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Lukaschenko droht, den Ausnahmezustand zu verhängen


Der Europarat hat die früher angekündigten sektoralen Sanktionen gegen Weißrussland angenommen. Alexander Lukaschenko reagierte auf diese Entscheidung und ordnete an, keinen Rückgang der Wirtschaft zuzulassen und bei Bedarf den Ausnahmezustand zu verhängen. Wirtschaftsexperten sehen keine Möglichkeit, wirtschaftliche Verluste zu umgehen, politische Analytiker sagen eine weitere Verstärkung der Repressalien voraus.

„Es darf nicht in einem Unternehmen zu einem Einbruch kommen“, erklärte Alexander Lukaschenko am Donnerstag als Reaktion auf den Bericht des Leiters des Verwaltungsgebietes Grodno, Wladimir Karanik, in dem er versprach, dass die Betriebe der Region das „Absacken“ der Wirtschaft aufgrund der Sanktionen „kompensieren“. „Soll doch Karajew (Jurij Karajew, Ex-Innenminister und jetzt Berater des Präsidenten für das Verwaltungsgebiet Grodno – „NG“) die Generalsuniform anziehen. Ihnen ist auch der Rang eines Generalmajors verliehen worden. Und auf geht’s. Einen Ausnahmezustand, wenn nötig. Doch es darf keinerlei Absacken geben“, resümierte Alexander Lukaschenko. „Wir müssen diesen Halunken auf der anderen Seite der Grenze zeigen, dass ihre Sanktionen ihre Ohnmacht sind. Eben das müssen wir zeigen. Und wir werden dies tun“, versicherte er.

Es sei daran erinnert, dass es um die sektoralen Wirtschaftssanktionen geht, die am Vortag, am Mittwoch die Botschafter der EU-Länder abgestimmt und am Donnerstag bereits der EU-Rat billigte. Zum Zeitpunkt der Vorbereitung des vorliegenden Beitrags war nur eine Pressemitteilung veröffentlicht worden, die offizielle Veröffentlichung wurde für einen späteren Zeitpunkt erwartet. Wie aus der Pressemitteilung folgte, ist den Unternehmen der EU untersagt worden, Anlagen und Ausrüstungen, die für ein Monitoring oder eine Kontrolle des Internet-Traffics und von Telefonverbindungen bestimmt sind, sowie Waren mit einer zweifachen Zweckbestimmung für einen Einsatz im Interesse militärischer Ziele nach Weißrussland zu liefern. Verhängt werden „zusätzliche Handelsbeschränkungen in Bezug auf Erdölprodukte, Kali-Düngemitteln und Waren für Tabakerzeugnisse“, eingeschränkt wird der Zugang staatlicher Einrichtungen zu den europäischen Kapitalmärkten und verboten werden eine Versicherung und Rückversicherung der weißrussischen Regierung und von weißrussischen Staatsorganen und Agenturen. Der Europäischen Investitionsbank wurde untersagt, Projekte im staatlichen Sektor zu finanzieren, und Unternehmen – eine Investitionszusammenarbeit mit staatlichen Banken (mit der Belarusbank, der Belinvestbank und Belagroprombank). Außerdem melden einige Medien, dass nicht nur der Handel mit Kali unter Sanktionen geraten würden, sondern auch der Transit dieser Düngemittel über das Territorium der Europäischen Union.

Wirtschaftsexperten meinen, dass die Sanktionen für die weißrussische Wirtschaft recht schmerzhafte sein würden, obgleich man erst nach Veröffentlichung der eigentlichen Beschlüsse genau sagen könne, wie teuer sie Minsk zu stehen kommen werden. Laut Angaben des weißrussischen Statistikamtes Belstat machen die Kali-Düngemittel 8,2 Prozent am Gesamtvolumen des Warenexports aus. Im vergangenen Jahr verkaufte sie Weißrussland ins Ausland im Gesamtwert von 2,4 Milliarden Dollar. Der europäische Markt ist jedoch nicht der hauptsächliche für diese Erzeugnisse. Im Jahr 2020 machten die Verkäufe dorthin lediglich 192 Millionen Dollar aus. Und dies sind nur 0,7 Prozent des gesamten Warenexports. Die wichtigsten Käufer sind Brasilien, China und Indien. Auf sie entfallen rund 50 Prozent aller Düngemittel-Einkäufe. Daher werden in diesem Fall die Sanktionen für das weißrussische Regime nicht aufgrund der Kali-Düngemittel an sich zu schmerzlichen werden, sondern aufgrund deren Transit über den litauischen Hafen Klaipeda. Im Falle eines Transitverbots wird auch die litauische Seite Verluste erleiden. Dort hat man aber berechnet, dass sie nur ganze 0,9 Prozent des BIP ausmachen könnten, und gesagt, dass sie dies mit Hilfe weißrussischer Programmierer kompensieren könnten, die gegenwärtig massenhaft in das Nachbarland kommen würden.

Dagegen sind EU-Länder Hauptabnehmer weißrussischen Erdöls und weißrussischer Erdölprodukte. Von den 3,7 Milliarden Dollar Exporterlösen des vergangenen Jahres entfielen 1,1 Milliarden Dollar (30,5 Prozent) auf EU-Länder. Dies sind 3,9 Prozent des gesamten weißrussischen Warenexports. Die Hauptkunden sind Großbritannien, die Niederlande und Deutschland. Sie erwerben ca. 40 Prozent der gesamten Erzeugnisse des Erdölsektors. Leider ist es nicht möglich, die Dimensionen der Verluste durch die Sanktionen gegen den Erdölsektor abzuschätzen, da Belstat keine Statistik seit 2016 hinsichtlich dieses Sektors veröffentlicht. Dennoch erlauben die vorhandenen Daten, davon zu sprechen, dass die Sanktionen spürbare sein werden.

Erstaunen der einheimischen Öffentlichkeit löste die Erklärung von Alexander Lukaschenko über die Verhängung eines Ausnahmezustands zwecks Abwehr der Sanktionen aus. Die Experten neigen dazu, dass man diese Erklärung nicht buchstäblich verstehen müsse. Nach Meinung des Politologen Pawel Usow „kann die Verhängung eines Ausnahmezustands unter den Bedingungen der Sanktionen die Vorbereitung des Regimes auf eine Verschlechterung der sozial-ökonomischen Situation im Land bedeuten“, wenn die These „alles für die „Front““ aktuell werde. „Unter den Wirkungen der Sanktionen und inneren außerordentlichen Maßnahmen können sein: ein Mangel, eine Kürzung der Löhne und Gehälter, die Einführung von Arbeitseinheiten und von Lebensmittelkarten (Voucher für Waren) sowie Auszahlungen in Form von Naturalien“, schreibt der Experte in seinem Telegram-Kanal.

Der Politologe Valerij Karbalewitsch ist gleichfalls der Ansicht, dass es nicht um die Verhängung eines realen Ausnahmezustands im Land gehe. „Ich denke, dass dies ein bildlicher Ausdruck, einfach Rhetorik ist. Lukaschenko verwendet ständig eine Militär-Terminologie. Ich denke, dass in diesem Fall gemeint ist, dass die Staatsbeamten entsprechend den Gesetzen der Kriegszeit arbeiten sollen“, sagte er in einem Kommentar für die „NG“. „Dies ist eine Form einer zusätzlichen Mobilisierung des Staatsapparates. Diese Sanktionen sollen durch eine Verstärkung der Disziplin, durch Schaffung von Ordnung und durch eine Verstärkung des administrativen Drucks neutralisiert werden, um den Unternehmen nicht zu erlauben, schlechter zu arbeiten“, meint der Experte.

Die Anweisung, sich zu mobilisieren, zeuge auch davon, dass die Sanktionen Lukaschenko zu keinen Verhandlungen und keiner Deeskalation bewegen werden, nehmen die Analytiker an. „Ich denke nicht, dass die Offiziellen sich auf irgendwelche Verhandlungen einlassen werden. Eher umgekehrt, die Situation wird sich zuspitzen. Damit zu rechnen, dass sich Lukaschenko unter Wirkung der Sanktionen auf irgendeine Liberalisierung, auf eine Beendigung der Repressalien einlässt, lohnt nicht. In der nächsten Zeit ist eine weitere Eskalation sowohl innerhalb des Landes als auch außerhalb von ihm zu erwarten“, denkt Valerij Karbalewitsch.

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Die Entwicklung der Situation in Weißrussland beobachten auch Autoren russischer Telegram-Kanäle. „Adäquat“ (https://t.me/politadequate) betont, dass der Nebeneffekt „der grundlegenden Sanktionen“ gegen Weißrussland offensichtlich sei: Lukaschenko werde immer stärker vom Kreml abhängen. „Dies ist eine starke Karte, eine stärkere als alle, die wir zum Thema in der überschaubaren Vergangenheit hatten. Und man möchte sehr hoffen, dass sie aktiv ausgespielt wird“, schreiben die Autoren des Kanals.