In der einmal im Monat in der „Nesawisimaya Gazeta“ erscheinenden Beilage zum Вrennstoff- und Energiekomplex „NG-Energia“ ist in dieser Woche ein Beitrag des verantwortlichen Redakteurs dieser Beilage, Oleg Nikiforov, über die neue Strategie für die energiewirtschaftliche Entwicklung Russlands veröffentlicht worden. Darin heißt es unter anderem:
Anfang April stellte das Energieministerium einen Entwurf zur Energiestrategie-2035 vor. Der Zeitraum für ihre Umsetzung ist in zwei Etappe aufgegliedert worden: die erste Etappe – bis 2024, die zweite – ab 2025 bis einschließlich 2035. Ausgearbeitet wurde der Entwurf für die energiewirtschaftliche Strategie durch das Institut für Energieforschungen, das Analytische Zentrum bei der Regierung der Russischen Föderation und dem Institut für energiewirtschaftliche Strategie im Auftrag und unter der Leitung des Energieministeriums Russlands.
Im konservativen Szenario sind die Hauptparameter der Basisvariante für die Prognose von Russlands Ministerium für Wirtschaftsentwicklung (von 2018) zu Grunde gelegt worden.
In diesem Szenario wurden unter anderem die 2014 verhängten Sanktionen der USA und der EU gegen den Banken- und Energiesektor Russlands berücksichtigt und ein Rückgang der durchschnittlichen Jahrespreise für Erdöl der Marke Urals bis auf 55 US-Dollar/Barrel im Jahr 2015 mit deren Rückkehr im Verlauf von fünf Jahren bis auf einen Stand von 80 US-Dollar/Barrel sowie einem langsamen Anstieg bis auf 95-105 US-Dollar/Barrel zum Jahr 2035 angenommen. Das Wachstum der russischen Wirtschaft – so die Erwartungen – wird ein moderates sein und in den Jahren 2015-2035 das 1,5fache oder im Durchschnitt alljährlich 1,9 Prozent in diesem Zeitraum ausmachen.
Die Zielsetzung des Szenarios impliziert eine vollständige Nutzung des Potenzials des Energiesektors und dies auf maximale Weise zwecks Beschleunigung des Wirtschaftswachstums und Anhebung des Wohlstands der Bevölkerung Russlands in Verbindung mit einer optimistischeren Prognose für die weltweite Nachfrage und internationalen Preise für Energieressourcen.
Unter Berücksichtigung der Synergieeffekte wird dies erlauben, das BIP des Landes im Zeitraum von 2015 bis einschließlich 2035 um das 1,9fache bei einem alljährlichen Wachstumstempo von 3,1 Prozent mit Erreichen eines jährlichen Wirtschaftswachstums um 4 Prozent im letzten Jahrzehnt des Prognosezeitraums zu steigern.
Es sei daran erinnert, dass die vorangegangene Fassung der Energiewirtschaftlichen Strategie bis zum Jahr 2030 (ES-2030) vor beinahe zehn Jahren, im Jahr 2009 bestätigt worden war. Im vergangenen Jahr beschloss das Energieministerium eine Verlängerung des Realisierungszeitraums für die Energiestrategie bis zum Jahr 2035. Die Notwendigkeit der Korrektur der Energiewirtschaftlichen Strategie Russlands wurde durch die Veränderungen im Land und in der Welt diktiert.
Es stellt sich die Frage: Wozu musste denn eine neue Energiestrategie ausgearbeitet werden? Auch wenn sich die Erzeugung, der Inlandsverbrauch und der Export primärer Brennstoff- und Energieressourcen insgesamt im Rahmen oder nahe dem prognostizierten Korridor der ES-2030 befinden, so gewährleistet aber die Entwicklung des Brennstoff- und Energiekomplexes (BEK) zur gleichen Zeit kein vollständiges Erreichen der Zielindikatoren der ES-2030, besonders der qualitativen. Und nach wie vor dauern die Probleme der staatlichen Energiepolitik an. So bleiben die alten Krankheiten des BEK (der hohe Verschleiß der Grundfonds, der geringe Grad der Energieeffizienz und der Effektivität der Investitionen im BEK sowie die Empfindlichkeit gegenüber den Schwankungen des internationalen Öl- und Gasmarktes) akute.
Strategien auf dem Prüfstand – welche macht das Rennen?
Außerdem ist es im zu untersuchenden Zeitraum nicht gelungen, einen Fortschritt bei der Erhöhung des Koeffizienten für die Ölausbeute und der Tiefe der Erdölverarbeitung zu erzielen. Mit einem Zeitverzug wird das für den Fernen Osten bestimmte Gasprogramm verwirklicht. Der negative Trend hinsichtlich der Zunahme des Anteils der schwer auszubeutenden Vorräte an Kohlenwasserstoffen sowie der Vorräte kleiner und abgelegener Felder hält an, was in der Perspektive zu einem Anstieg der Selbstkosten für die Förderung der Energieressourcen führen wird. In den Jahren 2009–2012 hat die Abhängigkeit der Wirtschaft Russlands vom BEK hinsichtlich dessen Anteil am Export (70 %), an den Einnahmen des föderalen Haushalts (50 %) und den Investitionen (40 %) zugenommen.
Bei der Analyse der verabschiedeten Strategie in der Fassung des Energieministeriums ist zu berücksichtigen, dass das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung parallel dazu Anfang des Jahres eine Strategie für die langfristige Entwicklung der RF bis zum Jahr 2050 mit einem geringen Niveau an Treibhausgasemissionen zwecks Abstimmung an föderale Behörden und Einrichtungen übergeben hat. Ausgearbeitet wurde das Dokument entsprechend der Regierungsanordnung № 2344-r vom 03.11.2016. Es muss gesagt werden, dass sich die Dokumente des Energieministeriums und des Ministeriums für Wirtschaftsentwicklung auf radikale Weise voneinander unterscheiden. Zweifellos muss man die Energiestrategie-2035 unter Berücksichtigung gerade der Vorschläge des Ministeriums für Wirtschaftsentwicklung analysieren, da auf die Energiewirtschaft in Russland über 80 Prozent der Treibhausgasemissionen entfallen. Wobei die meisten Emissionen Schweröl, Dieselbrennstoff und Steinkohle verursachen.
Somit ist die Klimastrategie auf eine Gewährleistung des Übergangs von Russland auf den Weg einer diversifizierten Wirtschaftsentwicklung ausgerichtet, die sich durch einen geringen Grad an Treibhausgasemissionen auszeichnet. Und in der sind zwei Hauptszenarios für eine kohlenstofffreie Entwicklung bzw. eine Entwicklung mit weniger fossilen Brennstoffen vorgesehen worden: ein Basisszenario, das als Grundlage angenommen wurde, und ein intensives.
Im Basisszenario geht es um eine großangelegte Erhöhung der Energieeffizienz der russischen Wirtschaft, eine vollständige Gewährleistung des Gleichgewichts bei der Wiederherstellung der Wälder, der Ausdehnung deren geschützten Flächen und eine signifikante Reduzierung des radikalen Holzeinschlags.
Die Entwicklung entsprechend dem Basisszenario aus dem Ministerium für Wirtschaftsentwicklung wird erlauben, das Aufnahmevermögen bzw. den Bedarf des russischen BIP in Bezug auf fossile Brennstoffe um 9 Prozent bis zum Jahr 2030 und um 48 Prozent bis zum Jahr 2050 (im Vergleich zum aktuellen Stand) zu verringern. Der Zielwert für den Umfang der Treibhausgasemissionen wird im Jahr 2030 zwei Drittel vom Stand des Jahres 1990 ausmachen, während das vorausgegangene Ziel drei Viertel im Vergleich zu diesem Jahr vorsah. Im Rahmen des Szenarios sind die Schaffung einer Rechtsgrundlage und einer für die technologische Transformation der Wirtschaft erforderlichen methodologischen Basis, die Implementierung nationaler Regelungen für die Treibhausgasemissionen sowie die Gestaltung eines Systems zum Klima-Monitoring vorgesehen.
Der Übergang zur Umsetzung des intensiven Szenarios für eine Entwicklung mit weniger bzw. ohne fossile Brennstoffe wird Russland erlauben, eine Karbon-Neutralität in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts und dies eher zu dessen Ende hin zu erreichen. Dieses Szenario sieht eine Steigerung der Stromerzeugung auf der Grundlage erneuerbarer Energiequellen (EEQ), aber auch eine großangelegte Elektrifizierung und Digitalisierung des Transportwesens sowie der technologischen Prozesse in den Industriebranchen, den Verzicht auf das radikale Abholzen von Wäldern und praktisch eine vollständige Erfassung der Wälder mit Hilfe von Brandschutzmitteln vor.
Interessant ist, wie führende Wissenschaftler und gesellschaftliche Organisationen auf die Vorlage der zwei Strategien – der energiewirtschaftlichen und der Klima-Strategie – reagierten.
Was meinen Ökologen dazu?
Der Generaldirektor des Zentrums für ökologische Investitionen, Michail Julkin, sandte beispielsweise seine kritische Analyse der Konzeption aus dem Energieministerium an die Redaktion von „NG-Energia“. Er schlägt vor, das Augenmerk auf das Wichtigste – auf die Ziele und Prioritäten — zu lenken. Er geht davon aus, dass Russland ein Großverbraucher aller Arten von Kohlenwasserstoff-Energieressourcen ist und einen der weltweit höchsten Werte für die Energieintensität des BIP aufweist. Russland ist aber auch ein großer (faktisch – der größte) Exporteur aller Arten fossiler Energieträger. Dies sei seiner Meinung nach ein Anlass, um sich Gedanken zu machen, und dies mit Blick auf die an Tempo gewinnende Dekarbonisierung der Weltwirtschaft – und in erster Linie der internationalen Energiewirtschaft – zwecks Abschwächung der Klimaveränderungen, die vor allem durch das Verbrennen eben dieser Kohlenwasserstoff-Energieressourcen ausgelöst werden.
M. Julkin ist der Auffassung, dass in der Strategie nichts gesagt worden sei, als ob es dies überhaupt nicht gebe. Freilich werde konstatiert, dass sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts in der internationalen und russischen Energiewirtschaft Prozesse vollziehen, die mit einer großen Wahrscheinlichkeit zu einer Veränderung des ausgewiesenen Verhältnisses an der Schwelle der 30er-40er Jahre führen werden. Aber weiter als diese Feststellung gehe es nicht. Im Gegenteil, daraus werde die Schlussfolgerung gezogen, dass die für uns günstige Situation, die sich an der Jahrhundertwende ergeben hat, bis zu den 30er-40er Jahren des gegenwärtigen Jahrhunderts andauern werde. Davon ausgehend sei das strategische Ziel bestimmt worden – die Festigung und Bewahrung der Positionen Russlands in der internationalen Energiewirtschaft für die Zeit bis mindestens 2035. Auf diesem Markt hat sich jedoch das Kräfteverhältnis verändert. Entwickelt sich die Nachfrage nach Energieressourcen nicht etwa aus einem Driver für das Wachstum zu dessen Hemmnis? Sind nicht neue mächtige Lieferanten von Energieträgern auf den Markt gekommen – die USA und EEQ? Russland als größter Exporteur fossiler Energieträger trage mittelbar Verantwortung für die Emission von 2 Milliarden Tonnen CO2 in den importierenden Ländern. Die Schlussfolgerung, die M. Julkin zieht, hängt damit zusammen, dass Russland diesen Export verlieren werde, sobald die importierenden Länder ihre CO2-Emissionen bis auf Null entsprechend den Zielen und Aufgaben des Pariser Klimaabkommens von 2015 reduzieren werden. Folglich habe Russland schon keinerlei 15-20 Jahre.
Sind unter diesen Bedingungen die Kohlenwasserstoff-Energieressourcen keine Driver des Wirtschaftswachstums und können sie diese auch nicht sein, sondern werden sie im Gegenteil zu einer Bremse für das Wirtschaftswachstum, indem sie immer mehr Ressourcen für sich abziehen und immer weniger Nutzen für die Wirtschaft und den Etat bringen? Folglich müsse also, so das Fazit des Ökologen, das Hauptziel nicht die Bewahrung der Positionen Russlands in der internationalen Energiewirtschaft im Rahmen der Ressourcen- und Rohstoff- sowie technologischen Struktur des zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts für die nächsten 15 Jahre um jeden Preis sein, sondern eine schnellstmögliche Dekarbonisierung der russischen Energiewirtschaft mit einem Vordringen auf neue, auf grüne Märkte zwecks Sicherung der Führungsrolle Russlands im Rahmen einer neuen Wirtschaftsform mit weniger Kohlenwasserstoffen.
Harsche Kritik an Ministeriumsstrategien
Vertreter der russischen Wirtschaft haben jedoch auch an der vorgeschlagenen Klima-Entwicklungsstrategie, die vom Ministerium für Wirtschaftsentwicklung unterbreitet worden war, harte Kritik geübt. Der Russische Industriellen- und Unternehmerverband (RIUV) hat den vom Ministerium für Wirtschaftsentwicklung vorbereiteten Entwurf einer Klimastrategie der Russischen Föderation bis zum Jahr 2050 nicht unterstützt, wobei er die Auffassung vertrat, dass er eine wesentliche Überarbeitung erfordere. Der RIUV hat unter anderem die Pläne nicht unterstützt, als nationales Ziel zur Verringerung der Mengen an Treibhausgasemissionen 67 Prozent vom Stand des Jahres 1990 unter Berücksichtigung der Emissionen und Absorbierung in der Forstwirtschaft und bei der Bodenbewirtschaftung im Vergleich zu dem früher erklärten Wert von 70 bis 75 Prozent vom Stand des Jahres 1990 festzulegen. Nach wie vor vertritt man im RIUV auch die Auffassung, dass Russlands Beitrag zur globalen Verringerung der Treibhausgasemissionen bereits der größte unter den Ländern sei, die das Pariser Klimaabkommen ratifizierten. Der RIUV hat gleichfalls den Vorschlag verworfen, in die Arbeitsprogramme der staatlichen Unternehmen (FSUU) und Entwicklungsstrategien der Unternehmen mit einer staatlichen Beteiligung, darunter in die Entwicklungsstrategie des Staatsunternehmens „Rosavtodor“, Maßnahmen aufzunehmen, die auf eine Entwicklung der Russischen Föderation mit weniger fossilen Brennstoffen abzielen. Derartige Maßnahmen würden nach Meinung des RIUV Risiken für geplante oder zu realisierende große Investitionsprogramme verursachen, da sie zu einer Revision der Investitionsprogramme führen könnten. Auch befürchtet der RIUV, dass diese Maßnahme zu einem Anstieg der Tarife für die Leistungen der Energie- und Transportunternehmen führen könne, was die Wettbewerbsfähigkeit der Abnehmer der Leistungen und der russischen Wirtschaft insgesamt negativ beeinflusse. Nach Meinung der Organisation impliziere der Entwurf des Ministeriums für Wirtschaftsentwicklung ökonomische Mechanismen zur Regulierung der Emissionen, darunter preisbildende. Dies verursache das Risiko einer zusätzlichen finanziellen administrativen Belastung für die Unternehmen.
Kritisiert wurde die Klimastrategie ebenso in einem Beschluss des Energieausschusses der Staatsduma der Russischen Föderation. Obgleich durch die russischen Parlamentarier betont wird, dass in der Strategie des Ministeriums für Wirtschaftsentwicklung als Hauptmethode zum Erreichen einer Entwicklung auf der Grundlage der Nutzung von weniger fossilen Brennstoffen die Erhöhung der Energieeffizienz genannt worden sei, seien aber keine konkreten Maßnahmen genannt worden, die realisiert werden können.
Das Wichtigste aber sei, wie die Parlamentarier meinen, dass im Strategieentwurf des Ministeriums für Wirtschaftsentwicklung keine Mechanismen zum Schutz der russischen Industrie, darunter der Branchen des BEK vor möglichen Sanktionen auf dem Gebiet der Treibhausgas-Vorgaben seitens der EU-Länder und anderer Länder, die Zoll-, regulatorische und andere Sanktionen gegen russische Exportgüter verhängen können, ausgewiesen worden seien.
Besonderes Augenmerk müsse im Zusammenhang mit den Fragen der langfristigen Entwicklung der Russischen Föderation bei einem geringen Umfang an Treibhausgasemissionen nach Meinung des Energieausschusses der Staatsduma der Entwicklung erneuerbarer Energiequellen (EEQ) geschenkt werden. Der Begriff „erneuerbare Energiequellen“ werde jedoch ausschließlich als Erzeugung von Solar- und Windenergie ausgelegt und erfasse nicht die Hydroenergetik, was dem Artikel 3 des föderalen Gesetzes № 35-FG „Über die Elektroenergetik“ widerspreche. Demzufolge aber werden neben der Solarenergie zum Begriff „erneuerbare Energiequellen“ auch die Windenergie und die Wasserenergie gerechnet. Im Strategieentwurf wird gleichfalls die Rolle der Kernenergetik unzureichend widergespiegelt, obwohl gerade diese den Hauptbeitrag zur Verringerung der Treibhausgasemissionen in Russland leistet, besonders in dessen europäischen Teil. Und der Anteil der Erzeugung von Kernenergie an der gesamten russischen Stromerzeugung beträgt immerhin 19 Prozent. Laut Angaben der Internationalen Energieagentur machte der Beitrag der internationalen Kernenergetik am Gesamtumfang der verhinderten CO2-Emissionen 12,5 Prozent im Jahr 2018 aus.