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Kremlnahe Soziologen veröffentlichen keine Umfrageergebnisse zur Teilmobilmachung


Seit dem Moment, als der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, die Teilmobilmachung für die militärische Sonderoperation in der Ukraine verkündete, ist fast ein Monat ins Land gegangen. All diese Zeit haben die beiden führenden soziologischen Organisationen des Landes – das Allrussische Meinungsforschungszentrum (VTsIOM) und die Stiftung „Öffentliche Meinung“ (FOM) – in einem normalen, in einem Standardregime gearbeitet, Umfragen und Untersuchungen durchgeführt. Dabei hat weder das VTsIOM noch die FOM keine Ergebnisse von Umfragen veröffentlicht, die unmittelbar der Teilmobilmachung gewidmet waren. Beispielsweise im Unterschied zu den Untersuchungen zum Thema der Referenda in den Donbass-Republiken DVR und LVR sowie in den Gebieten Cherson und Saporoschje.

Möglicherweise wurden auch Versuche unternommen, die Meinung von Russlands Bürgern hinsichtlich der Teilmobilmachung herauszufinden, nur sind die gewonnenen Ergebnisse nicht vorgelegt worden. Wahrscheinlich werden die Soziologen solche Umfragen im November durchführen, wenn, wie Präsident Putin in der vergangenen Woche erklärte, der Prozess bereits abgeschlossen sein dürfte. Vorerst aber, wenn man die Publikationen der beiden kremlnahen soziologischen Organisationen nimmt, zeugen lediglich indirekt die allwöchentlichen Monitorings der öffentlichen Stimmungen durch die FOM davon, dass sich im Land etwas Wichtiges ereignete. Die FOM-Untersuchungen fixieren bereits drei Wochen einen drastisch zugenommenen Grad an Besorgtheit: 69, 70 und 67 Prozent. Dabei wird nicht direkt erklärt, was eigentlich passierte.

Dies kann man als ein demonstratives Verschweigen bezeichnen, unter den russischen Realitäten aber – wohl kaum als ein merkwürdiges. Es gibt Erwägungen einer simplen Vorsichtigkeit. Das Reden über die Teilmobilmachung bedeutet augenscheinlich eine Erörterung sowohl der Sonderoperation in der Ukraine als auch der Angliederung neuer Territorien an Russland. Diese Themen sind von allen Seiten her mit gesetzgeberischen Dokumenten eines Verbotscharakters versehen worden. Der von Putin angeführte Staat hat sie in sehr enge Rahmen für mögliche Interpretationen gepresst. Im Ergebnis dessen begreifen weder Journalisten noch wahrscheinlich auch die Soziologen vollends, was für ein Grad von Freiheit bei der Erörterung solcher Themen zulässig ist, welche Formulierungen möglich sind, wie die Meinung der Menschen richtig zu übermitteln ist.

Es ist wahrscheinlich, wenn die soziologischen Institutionen Menschen anrufen, sie über die Teilmobilmachung befragen und mehrheitlich die Antworten „dafür“ erhalten würden, sie die Daten der Umfragen publizieren würden. Was ist aber, wenn die Antworten anders ausfallen? Der Besorgnis-Index der FOM deutet solch eine Möglichkeit an. Wenn die Umfrage keinen gesellschaftlichen Enthusiasmus ungeachtet der massiven Propaganda der staatlichen Medien fixiert, können die höchsten Führungsriegen Unmut an den Tag legen. Irgendwer wird auch ganz und gar sagen, dass solche Daten ein Fake seien. Und dieses Wort ist bekanntlich in den letzten Monaten in Russland für alle zu einem schrecklichen geworden, die sich mit der Verbreitung jeglicher Informationen befassen.

Es gibt Gründe zu denken, dass die soziologischen Institutionen in Russland gezwungen sind, sich gelinde gesagt am Willen der Herrschenden zu orientieren – der offenkundig deklariert wurde oder angenommen wird. Die vom Präsidenten verkündete Teilmobilmachung weist alle Merkmale für eine unpopuläre Entscheidung auf (in welchem Maße einer erzwungenen – ist eine andere Frage). Jegliche Herrschenden sind unter solchen Bedingungen daran interessiert, um alles so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen und einen unnötigen sozialen Rummel zu vermeiden. Soziologische Umfragen vermitteln doch nicht einfach diesen Rummel. Ihre Veröffentlichung ist imstande, ihn zu verstärken.

Die Menschen in der ganzen Welt glauben nicht sehr an den anonymen Charakter von Befragungen. Man kann annehmen, dass sich in Russland dieses grundlegende Misstrauen im letzten Jahr verstärkt hat. Jeglicher Mensch kann befürchten, dass man über ihn ein Dossier erstellt. Die Soziologen begreifen dies wahrscheinlich. Und unter diesen Bedingungen ist es recht schwierig, irgendwelche objektiven Daten zu solchen Themen wie die Teilmobilmachung zu gewinnen. Wenn gerade dies die Soziologen stoppt, so kann man sagen, dass sie gewissenhaft handeln. Denn das Bild von einer massenhaften Unterstützung für die Mobilmachung gerade so zu zeichnen, ist sehr einfach. Diejenigen, die dafür sind, werden es seltener ablehnen, mit den Soziologen zu sprechen.

Es ist naiv zu denken, dass die Herrschenden ohne die Veröffentlichungen des VTsIOM und der FOM keine Informationen über die Wirkung ihrer Entscheidungen erhalten. Die Soziologie für den „internen Gebrauch“ hat keiner gecancelt. Und möglicherweise wäre es politisch riskant, diese „internen“ Daten zu publizieren.