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Länder der einstigen UdSSR wurden von einer Emigrantenwelle aus Russland erfasst


Im vergangenen Jahr hat Russland die spürbarste Emigrationswelle seit dem Zeitpunkt des Zerfalls der Sowjetunion erlebt. Exakte Zahlen darüber, wie viele Menschen das Land verließen, gibt es keine. Das staatliche Statistikamt Rosstat sprach von 96.000 in der ersten Jahreshälfte (und verursachte mit dieser Zahl nur Unverständnis). Und Quellen, von denen viele in der Russischen Föderation bereits auf Forderung der Staatsanwaltschaft und anderer Institutionen blockiert worden sind, nannten Zahlen zwischen 150.000 bis 800.000 Menschen zum Sommerende hin. Die Statistik hinsichtlich der Emigration des Jahres 2022 kann man somit als einen Teil des politischen Streits ansehen. Freilich sind die Ende Dezember publik gewordenen Initiativen russischer Gesetzesgeber, gegen die Ausgewanderten und deren Arbeitgeber im Land mit steuerrechtlichen Mitteln vorzugehen, ein deutliches Indiz dafür, dass die Zahl eine sehr große und wirtschaftlich sensible ist. Und die damit verbundenen Verluste wurmen natürlich die Offiziellen, auch wenn dies offiziell nicht eingestanden wird.

Es macht im Übrigen Sinn, zwei Phasen der Emigration zu skizzieren. Der Start der ersten fiel auf das Frühjahr. Dies geschah sofort nach Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands gegen bzw. in der Ukraine. Für viele russische Bürger wurde sie zu einem Schock. Und die Auswanderung kann man als eine Reaktion auf die generelle Unvorhersehbarkeit – die politische, wirtschaftliche und soziale – bezeichnen. Ein Teil von Vertretern des gesellschaftspolitischen Lebens, von Journalisten und Vertretern der künstlerischen Intelligenz hielt es für notwendig, das Land zu verlassen, wobei sie Restriktionen für die Freiheiten und Möglichkeiten, so zu arbeiten, wie sie es gewohnt waren, befürchteten.

Einige der Ausgereisten gestanden ein, dass sie im Ausland gezwungen sind, von vorn alles zu beginnen, ihre Emigration war keine vorbereitete und vorab durchdachte.

Die zweite Phase fiel auf den Herbst. Und begonnen hat sie nach der Bekanntgabe der Teilmobilmachung (in deren Rahmen 300.000 Reservisten zum Militärdienst einberufen wurden – Anmerkung der Redaktion). Eine offizielle und nachprüfbare Statistik gibt es auch hier nicht. Es kursierten Informationen von hunderttausenden Ausgereisten, die bereits in den ersten Wochen beinahe fluchtartig das Land verließen. Dies waren Männer im Einberufungsalter, oft materiell gutgestellte, gebildete Einwohner von Städten. Ein Teil kehrte zurück, nachdem Wladimir Putin den Abschluss der Mobilmachungsmaßnahmen verkündete und die entsprechenden eingerichteten Einberufungspunkte geschlossen wurden. Ein Teil befürchtet nach wie vor eine neue Etappe der Mobilmachung und beeilt sich nicht, in die Heimat zurückzukehren. (Allein die Neujahrsansprache des Präsidenten und andere Statements russischer Offizieller der jüngsten Vergangenheit nähren die entsprechenden Befürchtungen. – Anmerkung der Redaktion). Im Herbst hatte es auch nicht wenige Meldungen gegeben, wonach man Männer nicht aus dem Land ließ, in Flughäfen zurückschickte, wobei man auf Anweisungen von Militärkommissariaten verwies. In Nordossetien, an der Grenze zu Georgien, hatte sich ein beispielloser Stau an der Grenzübergangsstelle gebildet. Die Menschen warteten dort in Autos mehrere Tage auf die Möglichkeit, das Land zu verlassen.

Einige Richtungen für die Emigrationen waren bereits vor der militärischen Sonderoperation klar geworden. Die Oppositionellen, deren Organisationen als extremistische, als illegale abgestempelt wurden, waren bereits im Jahr 2021 nach Georgien gegangen. Gerade dorthin, aber auch nach Kasachstan, Armenien, Aserbaidschan, Kirgisien und in die Länder des Baltikums sind Bürger Russlands im Jahr 2022 gegangen. Die Behörden Kasachstans, Georgiens und Kirgisiens teilten mit, dass sich viele Bürger Russlands nicht lange in ihnen aufgehalten hätten und in andere Länder weitergereist seien.

In Russland geschlossene Massenmedien ließen sich in Lettland und Deutschland nieder, von dort setzten TV-Kanäle und Hörfunksender den Sendebetrieb fort. Dort ist es aber auch zu einem Zwischenfall besonderer Art mit dem TV-Sender „Doschd“ („Rain“ bzw. „Regen“, der in der Russischen Föderation als ein ausländischer Agent gelabelt wurde). Die lettischen Behörden hatten dem Kanal die Sendelizenz nach den Worten eines der Moderatoren, die als eine Unterstützung für die russische Sonderoperation ausgelegt wurden, annulliert. Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des russischen Präsidenten unterstrich bei einer Kommentierung dieses Falls in einem Gespräch mit Journalisten, dass die ins Ausland Gegangenen eine Illusion von Freiheit gefunden hätten (https://ngdeutschland.de/moskau-und-riga-vereinigen-sich-in-den-bewertungen-fur-den-tv-sender-rain/). Wie dem auch immer sein mag, die Geschwindigkeit des Treffens der Entscheidung durch die lettischen Behörden belegt teilweise die Vorsicht und den Argwohn hinsichtlich der neuen russischen Einwanderer.

Die Emigrationswelle aus Russland hat unterschiedliche Bewertungen unter den europäischen Politikern ausgelöst. Einige (besonders aus den Ländern des Baltikums und Osteuropas) riefen auf, diesen Prozess zu regeln, Bürgern der Russischen Föderation Visa zu verweigern oder sie nur in besonderen Fällen auszustellen. Zu solchen Schritten haben auch die ukrainischen Offiziellen aufgerufen. Eine generelle Unterstützung hat dieser Vorschlag nicht gefunden. Aber Visa zu bekommen, ist für die Bürger Russlands nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation wirklich schwieriger geworden. Zum Teil aufgrund der bürokratischen Prozeduren, der Neuorganisierung der diplomatischen Vertretungen und Konsulate sowie der Sanktionsnuancen.

Die Auswanderung hat den aktiven und gebildeten Teil der Bevölkerung tangiert, der in den modernsten Wirtschaftssektoren tätig ist. Im Frühjahr versuchten die Offiziellen der Russischen Föderation, den Exodus von IT-Spezialisten zu stoppen, indem ihnen unterschiedliche soziale und wirtschaftliche Vergünstigungen versprochen wurden. Im Herbst bereits, aufgrund der Welle der durch die Mobilmachung ausgelösten Emigration waren im Parlament Ideen für eine Bestrafung oder für Restriktionen für jene, die das Land verließen, aber weiterhin für russische Unternehmen online arbeiten, zu vernehmen. Allerdings haben diese Gedanken bisher keine Gestalt in Form einer konkreten Gesetzesvorlage erlangt. Scheinbar haben sie auch im Kreml und in der Regierung bisher keine eindeutige Unterstützung gefunden. Die Offiziellen haben keinerlei Komplex von Maßnahmen, die auf ein Zurückholen von Bürgern Russlands aus dem Ausland abzielen, verabschiedet, wobei sie wahrscheinlich begriffen haben, dass dies ohne ein politisches Tauwetter unmöglich ist.

Auf die Emigrationsphasen haben die russischen Offiziellen unterschiedlicher Art uneinheitlich reagiert. Der bereits erwähnte Kremlsprecher Dmitrij Peskow erklärte im Frühjahr, dass er die Ausgereisten nicht für Verräter und Feinde Russlands halte. Viele von ihnen hätten nach seinen Worten „Angst bekommen und haben das Geschehen nicht verstanden“. Präsident Wladimir Putin vermied es bereits zum Jahresende, denen eine Charakteristik zu geben, die vor dem Hintergrund der Mobilmachung ausreisten, wobei er allerdings hinzufügte, dass einige von diesen Menschen möglicherweise Russland nicht für „ihr Land“ halten würden. Mehrere Duma-Abgeordnete und den Offiziellen nahestehende Vertreter des öffentlichen Lebens warteten mit anderen, radikaleren Wertungen und Vorschlägen auf – unter anderem eine Aberkennung der russischen Staatsbürgerschaft in Bezug auf die Ausgereisten. Diejenigen, die das Land während der Teilmobilmachung verließen, hat man von der Parlamentstribüne auch als „Verräter“ bezeichnet. Es ist also nicht zu übersehen, dass von offizieller Seite her eine Kampagne begonnen hat, um die neuen russischen Emigranten zu diskreditieren. Und eine erste Wirkung ist schon zu spüren.

Post Scriptum:

Über 75 Prozent der befragten Einwohner Armeniens erklärten, dass sie positiv dem Zustrom von Bürgern Russlands ins Land gegenüberstehen, folgt aus den Ergebnissen einer Untersuchung, die durch das Unternehmen MPG – der armenischen Vertretung der Gallup International Association – durchgeführt wurde. Auf die Frage „Im Zusammenhang mit den letzten Ereignissen trifft aus Russland eine große Anzahl von Menschen für ein zeitweiliges Wohnen und Arbeiten in Armenien ein. Wie stehen Sie diesem Umstand gegenüber?“ antworteten 40,1 Prozent „vollkommen positiv“ und weitere 35,5 Prozent „eher positiv“. „Eher negativ“ verhalten sich 10,5 Prozent, „gänzlich negativ“ – 11,7 Prozent. Und weitere 2,1 Prozent taten sich mit einer Antwort schwer. Außerdem sind laut den von dem Unternehmen veröffentlichten Angaben 79,9 Prozent der Befragten der Meinung, dass die Einreise der Menschen und die Verlegung von Business-Aktivitäten nach Armenien auf die eine oder andere Weise einen positiven Einfluss auf die Wirtschaft des Landes ausüben würden. 16,1 Prozent sind aber der Annahme, dass es eher oder eindeutig keinen positiven Einfluss geben werde. Mit einer Antwort taten sich vier Prozent der Befragten schwer. Daneben erwarten 68,2 Prozent auf die eine oder andere Weise globale Veränderungen der Weltordnung im Ergebnis der Ereignisse in der Ukraine.