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Kirgisien prophezeit man ein Szenario à la Weißrussland


Die Parlamentswahlen in Kirgisien erfolgen am 4. Oktober unter den Bedingungen einer Wirtschaftskrise und einer Verschlechterung der epidemiologischen Situation. Um die Sitze im Jogorku Kengesh (kirgisisch: Oberster Rat, das Parlament) kämpfen 16 Parteien. Für den Wahlkampf haben sie insgesamt 550 Millionen Som (etwa 5,9 Millionen Euro) ausgegeben. Ein großer Teil der Wähler beabsichtig laut Umfragen für die Nummer 17 des Wahlzettels – „gegen alle“ – zu stimmen. Dies bedeutet, dass Kirgisien Unruhen und Auseinandersetzungen erfassen können. 

Präsident Sooronbai Dscheenbekow informierte sechs Tage vor den Parlamentswahlen das Oberhaupt der Russischen Föderation, Wladimir Putin, über die sich in Kirgisien in Vorbereitung befindliche Destabilisierung. Nach Auffassung des kirgisischen Staatschefs gehe die Gefahr vom Westen aus, der in Kirgisien über Nichtregierungsorganisationen (NGOs) agiere.

„In der Republik sind unterschiedliche Kräfte aktiv geworden, die gegen die Stabilität und Entwicklung unseres Landes sind. Sie versuchen sogar, die Souveränität Kyrgystans anzutasten und einen Keil in unsere Bündnisbeziehungen und strategische Partnerschaft zu treiben. Natürlich erlauben wir ihnen nicht (dies zu tun – „NG“). Ihnen wird dies nicht gelingen, denn die Unterstützung Russlands für uns ist das Wichtigste, etwas sehr Wichtiges, und ich danke Ihnen dafür“, sagte Dscheenbekow bei seinem Treffen mit Putin in Sotschi.

Der Generaldirektor des analytischen Zentrums „Strategie Ost-West“ Dmitrij Orlow sagte gegenüber der „NG“, dass Dscheenbekow die Versuche, die Situation in Kirgisien zu erschüttern, beunruhigen würden. Noch im vergangenen Jahr versprach USAID (United States Agency for International Development, zu Deutsch: Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung), 2,5 Millionen Dollar für ein Monitoring des Wahlprozesses sowie die Berichterstattung über die Abstimmung in den Massenmedien und sozialen Netzwerken bereitzustellen. Und das Monitoring erfolgt bereits. Im Verlauf des Wahlkampfs veröffentlichten Menschenrechtsorganisationen sogenannte prägende Umfragen, die zeigten, dass die Wähler bereit sind, „gegen alle“ zu stimmen. 

„Der Hauptunterschied der jetzigen Wahlen von den vorangegangenen besteht darin, dass eine harte, massive Agitation für ein Abstimmen „gegen alle“ erfolgt. Und es werden gleichfalls wahnsinnige Summen für den Kauf von Wählerstimmen bereitgestellt. Die NGOs werden Exit-Polls am Wahltag durchführen. Und wenn deren Ergebnisse nicht mit den Zahlen der Zentralen Wahlkommission übereinstimmen, werden Protestaktionen mit der Forderung, die Wahlergebnisse für gefälschte zu erklären, beginnen. Jetzt hängt alles davon ab, inwieweit Dscheenbekow als Kurator des Blocks der bewaffneten Organe die Situation kontrollieren kann“, meint Orlow. Moskau werde nach Meinung des Experten wohl kaum in die Situation eingreifen. Es brauche nicht noch einen Brennpunkt auf der Landkarte. Dscheenbekow habe ein einfaches und verständliches Ziel – ruhig die verbliebenen drei Jahre im Präsidentenkabinett abzusitzen. Den außenpolitischen Kurs gen Russland und Eurasische Wirtschaftsunion bekräftigte er noch einmal bei dem Treffen in Sotschi, wobei er Wladimir Putin „für die Unterstützung in den politischen und Wirtschaftsfragen“ dankte.

Die Parteien, die in das neue Parlament einziehen werden, halten sich ebenfalls an den eurasischen Kurs. Einen klaren Vorteil besitzen die den Herrschenden nahestehenden Parteien „Birimdik“ und „Mekenim Kyrgyzstan“. Wer den dritten und den vierten Platz einnehmen wird, ist eine große Frage. Die Oppositionsparteien gelten als Outsider und werden wohl kaum in das Jogorku Kengesh einziehen. Bemerkenswert ist, dass von den 120 Abgeordneten des seine Legislaturperiode beendenden Parlaments 85 um eine Wiederwahl kämpfen. Damit würde sich ergeben, dass die neue Zusammensetzung des Parlaments zu zwei Dritteln aus ehemaligen Abgeordneten bestehen wird, die sich durch nichts ausgezeichnet haben. Dies sei aber nicht das Wichtigste, meint Dmitrij Orlow. „Alles wird davon abhängen, wie sich die einen oder anderen Kräfte verhalten werden. Die Sache ist die, dass Kirgisien nicht Parteien, sondern Kräfte regieren. Unwichtig ist, ob sie innere oder äußere sind. Wichtig ist das Prinzip. Die Parteien sind in diesem Falle keine Verteidiger der Interessen des Volkes, sondern die Vermittler eben dieser Kräfte“, unterstrich der Experte.

Nach Meinung des ehemaligen kirgisischen Vizeaußenministers Askar Beschimow habe sich in Kirgisien das Parteiensystem diskreditiert. Man versuche, unter jeglicher Flagge und mit jeden beliebigen Versprechen ins Parlament zu gelangen. „Aber dies bedeutet nichts. Tatsächlich hat die Republik eine außenpolitische Priorität – internationale Zuschüsse und Kredite. Wir haben kein Geld, um unser Land zu unterhalten. Schon längst erfüllen wir unsere sozialen Pflichten auf Kosten von Kreditmitteln. Dementsprechend wird zu unserer außenpolitischen Priorität derjenige, der uns diese Gelder geben wird“, zitiert die russische Nachrichtenagentur Regnum Beschimow.

Derweil haben sich eine Reihe gesellschaftlicher Organisationen besorgt über die zunehmende Spannung in der Gesellschaft geäußert. Sie haben sich zum Gesellschaftlichen Sicherheitsrat vereinigt, den der Ex-Chef des kirgisischen Sicherheitsrates Marat Imankulow leitet. „Wenn die Wahlen ehrlich erfolgen, wird keiner zu Protesten kommen. Warum ist das Volk beunruhigt? Die Parteien, die jetzt Millionen für die Agitation ausgeben, haben nicht soviel Geld bereitgestellt, als die Kyrgysen zu Dutzenden während des Ausbruchs der Coronavirus-Pandemie im Juli starben“, erklärte der Jurist Schumabek Samsalijew auf einer Pressekonferenz in Bischkek. Seinen Worten zufolge haben die Führer mehrerer Parteien offen ihre Bereitschaft signalisiert, zu Protestaktionen auf die Straßen zu gehen, wenn die Wahlen nicht ehrlich stattfinden. „Wir wissen, wozu sie bereit sind. Wenn Sie an die Zukunft des Volkes denken, so führen Sie die Wahlen im Rahmen des Gesetzes durch“, appellierte er an die Herrschenden.

In der Zwischenzeit hat der Rat der Aksakale (eine Person in Kirgisien, die in ihrer Dorfgemeinschaft besonders respektiert wird und daher als Schlichter, Organisator und Kulturvermittler fungiert – Anmerkung der Redaktion) beschlossen, nach den Parlamentswahlen einen Volkskurultai durchzuführen. „Im Land hat sich eine Vielzahl von Problemfragen angesammelt. Jedes Dorf und jede Region sollen ihre Führer wählen und zur Volksversammlung entsenden, um alle ernsten Fragen auf friedlichem Wege zu lösen“, erklärte Berdibek Dschumabajew, Mitglied des Gesellschaftlichen Sicherheitsrates.