Laut Angaben von Menschenrechtlern wurden im Verlauf der Protestaktionen, die sich in ganz Russland am 23. und 31. Januar, aber auch am 2. Februar ereignet hatten, um die 10.000 Personen festgenommen. Fast 800 von ihnen erhielten Ordnungsstrafhaften von bis zu 30 Tagen. Laut Gesetz haben all diejenigen, die auf Beschluss eines Gerichts gezwungen sind, die Haftstrafen in speziellen Haftanstalten zu verbüßen, ein Recht auf seelsorgerische Hilfe durch Geistliche. Wie jedoch eine Befragung von Vertretern religiöser Organisationen, die die „NG“ durchgeführt hatte, zeigte, haben lediglich Juden und Protestanten den Festgenommenen aktive Unterstützung gewährt.
Wie der Hauptmilitärrabbi Aron Gurjewitsch der „NG“ erzählte, sind Mitarbeiter der Föderation der jüdischen Gemeinden Russlands ab den ersten Festnahmen sowohl in die Kurzzeit-Haftanstalten als auch Sonderhaftanstalten gefahren. „Bei uns hat es stets solch eine Praxis gegeben“, teilte er mit. „Dieses Mal wurden einige der Rabbis damit konfrontiert, dass man sie ohne irgendeine Erklärung nicht zu den Gläubigen gelassen hatte. Ich verbinde dies jedoch nur mit der großen Anzahl von Festgenommenen. Denn wenn von uns ein Vertreter kommt, unterhält er sich mit dem Festgenommenen im Beisein eines Mitarbeiters der Einrichtung. Da es dieses Mal einen großen Ansturm von Festgenommenen gegeben hat, war es vom Prinzip her unmöglich, etwas Derartiges zu gewährleisten. Üblicherweise, wenn es keine mehreren hundert Menschen sind, sondern Einzelfälle, ergeben sich bei den Kontakten mit den Mitarbeitern der Kurzzeit-Haftanstalten keinerlei Probleme. Sie sind uns stets entgegengekommen, und wir haben unsere Gemeindemitglieder ruhig seelsorgerisch betreut“. Gurjewitsch merkte an, dass die Hauptaufgabe der Rabbi aus der Abteilung für das Zusammenwirken mit dem Föderalen Dienst für den Strafvollzug darin bestehe, „diejenigen moralisch zu unterstützen, die das erste Mal in solch eine nicht einfache Situation geraten sind“. „Dies ist unsere Pflicht. Zu unserer Aufgabe gehört ebenfalls, die Festgenommenen durch geistliche Literatur zu stärken. Wenn dies ein recht strenger Anhänger ist, so wird ihm geholfen, die religiösen Rituale zu befolgen und ihn mit koscheren Lebensmitteln zu versorgen. Und weil der Mensch wahrscheinlich nicht einfach so in die Kurzzeit-Haftanstalt oder Sonderhaftanstalt geraten ist, er entweder irgendwelche Anschauungen vertritt oder zu einem Opfer von Manipulatoren geworden ist, so werden mit ihm natürlich Gespräche geführt“, erläuterte der Rabbi.
Im Russischen vereinten Verband der Christen des evangelischen Glaubens betrachte man den Besuch von Festgenommenen als eine „heilige Pflicht“, erklärte der vorsitzführende Bischof Sergej Rjachowskij gegenüber der „NG“: „Die Struktur unserer großen Vereinigung ist in Diözesen, Assoziationen und lokale Kirchen aufgegliedert. Und die Hirten dieser lokalen Kirchen, sind verpflichtet, wenn ihre Gemeindemitglieder verhaftet worden sind, sie nicht aufgrund einer Nötigung, sondern aufgrund des Gewissens zu besuchen. Und sie besuchen die Gläubigen unabhängig davon, ob sie Recht hatten oder nicht, ob der Pastor mit deren Handlungen, politischen, gesellschaftlichen und sozialen Haltung einverstanden ist oder nicht“. Dabei betonte Rjachowskij, dass dieses Mal die Geistlichen in den Regionen eine große Aktivität an den Tag gelegt hätten. „In einer Reihe von Städten haben unsere Geistlichen aufgrund ordnungsrechtlicher Verstöße Festgenommene aufgesucht, ihnen Lebensmittel und alles Notwendige gebracht. Freilich, es gab nicht überall Begegnungen mit Festgenommenen. Aber in unserer Konfession gibt es Vertreter der GBK (gesellschaftliche Beobachterkommissionen zum Schutz der Menschenrechte in Zwangsvollzugsorten – „NG“), und ich weiß, dass sie zu Festgenommenen gelangen und mit ihnen sprechen konnten. Dabei ist nicht wichtig, ob es da diejenigen gegeben hat, die einer Hilfe seitens der GBK bedurften und aus unserer Konfession waren, oder ob dies Vertreter anderer Religionen waren“.
Sowohl Gurjewitsch als auch Rjachowskij betonten, dass es keinen Sinn mache, von Hunderten zu sprechen, die um Hilfe ersuchten. Deren gab es mehrere Menschen.
Die Gläubigen der anderen Traditionen hatten weniger Glück gehabt. In der Geistlichen Verwaltung der Moslems der Russischen Föderation antwortete man kurz auf die Anfrage der „NG“, ob Imame im Verlauf der nichtgenehmigten Januar-Aktionen Festgenommene aufgesucht hätten: „Nein. Und man hatte dies nicht geplant“, wobei erläutert wurde, dass es derzeit selbst in der Freiheit an Imamen in den Moscheen mangele. Dabei unterstrich man, dass diejenigen, die eine lange Haftstrafe erhalten haben, die Gefängnisimame doch aufsuchen würden.
Der Geistliche der Russischen orthodoxen Kirche Konstantin Kobeljew, der als Kaplan im Moskauer Butyrka-Gefängnis wirkt, erzählte der „NG“, dass jetzt gerade erst die Quarantänemaßnahmen, die aufgrund der COVID-19-Pandemie verhängt worden waren, aufgehoben werden: „Wir nehmen unseren Dienst wieder auf und fangen an, häufiger zu besuchen. Bisher aber sind wir noch nicht ganz auf dem Laufenden hinsichtlich aller Ereignisse“. Die „NG“ richtete eine Anfrage an die Synodalabteilung des Moskauer Patriarchats für die Arbeit in Strafanstalten, hat jedoch bis zum Redaktionsschluss keine Antwort erhalten.
Der Generalsekretär der Katholischen Bischofskonferenz von Russland, der aus Deutschland stammende Geistliche Stephan Lipke, betonte in einem Gespräch mit der „NG“, dass er spät von Festgenommenen erfahren habe. „Ich persönlich habe nur danach erfahren, dass es, besonders als man gerade angefangen hatte einzusperren, an Vielem gemangelt hatte. In Moskau aber hätte ich dennoch nicht gewusst, womit anfangen und an wen sich wenden, im Unterschied zu Petersburg, wo ich konkrete Menschen kenne. Jetzt aber habe ich begriffen, dass man zu derartigen Situationen bereit sein muss, wenn sich erneut solch ein Bedarf ergibt“, betonte der Vertreter der russischen Erzdiözese. Er berichtete, dass überhaupt das Institut der katholischen Gefängniskaplane in Russland bisher nicht entwickelt sei. „Ich weiß, dass vor der Pandemie mein Glaubensbruder Sebastian Prieto ein Gefängnis vor den Toren Moskaus seelsorgerisch betreute (und ich hoffe, dass er es nach der Quarantäne betreuen wird), wo es viele Lateinamerikaner gibt. Es gibt noch ein Gefängnis in Mordowien (auch: Mordwinien, eine russische Teilrepublik im europäischen Teil des Landes – Anmerkung der Redaktion), wo wir regelmäßig seelsorgerisch wirken“, resümierte Lipke.
Es sei daran erinnert, dass offiziell vor mehr als zehn Jahren offiziell Gefängnisgeistliche im heutigen Russland aufgekommen sind. Im März des Jahres 2010 war die Synodalabteilung des Moskauer Patriarchats für seelsorgerische Arbeit in Gefängnissen gebildet worden. Im Mai unterzeichnete der damalige Direktor des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug, Alexander Reimer, ein Kooperationsabkommen mit dem Rat der Muftis Russlands, im Juli – mit der Föderation der jüdischen Gemeinden Russlands und im Februar 2011 mit der Russischen orthodoxen Kirche. Die Initiative unterstützten Vertreter anderer Konfessionen, jedoch sind mit einigen von ihnen nach wie vor keine Abkommen unterzeichnet worden. Am 16. Dezember 2020 hat das Gerichtskollegium für administrative Verfahren des Obersten Gerichts der Russischen Föderation Beschlüsse von Gerichten drei vorangegangener Instanzen aufgehoben. Denen zufolge war die Ablehnung des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug, ein Abkommen über eine Zusammenarbeit mit dem Russischen vereinten Verband der Christen des evangelischen Glaubens abzuschließen, als legitim anerkannt worden. Nach dem jüngsten Beschluss aus dem Obersten Gericht kann also erwartet werden, dass Bewegung in diese Frage kommt. Und noch ein Problem, mit dem die Gefängnisgeistlichen konfrontiert werden, besteht darin, dass die Gefangenen selbst nicht immer wissen oder ahnen, dass sie bei einer Ordnungsstrafhaft das Recht auf einen Kontakt mit einem Seelsorger ihrer Religion haben. Wenn die jeweilige religiöse Organisation keine Initiative zeigt, bleiben die Gläubigen ohne eine geistliche Unterstützung.