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Kiews Verzicht auf Lieferungen aus Russland kann Arbeit der ukrainischen AKW gefährden


Neue Handelsverbote schaffen für Russland und die Ukraine große Probleme. Der vollständige Verzicht Kiews auf jegliche russischen Lieferungen gefährdet die Arbeit der ukrainischen AKW. Und Russland verliert in diesem Jahr über 30 Prozent seines Exports, prognostiziert die Weltbank. Russische Unternehmer sind der Auffassung, dass vor dem Hintergrund der Blockierung der traditionellen Kanäle für Lieferungen die Bewahrung von 80 Prozent des Exportvolumens in den nächsten anderthalb Jahren für das Land ein großer Erfolg sein werde. Aufgrund der Sanktionen sind 40 Prozent des russischen Exports in Gefahr geraten. Doch eine Umorientierung der Lieferungen ist bereits im Gange. Die Ausfuhr von Erdöl über russische Häfen erreichte Anfang April maximale Werte im Vergleich zum Jahresbeginn, meldete die Nachrichtenagentur Bloomberg am Montag.

Das russische BIP könne sich in diesem Jahr um mehr als elf Prozent, vor allem aufgrund des Einflusses der ausländischen Handelsverbote verringern, sagt die Weltbank voraus. Der Export von Waren und Leistungen aus der Russischen Föderation werde in diesem Jahr um mehr als 30 Prozent einbrechen. Und der Rückgang des Exports werden auch in den weiteren zwei Jahren andauern. Der Konsum der russischen Haushalte verringere sich laut der Prognose der Weltbank in diesem Jahr um 8,5 Prozent.

Russlands Abhängigkeit von Lieferungen nach Europa und in die USA belegt unter anderem die Zollstatistik des vergangenen Jahres. Laut Angaben des Föderalen Zolldienstes entfielen über 38 Prozent des gesamten Exports der Russischen Föderation in einem Umfang von 492 Milliarden Dollar auf die Länder der Europäischen Union und weitere 5,7 Prozent auf die USA und Japan.

Nach Beginn des großangelegten Sanktionskrieges ist dieser russische Export in Gefahr geraten. Ein totales Verbot für einen Handel mit Russland haben die Länder des Westens bisher nicht verhängt. Doch sie bewegen sich faktisch in dieser Richtung, wobei sie regelmäßig den Sanktionsdruck auf die Russischen Föderation verstärken. Und Kiew hat bereits ein totales Handelsembargo gegen Russland verkündet und andere Länder aufgefordert, diesem Beispiel zu folgen.

„Heute haben wir offiziell eine vollständige Einstellung des Handels mit dem Aggressor-Staat verkündet“, teilte die ukrainische Wirtschaftsministerin Julia Swiridenko mit. „Von nun an können keinerlei Erzeugnisse der Russischen Föderation auf das Territorium unseres Landes eingeführt werden“. Eine strikte Einhaltung dieses Verbots bedeutet unter anderem eine Stilllegung der ukrainischen AKW. In Zu UdSSR-Zeiten errichteten Reaktorblöcke erfordern die Durchführung regelmäßiger Wartungsarbeiten mit einer Auswechselung von Bauteilen sowie Anlagen und Ausrüstungen, die heute nur in Russland hergestellt werden. In den vergangenen Jahren haben die ukrainischen AKW-Betreiber Umgehungskanäle für Lieferungen russischer Anlagen und Ausrüstungen für die Kernkraftwerke über Drittländer – Deutschland, Tschechien oder Estland – organisiert. Aber das Umladen von Technik aus einem LKW in einen anderen verwandelt die russischen Bauteile für die AKW nicht in estnische oder deutsche Erzeugnisse.

Ein deutsches und einige estnische Unternehmen liefern bereits sieben Jahre lang die erforderlichen Bauteile für die AKW. Sie sind aber nur Spekulanten, die an den ukrainischen Konzern „Energoatom“ russische Erzeugnisse verhökern, hat die deutsche Presse herausgefunden. Einen Großteil der Bauteile, die über deutsche und estnische Zwischenhändler geliefert werden, sind Nickel-Einlagen und -Dichtungen, Rohre, Ersatzteile für Pumpen oder Dichtungen für Dampfgeneratoren. Dies sind Erzeugnisse des Unternehmens „Tanais“ aus dem russischen Wolgodonsk. Folglich müsste man für eine strikte Einhaltung des von Kiew erklärten totalen Boykotts zuerst alle ukrainischen AKW außer Dienst stellen.

Jedoch sind bei weitem nicht alle bereit, den Aufrufen Kiews zu einem totalen Boykott russischer Erzeugnisse zu folgen. Die größten asiatischen Länder sind unter anderem bereit, russische Energieträger zu kaufen. So würden die Kohlelieferungen der russischen Unternehmen auf alternative Märkte umorientiert werden, erklärte der russische Energieminister Nikolaj Schulginow nach der Entscheidung der Länder der Europäischen Union, auf russische Kohle zu verzichten. Der Anteil der EU-Länder am Export russischer Kohle machte im vergangenen Jahr 21,8 Prozent oder 48,7 Millionen Tonnen Kohle aus, präzisierte der Minister. Freilich sagte er nichts, wie solche Umfänge transportiert werden sollen, angesichts der eingeschränkten Kapazitäten der russischen Transport-Infrastruktur für Exporte gen Asien.

Russlands Geschichte demonstriert, dass unser Land nur bei Vorhandensein eines guten Exports reich wird, konstatiert der Gründer der Stiftung „Freie Sache“, der Unternehmer Oleg Deripaska. Nach seinen Worten müsse man heute die russischen Erzeugnisse auf neue Märkte in Asien, Afrika und Lateinamerika bringen. Für das Anbahnen neuer Exportkanäle sind Schiffe, Lokomotiven, Häfen, Krananlagen und neue Transportkorridore, und dabei nicht nur in Russland, sondern auch in den potenziellen Ländern, die russische Erzeugnisse importieren, notwendig. Die Organisierung neuer Exportkanäle sei eine große Aufgabe, für deren Lösung mehr Arbeit erforderlich sei. „Entweder leisten wir dies innerhalb der nächsten vier, fünf Jahre, oder wir werden die nächsten zwanzig Jahre darben“, meint der Unternehmer. Nach seinen Worten „wird es ein großer Erfolg sein, wenn es in den kommenden 18 Monaten gelingt, zumindest 80 Prozent des Exports zu bewahren“.

Asien beginne, den Unwillen der Europäer, russisches Erdöl zu kaufen, zu kompensieren, meldete am Montag die Nachrichtenagentur Bloomberg. Der russische Rohölexport, der eine entscheidende Einnahmequelle Russlands ist, demonstriert keinerlei Anzeichen für einen Einbruch nach dem erklärten Verzicht der europäischen Käufer. Die Rohölströme aus der Russischen Föderation haben nach einer geringen Reduzierung in den ersten Wochen der von Präsident Putin befohlenen „edlen“ (Wladimir Putin am Dienstag auf dem Kosmodrom „Wostotschnyj“ – Anmerkung der Redaktion) militärischen Sonderoperation in der Ukraine ihre bisherigen Umfänge wiederhergestellt. Die Lieferungen haben fast vier Millionen Barrel am Tag in der ersten Aprilwoche erreicht, was zu einem neuen Rekord seit Beginn des Jahres 2022 geworden ist, betont die Agentur. Das gleiche Bild wird auch hinsichtlich der Einnahmen aus den Exportzöllen für den russischen Haushalt beobachtet. In der ersten Aprilwoche sind sie ebenfalls auf einen Rekordwert für dieses Jahr hochgeschnellt. Laut Bloomberg-Berechnungen habe die russische Staatskasse rund 230 Millionen Dollar allein durch den Rohölexport per Tanker in der ersten Aprilwoche verdient. Eine immer größere Anzahl von Supertankern mit einem Fassungsvermögen von zwei Millionen Barrel bunkern russisches Erdöl von kleineren Tankschiffen im Mittelmeer und an anderen Orten, informiert Bloomberg.

Von den 21 Öltankern mit russischem Erdöl der Marke Urals, die aus Primorsk, Uts-Luga oder Noworossisk beladen in See stachen, sind sechs nach Indien unterwegs. Vier haben die Zielorte nicht ausgewiesen. Und die übrigen befördern ihre Fracht nach Europa, zitiert die Agentur Angaben mit Stand Anfang April.

„Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gelten gegen die Russische Föderation über 7.000 Beschränkungen im Handel“, erinnert Artjom Akderli, persönlicher Broker des Investitionsunternehmens „BKS Welt der Investitionen“. Bei einer Beibehaltung des Sanktionsdrucks seien nach seinen Aussagen zwei Szenarios möglich. Das negative Szenario bedeute einen Verlust von 65 Prozent vom Exportvolumen mit den sogenannten unfreundlichen Ländern oder 36 Prozent des gesamten Exports der Russischen Föderation. Und das positive Szenario – einen Verlust von 25 Prozent des Exportvolumens mit den unfreundlichen Ländern oder 14 Prozent des gesamten Exports von Waren und Leistungen der Russischen Föderation.

Für Russland scheint eine Neuausrichtung der Exportströme nach Asien eine durchaus logische Entscheidung zu sein und ist bereits zu einem Trend für andere Rohstoffwaren geworden. Dabei wird im II. und III. Quartal dieses Jahres das russische Erdöl mit einem großen Preisnachlass angeboten.