Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Krankenscheine haben der russischen Wirtschaft über eine Billion Rubel gekostet


In Russland hat die Zahl der ausgestellten Krankenscheine drastisch zugenommen. Im Vergleich zur Zeit vor COVID-19 sind die Ausgaben des Sozialversicherungsfonds für die Krankenscheine für die Bevölkerung fast um das 2fache angestiegen. Der Fonds gab im vergangenen Jahr rund 500 Milliarden Rubel für die Bezahlung von über 40 Millionen Krankschreibungen aus. Wobei, wie im Sozialversicherungsfonds der „NG“ erläutert wurde, noch mehr Krankenscheine ausgestellt worden waren – 60 Millionen, schließlich werden bei einer langwierigen Erkrankung dem Versicherten mehrere Krankenscheine ausgestellt. Die Pandemie hat bewiesen: Die Krankheit ist ein Unglück für die Wirtschaft. Aufgrund der Zunahme der Erkrankungsrate und der Notwendigkeit, Quarantänemaßnahmen einzuhalten, haben sich Tage einer „Stillstandszeit“ ergeben. Die Verluste aufgrund dieser kann man unter bestimmten Vorbehalten mit mehr als einer Billion Rubel beziffern.

In der Regierung erweitert man die Liste der Menschen, die man vakzinieren kann und muss. Gesundheitsminister Michail Muraschko gab bekannt, dass „Experten die Genehmigung zum Einsatz des Impfstoffs „Sputnik Light“ für Personen über 60 Jahre erteilt haben“. Diesen verwendet man in erster Linie für eine Revakzinierung. Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa rief schwangere Frauen auf, sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen. Und der Leiter des Gamaleja-Zentrums Alexander Ginzburg rechnet damit, vom Gesundheitsministerium eine Genehmigung zur Vakzinierung stillender Mütter mit „Sputnik V“ zu erhalten.

Vor diesem Hintergrund geben Wirtschaftsexperten weiter neue Schätzungen hinsichtlich des Verlusts aufgrund der Pandemie, aufgrund der „Stillstandszeit“ sowohl einzelner Branchen als auch von Arbeitnehmern mit Krankenscheinen ab. Etwa die Hälfte aller Ausgaben des Sozialversicherungsfonds oder beinahe 511 Milliarden Rubel wurden im vergangenen Jahr für die Auszahlung von Krankengeldern eingesetzt.

Im Vergleich zum Jahr 2019 haben diese Ausgabe um 232 Milliarden Rubel oder um das 1,8fache zugenommen, teilte der Rechnungshof in seinem Gutachten zur Realisierung des Haushalts des Sozialversicherungsfonds im Jahr 2020 mit. Dabei hat die Zahl der Fälle einer Auszahlung von Krankengeldern im vergangenen Jahr die 40 Millionen überschritten. Dies sind, wie der Rechnungshof präzisiert, um 44 Prozent mehr als im Jahr 2019. So hatte der Fonds im Jahr vor COVID-19 weniger als 280 Milliarden Rubel (rund 38 Prozent all seiner Ausgaben) für die Auszahlung von Beihilfen für etwa 28 Millionen Fälle einer Arbeitsunfähigkeit ausgegeben.

Die Differenz zwischen den Jahren 2019 und 2020 beträgt rund 12 Millionen Fälle einer zeitweiligen Arbeitsunfähigkeit. Ergeben hat sie sich aufgrund mehrerer Ursachen. Vor allem ist offensichtlich, dass die hauptsächliche von ihnen COVID-19-Infektionen waren. So wurden im gesamten vergangenen Jahr rund 3,2 Millionen Personen festgestellt, die an dem Coronavirus erkrankten.

Der Rechnungshof führt aber nach dem Studium der Materialien des Sozialversicherungsfonds auch andere Erklärungen an. Die Zunahme der Ausgabe steht mit der Auszahlung von Beihilfen zusammen, die die arbeitenden Bürger im Alter von 65 Jahren und älter für die Zeit des Verweilens in einer Quarantäne erhielten. Für sie wurden im vergangenen Jahr rund 6,2 Millionen Krankenscheine bezahlt, teilten die Rechnungsprüfer mit.

Außerdem sind Krankenscheine den Bürgern ausgestellt worden, die aus dem Ausland zurückgekehrt waren, und den mit ihnen zusammenlebenden versicherten Personen. Es geht dabei um fast 33.000 Krankenscheine (obgleich zum Vergleich: Laut Angaben von Rosstat sind im vergangenen Jahr 12,4 Millionen Menschen als Touristen ins Ausland gereist.). Schließlich beeinflusste den Anstieg der Ausgaben die Festlegung der Höhe der Beihilfe auf einem Stand des Mindestlohnes, betonte die Rechnungsprüfer.

Wie man der „NG“ im Pressedienst des Rechnungshofs erläuterte, sind im Jahr 2020 Krankenscheine nicht nur Bürgern mit der bestätigten Diagnose „Coronavirus-Infektion“ ausgestellt worden, sondern auch denjenigen, bei denen der Verdacht darauf bestanden hatte, im Weiteren aber die Diagnose nicht bestätigt wurde.

„Außerdem gestaltete sich die offizielle Statistik im Zusammenhang mit den COVID-19-Erkrankungen erst ab Mitte des Jahres 2020“, präzisierten die Auditoren.

Im Pressedienst des Sozialversicherungsfonds fügte man hinzu, dass im vergangenen Jahr die Bürger, die aus dem Ausland gekommen waren, sich selbst für zwei Wochen zu Hause isolieren mussten und die Möglichkeit hatten, online einen Antrag auf die Ausstellung eines Krankenscheins zu stellen. „Jedoch waren nicht alle aus dem Ausland zurückgekehrten Menschen versicherte gewesen. Und dementsprechend wurden für sie keine Krankenscheine ausgestellt. Dies sind beispielsweise nichtarbeitende Bürger, Studenten, Rentner, Hausfrauen, Kinder“, erläuterte man im Fonds. „Es sei daran erinnert, dass diese Modalitäten ab dem 19. März bis 1. Juli des Jahres 2020 galten“.

Im Rechnungshof teilte man gleichfalls mit, dass sich die Zahl der Fälle einer Arbeitsunfähigkeit und die Zahl der ausgestellten Krankenscheine unterscheiden können. Der Sozialversicherungsfonds bestätigte: Bei einer langwierigen Erkrankung kann man für die jeweilige versicherte Person zwei, drei und mehr Krankenscheine in Folge bis zur Genesung ausstellen. Und all diese Krankenscheine stellen einen Versicherungsfall dar. Folglich wurden laut Angaben des Sozialversicherungsfonds im vergangenen Jahr insgesamt 60 Millionen Krankenscheine ausgestellt.

Aufgrund des häufigeren Beantragens von Krankenscheinen durch die Bürger Russlands haben sich sozusagen zusätzliche Tage einer „Stillstandszeit“ gerade aufgrund der Pandemie ergeben. Und man kann sagen, dass ein Tag „Stillstandszeit“ eines jeden Arbeitnehmers für die Wirtschaft seinen Preis hat. Der ergibt sich nicht nur aus den Ausgaben der unterschiedlichen Fonds und des Budgets für die Bezahlung der Krankenscheine, die Heilbehandlung usw., sondern auch aus den Kosten jener Waren und Leistungen, die der Arbeitnehmer hätte erzeugen bzw. erbringen können, wenn er gesunde gewesen wäre, aber letztlich nicht erzeugte bzw. erbrachte.

Natürlich gibt es eine Vielzahl von Einschränkungen hinsichtlich dessen, ob man den realen Schaden für die Wirtschaft aufgrund der Krankheiten der Bevölkerung abschätzen kann. Die Aufgabe ist eine schwierige und in Vielem eine umstrittene. Wenn es aber vom Prinzip her keinerlei Schätzungen gibt, wird dies auch zu einem Problem. Möglicherweise werden Entscheidungen, die man hätte treffen können, nicht rechtzeitig getroffen, da die Gefahren unterschätzt werden. Zum Beispiel Entscheidungen über eine Verbesserung der Zugänglichkeit nicht nur von Allgemeinmedizinern für die Bürger, sondern auch von hochqualifizierten Spezialisten, über eine Verbesserung der Ausstattung von Krankenhäusern usw.

Wenn man die Daten der Nicht-COVID-Periode bezüglich des BIP, der Anzahl der Beschäftigten und der Anzahl der Arbeitstage im Jahr zugrunde legt und berücksichtigt, dass Arbeitnehmer in Urlaub gehen und eine bestimmte Anzahl offiziell krank ist (mit Ausstellung von Krankenscheinen), kann man berechnen, dass jeder russische Arbeitnehmer an jedem real von ihm gearbeiteten Arbeitstag im Durchschnitt Waren und Leistungen im Wert von etwa 7.000 Rubel herstellt bzw. erbringt. Derart ist der ungefähre Orientierungswert.

Der Sozialversicherungsfonds teilte mit, dass sich die Zahl der bezahlten Tage aufgrund einer zeitweiligen Arbeitsunfähigkeit im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vor-COVID-Jahr 2019 um mehr als das Anderthalbfache oder um beinahe 186 Millionen erhöht habe. Dies sind auch jene „überzähligen“ Tage an Krankheiten und Quarantäne-„Stillstandszeiten“, die durch die Pandemie verursacht wurden. Und erneut kann man mit allen Vorbehalten berechnen, dass man in diesen „überzähligen“ Tagen der Arbeitsunfähigkeit der Bürger Russlands – nicht entlassene, sondern jene, die krank waren, sich in Quarantäne befanden und zeitweilig nicht arbeiteten – Waren und Leistungen im Wert von 1,3 Billionen Rubel hätte erzeugen bzw. erbringen können. So groß ist die Dimension des Problems.

Es sein noch einmal präzisiert: Die Berechnungen sind ungefähre. So müsse man nach Aussagen des Dozenten der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst Sergej Chestanow verstehen, dass die Bedeutung der Arbeitnehmer für die Wirtschaft eine unterschiedliche sei. Daher werde auch die Wirkung aufgrund ihrer Quarantäne oder Krankheit keine gleichartige sein. Dabei unterbreche, wie der Experte betonte, ein erheblicher Teil der hochbezahlten Arbeitnehmer auch bei einer Erkrankung oder während einer Quarantäne (beispielsweise IT-Spezialisten) nicht die Arbeit. „Viele arbeiten im Homeoffice. Außerdem erledigt ein Teil der erkrankten oder der sich in einer Quarantäne befindlichen Arbeitnehmer seine Arbeit wahrscheinlich später, in Absprache mit dem Arbeitgeber oder Kollegen“, fügte Chestanow hinzu.

Last and least unterscheidet sich die Politik des Ausstellens von Krankenscheinen in den verschiedenen Organisationen in starkem Maße. „Das Fazit ist: Es gibt keine einfache Methode zur Beurteilung der Verluste der Wirtschaft aufgrund von Krankheiten“, sagt der Experte. Und ein mechanisches Neuberechnen der Zahlen ohne Berücksichtigung all dieser Feinheiten könne zu nichtkorrekten Ergebnissen führen.

Dennoch könne man, wie die Direktorin des Wissenschafts- und Bildungszentrums für soziale Entwicklung der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst, Professor Ljubow Chrapylina, sagt, solche Berechnungen auch noch als einen Orientierungspunkt für den Wirtschaftsschaden nutzen. Die Expertin lenkt aber die Aufmerksamkeit darauf, dass beispielsweise die Einhaltung eines sozialen Abstands, einer Quarantäne oder Isolierung bei Verdacht auf eine Erkrankung unter den Pandemie-Bedingungen eine außerordentlich wichtige Maßnahme sei. Und wenn sie auch zu irgendwelchen Verlusten führe, so seien sie gerechtfertigte. Denn ohne eine Quarantäne und ohne die Ausstellung zusätzlicher Krankenscheine hätte die Situation zu einer noch schlimmeren werden können.

Es gibt aber natürlich auch jene, die derzeit aufgrund der Verschlimmerung chronischer Erkrankungen Krankenscheine ausstellen lassen. „Für diese Kategorien von Bürgern wurde die COVID-Zeit durch eine drastische Verschlechterung in Bezug auf den Erhalt medizinischer Hilfe geprägt, die aufgrund der großen Belastung der Ärzte, die für die Hilfe für COVID-19-Patienten eingesetzt wurden, eingeschränkt worden war“, betonte Chrapylina. Auf den Gesundheitszustand hat sich auch insgesamt die Stress-Situation ausgewirkt.

„Die Coronavirus-Pandemie hat die anderen Epidemien saisonbedingter Erkrankungen nicht aufgehoben. Außerdem haben sich die Ereignisse des vergangenen Jahres mittelbar auf das Wohlbefinden der Bürger ausgewirkt. Wir alle haben uns in einem Stress-Zustand befunden“, pflichtet Pawel Sigal, 1. Vizepräsident der Unternehmervereinigung „Stütze Russlands“, bei. „Es ist nicht erstaunlich, dass sich bei den Menschen chronische Erkrankungen verschlimmern, psychologische Probleme auftreten. Sicherlich ist dies auch zu einer Ursache für die Zunahme der Bitten um die Ausstellung von Krankenscheinen geworden“.

Wie aus den Erläuterungen von Ljubow Chrapylina folgt, hätten doch die zugenommene Arbeitslosigkeit, die Unterbrechungen der Produktionsprozesse und das Abreißen der Kette des Zusammenwirkens der Beteiligten der Wirtschaftsbeziehungen einen weitaus größeren Schaden der Wirtschaft zugefügt.

Die Pandemie hat aber anschaulich gezeigt, dass auch Krankheiten für die Wirtschaft zu einem Unglück werden und zu realen Verlusten führen, die dann zwingen, noch mehr zu sparen. Und der Zustand des Systems des Gesundheitswesens, seine Fähigkeit, operativ und qualitätsgerecht zu heilen und Komplikationen zu bekämpfen, werden zu Faktoren unter anderem auch für das Wirtschaftswachstum.