berücksichtigen, dass sich eine Reihe von Ländern Europas auch vor der gegenwärtigen Krise in einer schwierigen Situation hinsichtlich der Schuldenbelastung und der Arbeitslosigkeit befunden hätten. „Dies sind Spanien, Italien und Griechenland“.

Folglich könne nach Meinung der befragten Experten wohl keines der europäischen Länder in vollem Maße das Szenario von Sri Lanka wiederholen, jedoch seien dort politische Unruhen und Auswechselungen auf Führungsposten nicht gänzlich ausgeschlossen.

„Man muss begreifen, dass die Länder Europas eine weitaus größere Festigkeitsreserve als Sri Lanka besitzen, dessen Wirtschaft kritisch abhängig vom Tourismus ist (und vor dem Hintergrund der COVID-Pandemie ist der eingebrochen, was zu einer Verringerung der Einnahmen des Landes, zu einer Wirtschafts- und sozialen Krise sowie zu einem Machtwechsel führte – „NG“)“, erläuterte Schachurin. „Aber Unzufriedenheit und Straßenproteste werden wahrscheinlich in der einen oder anderen Weise ganz Europa erfassen. Irgendwo werden sie traditionsgemäß zu massenhafteren und aggressiveren wie in Griechenland und Frankreich werden, anderswo – zurückhaltender“.

Wobei Anlässe für Proteste in einigen Ländern auch die einheimischen Offiziellen selbst liefern, die „grüne“ Initiativen implementieren. So sind jüngst in den Niederlanden Landwirte auf die Straßen gegangen, wobei sie gegen die Regierungspolitik in Bezug auf Stickstoff (-Dünger) protestierten. Im Rahmen eben dieser Politik müssen sie wohl allem nach zu urteilen den Viehbestand in den Ställen und den Einsatz von Düngemitteln verringern.

Aber bei einer besonderen Hitze der Leidenschaften „wird die Polizei in der EU gewöhnlich nicht lange beim Niederschlagen solcher Aktionen herumfackeln. Folglich wird es wohl kaum zu einem Machtumsturz kommen“, urteilt Schachurin. „Aber Umbesetzungen im Rahmen der demokratischen Prozeduren haben bereits in Bulgarien, Großbritannien und Estland begonnen“, fügte er hinzu. „Augenscheinlich werden sie andauern. Auf jeden Fall läuft alles in Frankreich und Italien darauf hinaus. Und wahrscheinlich wird dies auch andere Länder tangieren“.