Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Kreml-Soziologen lieferten enttäuschende Patriotismus-Umfrage-Ergebnisse


Das kremlnahe Allrussische Meinungsforschungszentrum VTsIOM hat zu den Ergebnissen einer entsprechenden soziologischen Erhebung mitgeteilt, dass sich 92 Prozent der Befragten für Patrioten halten würden. Auf die Bitte jedoch, ein Ereignis der letzten zehn, fünfzehn Jahre zu nennen, das ein Gefühl von Stolz auf das Land ausgelöst habe, haben sich 34 Prozent schwergetan, irgendetwas Bestimmtes zu sagen. An bedeutsame Leistungen und Erfolge der Russischen Föderation im gleichen Zeitraum haben sich bereits 48 Prozent nicht erinnert. Unter Berücksichtigung der negativen Antworten und Weigerungen, den VTsIOM-Soziologen Auskunft zu geben, aber auch der Verringerung der Zahl der Befragten durch das VTsIOM, um zumindest irgendwelche annehmbare Ergebnisse zu demonstrieren, ähnelt dies einer kompletten Pleite. Überdies hat sich auch ergeben, dass diejenigen, die sich doch an etwas erinnerten, vom Wesen der Sache her lediglich die Thesen der propagandistischen Agenda des Staatsfernsehens nachplapperten.

Das Allrussische Meinungsforschungszentrum hat, indem es am 28. April die Ergebnisse der Umfrage „Patriotismus heute: lieben, sich sorgen und verteidigen“ veröffentlichte, noch einmal gezeigt, dass es sowohl mit der öffentlichen Meinung an sich als auch mit deren Untersuchung (vor allem durch kremlnahe Soziologen) Probleme gibt. Das erste sieht vor allem wie eine Nacherzählung der Thesen aus der staatlichen Propaganda aus. Das zweite ist nicht mehr als der Versuch, die eigenen soziologischen Manipulationen zu interpretieren. Zu solchen gehört vor allem die Verwendung der unzulässigen Formulierung „so und so viel Prozent an Bürgern Russlands“ anstelle des korrekten Begriffs „Befragte“. Dabei ist es äußerst traurig, obgleich auch bezeichnend, dass ihn das VTsIOM selbst im beschreibenden Teil seiner gewissen „Untersuchung“ zulässt.

Vom Prinzip her könnte man damit auch den Beitrag über die erneute „ausprägende soziologische Umfrage“ beenden, wenn es nicht die in ihr ausgewiesenen Daten geben würde, die gerade auch demonstrierten, dass eine Messung bzw. Bestimmung der patriotischen Stimmungen im Land ein recht gefährliches Unterfangen ist. Denn es ist schwer vorauszuahnen, ob es sich nicht in eine klassische „spiritistische Sitzung mit einer anschließenden Entlarvung“ verwandelt. Beim VTsIOM hat sich aber gerade dies ergeben. Gegenwärtig würden sich 92 Prozent der Befragten als Patrioten ansehen (in der Summe von 54 Prozent – unbedingt, 38 Prozent – eher ja), was freilich mehr ist als die gesamte Antwort aus dem Jahr 2020 – aber nur um ganze drei Prozent. Das heißt: Die am 24. Februar begonnene und international kritisierte Sonderoperation Russlands in der Ukraine, zu deren Unterstützung diese Umfrage wahrscheinlich auch veranstaltet wurde, hat keine besondere Zunahme von Patriotismus ausgelöst. Und es hat gleichfalls keinen besonders starken Rückgang unter jenen gegeben, die sich erlaubten, einen Nichtpatriotismus einzugestehen. Im Jahr 2020 machten sie insgesamt acht Prozent aus, und jetzt – fünf Prozent.

In der VTsIOM-Präsentation habe ich besonderes Augenmerk darauf gelenkt, dass sich das Begreifen des Sinnes von Patriotismus durch die Befragten verändert hat. Und hier hat sich eine Dynamik der Antworten gerade so ergeben, wie auch im Titel der Umfrage formuliert wurde. Es sind jene mehr geworden, die der Auffassung sind: „ein Patriot zu sein, bedeutet, sein Land zu lieben“ (50 Prozent gegenüber 47 Prozent vor zwei Jahren). An zweite Stelle liegt die These „arbeiten und handeln zum Wohle / für ein Prosperieren des Landes“ (50 Prozent anstelle von 44 Prozent). An dritter Stelle ist das Begreifen, dass „man sein Land vor jeglichen Angriffen und Anschuldigungen verteidigen muss“. Darüber sprachen schon keine 32 Prozent, sondern ganze 44 Prozent der Befragten. Die Thesen auf dem früheren dritten und fünften Rang – „Streben nach einer Veränderung der Lage im Land im Interesse der Zukunft“ und „die bitterste Wahrheit über das Land aussprechen“ – blieben bei ihren Werten – 34 bzw. 29 Prozent.

Der abschließende Teil des Reports zur VTsIOM-Umfrage löst aber Erstaunen aus. Erstens, weil die kremlnahen Soziologen mitteilen, dass im Weiteren Zahlen ausgewiesen werden würden, die nur von ganzen zwei Prozent der Befragten erhalten worden seien, wobei nicht erklärt wird, was denn mit dem Hauptteil der Befragten geschehen ist. Sind sie irgendwohin auseinandergelaufen? Und zweitens offenbart das VTsIOM da auch, was die öffentliche Meinung nach dem eigenen Verständnis darstelle. Sie erscheint lediglich als eine Reflexion der aktuellen propagandistischen Agenda. Auf die Frage danach, welche Ereignisse es in den letzten zehn, fünfzehn Jahren gegeben habe, die ein Gefühl von Stolz ausgelöst hätten, hatten beispielsweise jeweils 18 Prozent geantwortet, dass dies die Angliederung der Krim an Russland sowie die Anerkennung der Donbass-Republiken DVR und LVR durch Russland mit allen Konsequenzen bis hin zur sogenannten „Sonderoperation“ gewesen seien. Der Versuch herauszufinden, was für bedeutsame Leistungen und Erfolge das Land in den gleichen Jahren vorzuweisen hatte, führte zu den verkrampften Anstrengungen, sich an die Stärkung des Militär-Industriekomplexes und der Armee (acht Prozent), die Entwicklung der Raumfahrt und Kosmos-Forschung (sieben Prozent) sowie die Olympiaden und Siege bei ihnen (vier Prozent) zu erinnern. Solch einen Wert hatte auch der Beitritt der Krim und der Kurs auf eine wirtschaftliche Souveränität.

34 Prozent der Befragten taten sich schwer, ein Ereignis zu nennen, das bei ihnen Stolz ausgelöst hatte. Zusammen mit der Antwort „es gab kein solches“ (zwölf Prozent) machen fast die Hälfte jene aus, die möglicherweise selbst auch Patrioten sind, aber bezweifeln, dass solche Patrioten ringsherum seien, darunter auch unter den Vertretern der Machtorgane. Wenn man sich aber derartige Werte in Bezug auf die Frage nach Leistungen und Erfolge anschaut, so sieht die Situation da noch schlechter aus. 48 Prozent sagen, dass sie keine kennen würden, elf Prozent sind sich sicher, dass es sie auch nicht gegeben hätte. Und zusammen mit weiteren drei Prozent derjenigen, die zu freien Themen phantasieren, ergibt sich überhaupt, dass über 60 Prozent Russland auf eine merkwürdige Art und Weise lieben.