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Lukaschenko antwortet mit Repressalien auf die Sanktionen


Die Sanktionen der USA betreffen die petrolchemischen Unternehmen Weißrusslands. Europa erstellt eine „Protasewitsch-Liste“ für die Offiziellen der Luftfahrt und bereitet kurzfristig ein viertes Sanktionspaket vor. Die Gefahr des Verlusts von Einnahmen und einer Wirtschaftskrise halten Alexander Lukaschenko nicht von Repressalien ab.

Am Donnerstag werden die Sanktionen der Vereinigten Staaten gegen neun weißrussische Unternehmen der Petrolchemie wirksam – gegen das „Weißrussische Erdölhandelshaus“, gegen „Belneftjechim“, „Belneftjechim USA“, „Belschina“, „Grodno Stickstoff“, „Grodno Chimvolokno“, „Lakokraska“, „Naphtan“ und „Polozk Steklovolokno“. Die Entscheidung über die erneute Inkraftsetzung dieser Sanktionen war bereits Mitte April gefällt worden. Den amerikanischen Unternehmen und Bürgern waren 45 Tage eingeräumt worden, um die Beziehungen mit jenen einzustellen, die unter die Sanktionen geraten waren.

Formell geht es um ein Verbot für eine Zusammenarbeit gerade für amerikanische Bürger und Unternehmen, faktisch aber werden die unter die Sanktionen geratenen weißrussischen Unternehmen zu toxischen für das gesamte internationale Business. Und die Zusammenarbeit mit ihnen blockiert die Möglichkeit für ein Agieren auf dem internationalen Markt. Wie mitgeteilt wurde, hat diese Gefahr selbst russische Lieferanten beunruhigt, die die Lieferung für „Naphtan“ eingestellt haben. Laut statistischen Angaben hat „Naphtan“ im vergangenen Jahr einen Erlös von über 2,5 Milliarden Dollar erzielt, mehr als 70 Prozent der Erzeugnisse des Unternehmens werden exportiert. Sein Produktionsstopp wird den Rückgang der weißrussischen Wirtschaft wesentlich beschleunigen, erklären weißrussische Wirtschaftsanalytiker. Keine solchen starken, aber auch spürbare können die Sanktionen gegen die anderen Unternehmen sein.

Europa, empört durch die erzwungene Landung des Ryanair-Flugzeuges in Minsk, hat die Gefährlichkeit des weißrussischen Regimes für die gesamte Region begriffen und bereitet mehrere Sanktionspakete vor. Das erste von ihnen ist die operative Reaktion auf die erzwungene Landung des irischen Jets und betrifft Beamte der Luftfahrt und die staatliche Airline „Belavia“. Wie die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf europäische Diplomaten meldete, würden Beamte des Verteidigungsministeriums, des Transportministeriums, Militärs aus der Führung der Luftstreitkräfte, ein Vertreter aus der Leitung des Minsker Flughafens, aber auch ein Beamter aus der Zivilluftfahrt unter Sanktionen geraten. Offiziell verankert wird das faktisch bereits auf EU-Ebene geltende Verbot für „Belavia“, Europa zu überfliegen und auf europäischen Flughäfen zu landen. Schon jetzt sind für die weißrussische Fluggesellschaft 21 Flughäfen geschlossen worden. Sollten diese Maßnahmen am Freitag bereits endgültig beschlossen werden, würden sie in der Nacht zum Samstag wirksam werden, schrieb am Donnerstag die Nachrichtenagentur Bloomberg. Der Politologe Dmitrij Bolkunez schrieb in seinem Telegram-Kanal, dass die USA die Abkommen mit Weißrussland über die Wartung von Flugtechnik suspendiert hätten. „Unter Berücksichtigung dessen, dass „Belavia“ mit Boeing-Flugzeugen fliegt, kann dies empfindlich sein“, konstatiert der Experte.

Der Erlös von „Belavia“ selbst im vergangenen Jahr, das aufgrund der Pandemie ein Misserfolg war, überstieg 200 Millionen Dollar. Durch die Einstellung von Flügen über Weißrussland wird auch „Belaeronavigazija“ Verluste erleiden, das bis zur Pandemie rund 70 Millionen Dollar durch Fluglotsenleistungen für ausländische Fluggesellschaften verdiente. Bisher ist unklar, ob das Verbot Transportunternehmen tangieren wird. Der Erlös des größten unter ihnen („Transaviaexport“) belief sich im vergangenen Jahr auf rund 28 Millionen Dollar. Experten lenken das Augenmerk darauf, dass das Flugverbot nicht nur direkte finanzielle Verluste für die Fluggesellschaften bedeutet. Ins Land, in das man nicht per Flugzeug gelangen kann, werden keine Investitionen fließen und keine Touristen kommen. Und die Verluste betreffen entsprechend dem Domino-Prinzip die Taxifahrer im Flughafen bis hin zu den Hotels und Souvenir-Läden.

Wie früher gemeldet wurde, kann das vierte Sanktionspaket bereits bis Ende Juni verabschiedet werden. Solch eine Prognose gab der Chef der EU-Diplomat Josep Borrell ab. Laut Angaben aus verschiedenen Quellen wird dieses Paket Wirtschaftssanktionen gegen Branchen und Unternehmen enthalten. Insbesondere gegen solche sensiblen wie die Petrolchemie- und Kali-Betriebe. Nicht ausgeschlossen ist ein Verbot bezüglich der Emission weißrussischer staatlicher Wertpapiere in Euro und deren Anlegens auf dem europäischen Markt. Diskutiert wird gleichfalls eine Unterbrechung des Gastransits aus Russland nach Europa via Weißrussland. Darüber sprach unter anderem der deutsche Bundesaußenminister Heiko Maas.

Wenn man nur über direkte finanzielle Verluste spricht, so kann das vierte Sanktionspaket, wenn es beschlossen wird, Weißrussland Verluste im Umfang von vier Milliarden Dollar bescheren. Überdies haben alle Wirtschaftsprozesse auch eine multiplikative Wirkung.

Den Erklärungen der weißrussischen Offiziellen nach zu urteilen, glauben sie bisher nicht an die Realisierbarkeit aller Drohungen der EU. „Ich denke nicht, dass sich die Europäer selbst ins eigene Knie schießen werden. Ich denke nicht, dass sie sich dieses Hebels bedienen werden“, erklärte Alexander Lukaschenko hinsichtlich eines möglichen Verbots für einen Gastransit aus Russland nach Europa. „Dies wird ihnen dann schon ganz und gar teuer zu stehen kommen. Da werden sie es dann nicht so sehr mit Weißrussland als vielmehr mit Russland zu tun bekommen“, warnte er Europa.

Auf jeden Fall ist keinerlei Lockerung der Situation innerhalb des Landes, die die Länder fordern, die Sanktionen gegen Minsk verhängen, zu beobachten. Mehr noch, die Anlässe für Repressalien werden immer absurder. Und die Reaktion auf den Druck – immer tragischer. So teilte die Generalstaatsanwaltschaft am Mittwoch mit, dass ein Strafverfahren gegen eine 34jährige Minsker Einwohnerin eingeleitet wurde, da sie die Assistentin eines Staatsanwaltes, Alina Kasjantschik, gebeten hatte, die gemietete Wohnung zu räumen. Kasjantschik war staatliche Anklägerin beim Prozess gegen die zwei jungen Journalistinnen Katerina Andrejewa und Daria Tschulzowaja gewesen. Für den Live-Stream von einer Protestaktion haben sie zwei Jahre Straflager bekommen. Die Wohnungsinhaberin wollte ihre Wohnung keinem Menschen vermieten, der mit Repressalien zu tun hatte. Und jetzt wird man sie entsprechend Artikel 190 des Strafgesetzbuches der Republik Belarus – „wegen Verletzung der Gleichberechtigung der Bürger“ – verurteilen. Die Höchststrafe beträgt zwei Jahre Freiheitsentzug. Fortgesetzt werden die Verhaftungen aufgrund weiß-rot-weißer Schals und Strümpfe. Der Journalist Dmitrij Ruto des Internetportals tribuna_by bekam 15 Tages Ordnungshaft für einen Schal in solchen Farben, den er im Auto liegengelassen hatte.

Nicht alle Weißrussen werden mit dem Druck fertig. Gehäuft haben sich die Suizid-Fälle. In der vergangenen Woche stürzte sich der 17jährige Dmitrij Stachowskij von einem Dach. Er war Angeklagter in einem Strafverfahren aufgrund der Teilnahme an Protestaktionen. In seinem Abschiedspost in den sozialen Netzwerken hatte er geschrieben, dass das Untersuchungskomitee an allem Schuld habe, dessen Druck er schon nicht mehr auszuhalten imstande sei.

Am Dienstag schockierte die Tat des politischen Häftlings Stepan Latypow. Er unternahm einen Selbstmordversuch direkt während einer Gerichtsverhandlung. Gegen den Mann wurde Anklage gleich entsprechend mehrerer Artikel erhoben. Als Bürger – wegen der Etablierung eines Telegram-Chats von Hofbewohnern, der Einrichtung einer Werkstatt zur Anfertigung von Protestsymbolik und aufgrund von Widerstand gegen Milizmitarbeiter bei der Festnahme, als Unternehmer – wegen angeblicher Betrugshandlungen. Die Schuld erkennt er nicht an. Während der Gerichtsverhandlung erklärte er, dass man ihm versprochen hätte, Verwandte und Nachbarn in eine Folterkammer (eine Druck-Hütte entsprechend Gefängnisjargon) zu stecken, wenn er die Schuld nicht eingestehe. Und danach stach er sich einen Kugelschreiber in den Hals. Am Mittwochabend war er noch im Krankenhaus und wurde künstlich beatmet. Um nächsten Morgen war er aber bereits wieder in der U-Haftanstalt. Über Folterungen mittels Kälte und unmenschliche Haftbedingungen berichtet alle aus den Gefängnissen kommenden Menschen.

Am Mittwoch veröffentlichte das Menschenrechtszentrum „Wesna“ einen Bericht über die Situation hinsichtlich der Menschenrechte in Belarus im Mai. Darin wird konstatiert, dass sich die Situation verschlimmere. Innerhalb des Monats haben die Gerichte Urteile zu 109 politisch motivierten Strafverfahren gefällt, wurden 332 Menschen festgenommen. Mit Stand vom 1. Juni sind 454 Menschen als politische Häftlinge offiziell anerkannt worden. Ihre Zahl nimmt täglich zu. Laut Angaben der Generalstaatsanwaltschaft sind seit August vergangenen Jahres 667 Strafverfahren zu den Ereignissen im Zusammenhang mit den Protestaktionen an Gerichte übergeben worden. 944 Menschen wurden und werden entsprechend dieser zur Verantwortung gezogen.

Es gibt keinerlei Grundlagen dafür, mit einer Verbesserung der Situation in Weißrussland und in dessen Beziehungen mit dem Westen zu rechnen, konstatieren Experten. In früheren Zeiten hatte Lukaschenko schon aus Vernunft die Repressalien eingestellt. Es ist bereits an der Zeit, auch jetzt, doch dieser „Kahlschlag“ ist schon so weit gegangen, dass ich mir nicht sicher bin, ob dies jetzt überhaupt möglich ist, da es jetzt eine qualitativ andere Situation ist“, sagte der „NG“ der politische Kommentator Alexander Klaskowskij. Solch eine Situation besteht auch in den Beziehungen mit dem Westen. „Der Konflikt, besonders nach dieser Geschichte mit der Landung des Ryanair-Flugzeuges, ist so weit gegangen, dass vorerst kein Licht am Ende des Tunnels auszumachen ist, solang eine Eskalation der Konflikte auslösenden Handlungen andauert. Sowohl die weißrussische Führung als auch der Westen sind bereits Geiseln dieser Trägheit in den Beziehungen. Lukaschenko hat Angst, sich als ein schwacher zu zeigen, daher demonstriert er Unbeugsamkeit. Und der Westen ist der Meinung, dass, nicht darauf zu reagieren, was sie als einen Akt von Luftterrorismus werteten, es auch unmöglich ist, da in diesem Fall alle denken werden, dass die westlichen Politiker schon ganz und gar kein Rückgrat mehr haben. Die Trägheit der Positionen hat solch eine Stärke erlangt, dass es wahrscheinlich in der nächsten Perspektive eine weitere Zuspitzung der Beziehungen geben wird“, vermutet der Experte.