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KPRF plant Privatisierung des Nawalny-Elektorats


KPRF-Chef Gennadij Sjuganow setzt die Philippiken (leidenschaftliche Reden, aus dem Griechischen als Bezeichnung für Straf-, Angriffs-, Brand- oder Kampfreden – Anmerkung der Redaktion) gegen den Kreml, die Oligarchen und persönlich gegen den Präsidenten fort. Wladimir Putin kritisiert der Chefkommunist aufgrund der Weigerung, auf den offenen Brief mit der Warnung hinsichtlich der akuten Notwendigkeit eines Kurswechsels zu antworten. Die negative Reaktion des Pressesekretärs des Präsidenten, Dmitrij Peskow, hat Sjuganow nur angestachelt. Und jetzt droht er den Offiziellen mögliche Straßenunruhen an. Gerade in so einem Stil hatten in der letzten Zeit Alexej Nawalny und sein Team gearbeitet. Warum die Kommunisten zu Verfolgern der „Antiputin“-Taktik werden, weist die Soziologie aus. Die angenommene „Nawalny-Partei“ könnte bei den Wahlen auf neun Prozent der Stimmen kommen. Die wird es da aber nicht geben. Und die Stimmen müssen doch an irgendwen gehen. Experten sind der Annahme, dass die Linken derzeit den Versuch unternehmen, das generell oppositionelle Elektorat zu privatisieren, in dem auch die Nawalny-Vertreter dominieren. Letztere haben jedoch schon seit langem keinerlei „rote“ Linien mehr, während die KPRF doch eine System-Partei ist.

Das Moskauer Stadtgericht kehrte am 9. Juni zur Behandlung der Klage der hauptstädtischen Staatsanwaltschaft zwecks Einstufung aller Organisationen Nawalnys als extremistische zwecks Verbotes deren Tätigkeit auf dem Territorium der Russischen Föderation. Die Verhandlung erfolgte hinter verschlossenen Türen. Die Versuche der Verteidiger, Materialien des Falls der Öffentlichkeit preiszugeben, scheiterten. Objektiv war dies, wie es schien, für die Offiziellen unvorteilhaft. In den Medien wird ausschließlich die Interpretation des Geschehens verbreitet, die von den Nawalny-Vertretern kommt. Früher hätte dies den Kreml sicherlich beunruhigt. Jetzt sind aber andere Zeiten angebrochen. Den taktischen PR-Vorteilen des Gegners, den man bald politisch vernichtet, kann man auch keine Beachtung schenken.

Nach Aussagen der Anwälte vom „Team 29“, die die Nawalny-Strukturen verteidigten, hatte der Staatsanwalt beispielsweise erklärt, dass als eine extremistische Tätigkeit unter anderem das Sammeln von Mitteln zur Bezahlung der Strafen, die gegen bei Protesten festgenommenen Personen verhängt wurden, angesehen werde. Dabei ist nicht ganz klar, wenn man letztlich als Extremisten ansehen kann – nur jene, die Geld sammelten, oder auch jene, die es gegeben haben, oder sie alle „auf einen Streich“. Allerdings ist eines klar: Eine legale politische, darunter eine Wahlkampf-Tätigkeit in einer Verbindung zu Nawalny wird es schon nicht mehr geben. Jedoch haben der Oppositionspolitiker und seine Mitstreiter bereits über zwei Jahre lang an der Formierung eines eigenen Elektorats gearbeitet, das letztlich irgendeiner anderen politischen Kraft oder einer ganzen Gruppe solcher Oppositionskräfte zufallen müsste.

Vom Prinzip her ist dies auch eine mögliche Erklärung dafür, warum die regionalen Abteilungen der Kommunistischen Partei und alle roten Informationsressourcen den offenen Brief Sjuganows an den Präsidenten jetzt aktiv pushen. Ja, und er selbst hat auch wider die Gewohnheit beschlossen, nicht auf eine Antwort zu warten, sondern sie durch eine schrittweise Verschärfung seiner gegen die Herrschenden gerichteten Rhetorik zu bekommen. Dabei hat Sjuganow scheinbar beinahe die bisherige Tradition aufgegeben, Putin persönlich nicht anzutasten. Der Chefkommunist wirft dem Präsidenten direkt vor, dass er im Interesse des Großkapitals, wobei eher des Offshore-, denn des nationalen handele. Und die Armen würden derweil weiter verarmen.

Es sei daran erinnert, dass sich die Ereignisse so entwickelten: Seit Anfang letzter Woche, als auch der offene Brief auftauchte, vergaß Sjuganow nicht, ihn bei jeder passenden Gelegenheit zu erwähnen, wobei er die ganze Zeit wiederholte, dass die innenpolitische Situation eine katastrophale sei, die politischen Verfolgungen von Linken zunehmen würden. Aber sie würden dem Kreml dennoch vorschlagen, den alternativen Kurs von der KPRF wahrzunehmen.

Da Sjuganow keine Antwort erreicht, erteilt er in der Staatsduma der Präsidialadministration keine schmeichelnden Bewertungen: „Leider sitzen in der Administration des Präsidenten der Russischen Föderation „Könner“, die erneut die Bürger manipulieren und das Volk verdummen wollen. Unter den Bedingungen der Krise und der Sanktionen ist dies eine dumme und provokante Politik! Sie muss geändert werden“. Und er wirft den Innenpolitik-Kuratoren (aus dem Kreml – Anmerkung der Redaktion) die Versuche vor, der Kommunistischen Partei Spoiler unterzujubeln. Gerade da reagiert auch Peskow auf Sjuganow: „Die Erklärungen über Manipulationen bei den Wahlen unter Beteiligung der Präsidialadministration sind beleidigende. Sie sind zu ernsthaft, um pauschale zu sein“. Und dies sei auch, wie Peskow präzisiert, die einzige mögliche Reaktion des Kremls. Der KPRF-Vorsitzende erklärt jedoch weiter: „Die Herren Oligarchen, die müssen Schlussfolgerungen ziehen. Die Spannung im Land nimmt zu. Man kann sie auf zwei Wegen lösen. Entweder auf der Straße, was es bei uns schon mehrfach gegeben hat. Oder durch den Stimmzettel bei den Wahlen. Wir schlagen eindringlich vor, unsere konkreten Vorschläge und meinen offenen Brief an alle Bürger und an den Präsidenten zu erörtern. Und eine friedliche, eine demokratische Lösung dieses Problems zu finden. Wir sind dazu bereit“. Das heißt: Sjuganow droht den Offiziell direkt mit Straßenunruhen, obgleich sich bis dahin die Kommunisten gehorsam alle COVID-Restriktionen untergeordnet hatten.

Es ist klar, dass dies Wahlkampfrhetorik ist. Aber durch was ist ihre Hals über Kopf erfolgende Radikalisierung ausgelöst worden? Die Antwort kann man im Telegram-Kanal des Leiters des analytischen Dienstes der KRF Sergej Obuchow finden. Dies sind die Daten einer Mai-Umfrage des Zentrums für die Erforschung der politischen Kultur Russlands, die aus irgendeinem Grunde immer noch nicht vollkommen veröffentlicht worden sind. Aus dem Teil, der veröffentlicht wurde, wird ersichtlich: Für eine hypothetische „Nawalny-Partei“ sind fast neun Prozent derjenigen bereit zu stimmen, die an den Wahlen teilnehmen wollen. Die Partei „Neue Leute“ und die Russische Partei der Rentner für Gerechtigkeit kommen auf jeweils drei Prozent. Für die Kremlpartei „Einiges Russland“ sind 32 Prozent, für die KPRF 16 Prozent, die LDPR hat elf Prozent und „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ neun Prozent. „Es ist klar, dass es keinerlei „Nawalny-Partei“ in den Listen geben wird. Eine der Intrigen der anstehenden Wahlen ist: Für wen stimmen die neun Prozent, die abstimmen wollen, in den Listen aber nicht die „Nawalny-Partei“ vorfinden? Durch dieses Prisma schauen wir auf die ganzen Aktivitäten zur Bekämpfung der „ausländischen Agenten“, verfolgen wir die Aktionen der Gerichte und Rechtsschutzorgane gegen die Aktivisten der Systemparteien usw.“, betonte Obuchow.

Allem nach zu urteilen, zeugt die Rhetorik Sjuganows davon, dass die Kommunisten gern das Erbe Nawalnys privatisieren würden. Alexej Kurtow, Präsident der Russischen Vereinigung politischer Konsultanten, ist allerdings der Annahme, dass sie sich wahrscheinlich nicht auf das generelle Protest-, sondern auf das eigene linke Elektorat konzentrieren würden. Nach seiner Meinung sei die KPRF für die „erzürnten Städter“ eine zu konservative Partei. Und dieser Wähler werde nicht zu den Konservativen wechseln. Und obgleich augenscheinlich doch ein Teil der KPRF zufallen werde, werden jedoch „die Kommunisten einerseits stets zu den Wahlen aktiviert werden, andererseits aber verstehen sie es ausgezeichnet, sich zum nötigen Zeitpunkt selbst einzuschränken“. „Obwohl es theoretisch für die Herrschenden vorteilhafter wäre, dass die Protestler zur KPRF gehen, denn die Kommunisten sind eine voraussagbare und verständliche Partei“, merkte Kurtow an.

Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow konstatierte, dass „bei weitem nicht Nawalny den Radikalismus, das Contra-Positionieren und den Populismus erfunden hat“. Der Experte betonte, dass es für die Radikalisierung der Rhetorik mehrere Gründe gegeben habe. Erstens sei der KPRF-Chef darüber ungehalten, dass die Anzahl der Treffen mit dem Präsidenten abgenommen hat. Und zweitens habe die Wahlkampfkampagne begonnen. Und die KPRF bemühe sich, als die wichtigste oppositionelle Partei auszusehen. „Drittens gibt es das Ziel, eine konsolidierte Position der KPRF zu zeigen. Eben daher solidarisiert sich Sjuganow sozusagen mit Raschkin und den anderen radikalen Kommunisten“, erläuterte Kalatschjow. Nach seinen Worten „ist die Soziologie der KPRF mit den Daten anderer Meinungsumfragen vergleichbar. Und deshalb muss man sich ihr ernsthaft gegenüber verhalten“. „Sjuganow bemüht sich zu zeigen, dass er zu mehr in der Lage ist als man von ihm erwartet. Schließlich würde sich bei einem weiteren Setzen nur auf das Kernelektorat die Anzahl der KPRF-Mandate wahrscheinlich verringern. Ergo gibt es das Ziel, zusätzliche Sitze durch das gesamte oppositionelle Elektorat zu bekommen. Und durch ein Reden über Stalin und Lenin gewinnst du nicht das städtische Elektorat. Jetzt aber gibt es einen Content für letzteres. Nunmehr wird alles von den Kommunikationskanälen abhängen. Wird eben jener Protestwähler die KPRF und Sjuganow erhören“, unterstrich der Experte. Seitens der Herrschenden erwartet er keine unverzügliche Gegenwehr, sondern eine von der Situation abhängige. Und „obgleich vom Prinzip her ein Wechsel der generellen Proteststimmen weder zur Partei „Jabloko“ noch zur KPRF die Präsidialadministration verlegen macht, wird man sich dennoch sicherlich bemühen, das generelle Protestelektorat zu Hause zu lassen“.

Alexej Makarkin, 1. Vizepräsident des Zentrums für politische Technologien, erklärte der „NG“, dass die „Verschärfung der Rhetorik des KPRF-Chefs natürlich ein Gang zum generellen Protestelektorat ist“. Dabei führe die KPRF aber weiter ihr Spiel, wobei sie zwischen den Wählern und den Herrschenden balanciere. Ergo kopieren die Linken sowohl die Methodik Nawalnys, verzichten aber nicht auf die Invektiven (Beleidigungen oder Beschimpfungen – Anmerkung der Redaktion) an seine Adresse. „Die KPRF war stets ein Zentaur bzw. Kentaur geblieben. Aber während vor 20 Jahren der Protestteil drastisch geringer zu werden begann und sich der machttreue Teil erweitert, so versuchen die Kommunisten heutzutage, den oppositionellen Teil zu verstärken“, unterstrich der Experte. Makarkin sieht dafür objektive Ursachen. Das Elektorat der KPRF besteht aus drei Teilen – den Kernwähler bzw. das Kernelektorat, das periphere und die „erzürnten Städter“, das heißt die Nawalny-Anhänger. „Mit der Lage der Dinge im Land sind alle drei Teile des Elektorats unzufrieden. Alle drei haben ein Bedürfnis nach einer Radikalisierung. So hat das Kernelektorat ein starkes Unbehagen nach der Rentenreform und dem Anstieg der Preise verspürt, für das periphere ist der äußere oppositionelle Charakter der KPRF wichtig. Das generelle Protestelektorat hat die Wahl zwischen der KPRF und „Jabloko“. Und deshalb werden beide Parteien um dieses ringen“, erläuterte Makarkin. Dabei seien für die KPRF die Bedingungen für die Führung der Wahlkampagne sehr wichtig. Wenn es gelinge, sich mit dem Kreml über akzeptablere Bedingungen zu einigen, werde der Radikalismus wahrscheinlich heruntergefahren. Wenn aber die Offiziellen Kandidaten ausschließen werden, werde der Radikalismus zunehmen. „Hier wird das Signal interessant werden, das der Präsident den verschiedenen Parteien beim Treffen mit der gegenwärtigen Zusammensetzung der Staatsduma am 21. Juni senden wird. Anhand dieses wird man über die Haltung zur KPRF urteilen können. Auf jeden Fall aber wird Sjuganow die „roten” Linien nicht übertreten, obgleich er auch nicht vollkommen auf eine harte Rhetorik im Sinne einer Contra-Positionierung verzichten kann. Denn bei einer Beibehaltung des Setzens auf das Kernelektorat besteht das Risiko einer Verringerung des Ergebnisses der Partei bei den Wahlen. Wenn aber die Kandidaten von der KPRF beim „Smart Voting” dabei sein werden, wird möglicherweise ein Teil der Nawalny-Wähler automatisch auch für die Kommunisten-Liste stimmen”, erläuterte Makarkin.