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Lukaschenko bildet eine Bürgerwehr


Alexander Lukaschenko nutzt weiter das Thema eines Krieges aus. Für dessen Abwehr beabsichtigt er, territoriale Truppen einzusetzen. Unter den Bedingungen des Nichtbestehens einer äußeren Gefahr erklären Experten diese Absichten entweder mit dem Wunsch, einen inneren Konflikt in Gestalt eines Bürgerkrieges zu schüren, oder mit einer PR-Aktion.

„Wir selbst vor Ort sowie die Vorsitzenden der Kreis- und Gebietsverwaltungen müssen zu kämpfen lernen“, erklärte Alexander Lukaschenko am Mittwoch auf einer Tagung zu Fragen der Territorialverteidigung. Er erläuterte, dass eines der Ziele des nunmehrigen Treffens sei, „ein Signal an die Orte zu geben“, damit „man in jedem Kreis bereit ist, innerhalb jenes Zeitraums mobil zu machen, der durch einen Beschluss des Präsidenten beschlossen wird. Damit alle von hier, aus diesem Arbeitszimmer das Signal dafür vernehmen, dass alle bereit sein müssen“, ordnete er an.

Die örtlichen Behörden müssten „ihre Objekte kennen“, die sie beschützen werden, die Orte aller einer Mobilmachung Unterliegenden, „damit wir sie nicht fünf, sechs Monate lang mobilisieren, sondern, wenn nötig, bei Alarmierung auf die Beine stellen und sie innerhalb eines Tages zu Ihnen kommen“, und dass man sie sogar vom Gesicht her kenne. „Es muss die entsprechende Technik da sein. Alle Leiter der Betriebe, wo diese Technik in Friedenszeiten konzentriert ist, müssen wissen, dass diese Technik einer Mobilmachung unterliegen wird“, ordnete Alexander Lukaschenko an.

Er ist davon überzeugt, dass die vor 20 Jahren gefällte Entscheidung über die Schaffung einer territorialen Verteidigung „ihre Zweckmäßigkeit bestätigt hat“. „Im vergangenen Jahr haben wir am eigenen Leibe verspürt, wie die destruktive informationsseitige Einwirkung, der wirtschaftliche und politische Druck, die seitens des Westens erfolgten, die Weltanschauung unserer Menschen beeinflussten und einige von ihnen faktisch zu einem Verrat des eigenen Volkes veranlassten. Man muss stets derartigen Vertretern solch eine Abfuhr erteilen, damit sie für viele Jahre im Gedächtnis des Feindes haften bleibt. Und dazu ist nur eine Volksverteidigung in der Lage, wenn wir alle unseren Boden verteidigen werden“, ist der weißrussische Präsident überzeugt.

Nachdem er an die in der vergangenen Woche deklarierten Pläne, eine eigene Produktion von Schusswaffen zu entwickeln, erinnert hatte, erklärte er, dass „im Fall eines Konfliktes jeder Hof, jedes Haus und zumindest jedes Familienoberhaupt es verstehen müssen, ihre Familie, sich und natürlich alle zusammen jenen Boden, jenes Territorium, auf dem sie leben, zu verteidigen“. „Ja, und dies wird eine Volksverteidigung sein“, konstatierte das weißrussische Staatsoberhaupt. Leonid Sajaz, der Leiter des Verwaltungsgebietes Mogiljow, auf dessen Territorium diese Beratung erfolgte, unterstützte die Idee Lukaschenkos, wobei er erklärte, dass „man das Pulver trocken halten muss. Doch die einfachen Einwohner unseres Landes müssen bereit sein und es verstehen, ihren Boden, die Verwandten und Nächsten zu verteidigen“. Er berichtete, dass auf dem Territorium der ihm anvertrauten Region drei Stäbe zur territorialen Verteidigung gebildet und für Infanterie-Bataillone rund 500 Bürger mobilisiert wurden, die dies „mit Verständnis“ aufgenommen hätten.

Um die Beratung abzuhalten, war Alexander Lukaschenko ins Gebiet Mogiljow in einer Militäruniform mit einem Wappen auf den Schulterstücken gekommen, was die einheimische Öffentlichkeit etwas an den Auftritt in einer Schutzweste mit einer Maschinenpistole vom vergangenen Jahr erinnerte, die Experten aber auch veranlasste, von einem PR-Charakter seiner Erklärungen und der ganzen Veranstaltung zu sprechen. Dies erklärte der „NG“ unter anderem der politische Kommentator Alexander Klaskowskij. „In der Ideologie der weißrussischen Herrschenden muss ständig irgendein Feind präsent sein“, betonte der Experte und erinnerte daran, dass „ein ideologischer Kniff von Diktatorenregimes das Schüren von Leidenschaften für eine Konsolidierung des Elektorats ist“. Der Experte ist der Auffassung, dass es die weißrussische Führung nicht riskieren werde, an die Bevölkerung Waffen auszugeben, denn „in Belarus vertrauen die Bürger nicht dem Staat. Der Staat vertraut nicht den Bürgern“. Die Militärlager, in denen angeblich eine Ausbildung der mobilisierten Bevölkerung erfolge, bezeichnete Klaskowskij als eine „Profanation“. Zweifelhaft sei nach Meinung des Experten auch die Möglichkeit, territoriale Truppen, die aus Anhängern der Offiziellen gebildet wurden, zur Unterdrückung von Protesten im Land einzusetzen. „Es ist unklar, wie man gegen Menschen anderer Anschauungen kämpfen soll“, betonte der Gesprächspartner der „NG“. Das Vermischen des Themas von der Abwehr einer äußeren Gefahr und des der Niederschlagung innerer Aufstände mit Hilfe der territorialen Verteidigungstruppen zeuge gleichfalls davon, dass die Erklärungen von Alexander Lukaschenko keine seriösen seien, meint Alexander Klaskowskij.

Zur gleichen Zeit gibt es Experten, die den Plänen von Alexander Lukaschenko seriös gegenüberstehen und darin die Absicht erblickten, unter dem Vorwand einer territorialen Verteidigung aus seinen Anhängern militarisierte Verbände aufzustellen und sogar einen Bürgerkrieg zu entfesseln. „Natürlich, die Offiziellen haben nicht vor, an die Bevölkerung Waffen auszugeben, sind aber durchaus imstande, ihre militanten Männer zu bewaffnen. Dies wird wiederum Voraussetzungen für einen bewaffneten Bürgerkonflikt schaffen“, schreibt in seinem Telegram-Kanal der Politologe Pawel Usow. „Durch einen nichtexistierenden siegreichen Krieg unter Beteiligung breiter Massen möchte Lukaschenko einfach die Positionen festigen und demonstrieren, dass er eins mit dem Volk ist, und das Volk mit ihm. Schließlich verschafft nichts so sehr Spielraum bei der Vernichtung der inneren Feinde wie ein Krieg“, konstatiert der Experte.

Darüber, dass Lukaschenko „aktiv ein System zur Schaffung zuverlässiger bewaffneter Formationen überdenkt, die nicht einmal den bewaffneten Institutionen unterstellt sind, sondern der Machtvertikale“, schreibt der Politologe Andrej Jelisejew. „Allem nach zu urteilen, werden bei jedem Exekutivkomitee Listen besonders ergebener Anhänger Lukaschenkos aus den Reihen der örtlichen aktiven Mitglieder der Bewegung „Belaja Rus“ sowie der Veteranen- und anderen, durch die Behörden kontrollierten Organisationen erstellt“, vermutet Andrej Jelisejew. Nach seiner Meinung werde dennoch eine Austeilung von Waffen erfolgen. Sie würden „bewährte“ Bürger erhalten, die man einsetze, wenn „dem bewaffneten Apparat die Ressourcen oder die Entschlossenheit nicht reichen wird, mit der Situation fertig zu werden“.

Andrej Jelisejew betonte, dass Lukaschenko im Verlauf der Beratung eingeräumt habe, dass die Militärkommissariate den Exekutivkomitees unterstellt werden könnten. „Damit strebt Lukaschenko an, auch noch die Machtvertikale als eine der drei Stützen seiner Herrschaft – neben dem bewaffneten Apparat und dem Kreml — zu festigen“, schreibt er in den sozialen Netzwerken. Nach Einschätzung des Experten sei dies „ein sehr gefährlicher, aber recht rationaler Schritt aus der Sicht seiner Interessen und der Bewahrung der Macht um jeden Preis“. „Eine auffällige Verwirklichung eines personalistischen Militärregimes und (in einer anderen Klassifikation politischer Regimes) von Sultansgebaren, für das die Bildung von Kampfstrukturen recht charakteristisch ist, die nicht unbedingt mit den bewaffneten Institutionen verbunden sind, sondern direkt dem Herrscher unterstellt sind. Es geht nicht so sehr um das System einer territorialen Verteidigung für den Schutz vor einem äußeren Feind als vielmehr um das Vorankommen zu einem System paramilitärischer Verbände im Dienst der Machtvertikale für das Niederschlagen einer „inneren Gefahr““, nimmt er an.

Die Expertengemeinschaft ist einmütig davon überzeugt, dass keinerlei militärische Bedrohung seitens des Westens für Weißrussland bestehe. Viele der Analytiker bekunden bereits erneut Zweifel, dass sich Europa gar zu den angekündigten sektoralen Wirtschaftssanktionen entschließen werde. Andrej Jelisejew ist unter anderem der Auffassung, dass „die Wahrscheinlichkeit großangelegter Sanktionen in Bezug auf ganze Sektoren der weißrussischen Wirtschaft (außer dem Bereich der Luftfahrt, der bereits betroffen ist) ziemlich gering ist“. Er erklärt dies mit den „Besonderheiten der EU-Sanktionspolitik als solcher. „Eines ihrer grundlegenden Prinzipien besteht in der Bestrafung der Personen, die für die unerwünschte Politik verantwortlich sind, ohne das Zufügen eines Schadens für die Landesbevölkerung insgesamt oder bei Minimierung solch eines Schadens“, erläuterte er.

Es sei daran erinnert, dass am Mittwoch die ständigen Vertreter der EU-Länder in Brüssel restriktive Maßnahmen gegen Weißrussland im Zusammenhang mit dem Zwischenfall mit dem Ryanair-Jet vom 23. Mai und der politischen Krise im Land abgestimmt haben. Die Visa-Beschränkungen und das Einfrieren von Aktiva werden 78 Personen und sieben Organisationen betreffen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch noch eine achte Organisation dazukommt. Darüber schrieb Rikard Jozwiak, der Brüsseler Korrespondent von Radio Liberty, auf Twitter. Die sektoralen Sanktionen gegen das offizielle Minsk sollen am 21. Juni endgültig beschlossen werden.