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Lukaschenko geht zur Gegenoffensive gegen das eigene Volk über


Entsprechend den Ergebnissen der sonntäglichen Protestaktion in der weißrussischen Hauptstadt ist ein Strafverfahren wegen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung eingeleitet worden. Zu ihren Figuranten wurden über 230 Menschen. Experten konstatieren eine neue Etappe der Verschärfung der Repressalien in der Hoffnung, die Proteste zu stoppen. 

Am Montagmorgen des 2. Novembers teilten Menschenrechtler mit, dass im Verlauf der sonntäglichen Protestaktion in Minsk mindestens 300 Menschen festgenommen wurden. Traditionell durchliefen alle Teilnehmer der Aktionen formelle Gerichtsverhandlungen, bei denen keiner die Worte der Angeklagten, der Verteidigung und der Zeugen berücksichtigte. Die Teilnehmer der Protestaktionen erhielten Haft- (10 bis 15 Tage) oder Geldstrafen. 

Zum Erstaunen der hiesigen Öffentlichkeit teilte das Untersuchungskomitee mit, dass die meisten am vergangenen Sonntag Festgenommenen Verdächtige in einer Strafsache seien. Darunter drei Journalisten, die über die Aktion berichtet hatten. Die Angelegenheit ist entsprechend Artikel 342 des Strafgesetzbuches der Republik Belarus (Organisation und Vorbereitung von Handlungen, die auf grobe Weise die öffentliche Ordnung verletzen) eingeleitet worden. Die maximale Strafe entsprechend diesem Artikel beträgt drei Jahre Freiheitsentzug. 

Diesem „Know-how“ der weißrussischen Rechtsschutzorgane waren Meldungen vorausgegangen, wonach geplant sei, die Bestrafung gemäß dem traditionellen Artikel des Ordnungsstrafrechts 23.34 (Teilnahme an einer nichtgenehmigten Massenveranstaltung) zu verschärfen. Laut dem entsprechenden Gesetzentwurf ist geplant, die maximale Strafe von 50 bis auf 200 Basiseinkommen (umgerechnet von 451 bis 1810 Euro) zu erhöhen und die Ordnungshaft von 15 bis auf 30 Tage zu verlängern. Außerdem ist geplant, eine Bestrafung in Form gesellschaftlicher Arbeiten einzuführen. Den entsprechenden Entwurf der Änderungen behandeln bereits die Parlamentarier, und man rechnet damit, sie nicht früher als im neuen Jahr anzunehmen. 

Interessant ist, dass am Vorabend Soziologen die Stimmungen der Weißrussen untersuchten und zu dem Schluss gelangten, dass die Strafen, Verhaftungen für mehrere Tage und selbst Gummiknüppelschläge den Protestierenden schon keine Angst mehr machen. Die Weißrussen erklärten, dass sie eine strafrechtliche Verantwortung und Invalidität aufgrund erhaltener Verletzungen fürchten, und die Frauen – Vergewaltigungen.

Die Verschärfung des Vorgehens gegen die Protestierenden erklären einheimische Beobachter und Experten mit dem Wunsch Lukaschenkos, so schnell wie möglich die sich ohnehin bereits in die Länge gezogenen Proteste niederzuschlagen. Am 9. November werden sie drei Monate alt. Und dies, obwohl bereits Ende August Alexander Lukaschenko versichert hatte, dass die Ordnung auf den Straßen bereits wiederhergestellt sei. Und später hat er dies noch mehrere Male wiederholt und behauptet, dass im Land ein innerer nationaler Dialog begonnen habe. Die Protestierenden kommen jedoch weiterhin zu Tausenden auf die Straßen und demonstrieren keine Absichten, die Proteste einzustellen. 

In der vergangenen Woche vollendete Lukaschenko neue Umbesetzungen im Block der bewaffneten Organe. Zum Innenminister wurde der frühere Chef der hauptstädtischen Miliz, der 45jährige Iwan Kubrakow. Das „Know-how“ mit den Strafverfahren schreiben Experten gerade ihm zu. „Der neue Minister realisierte das, was der vorangegangene versprochen hatte – eine Verschärfung der Maßnahmen zur Unterbindung nichtsanktionierter Veranstaltungen“, kommentierte der Militärexperte Alexander Alessin die Situation. 

„Am Vorabend des Wochenendes hatte sich zwischen den Herrschenden und Protestierenden ein instabiles dynamische Kräftegleichgewicht herausgebildet, denn Lukaschenko kann den Protest nicht unterdrücken, und seine Gegner können vorerst auch ihre Ziele nicht erreichen“, kommentierte der politische Beobachter Alexander Klaskowskij die Situation gegenüber der „NG“. Im Zusammenhang damit versuche Lukaschenko jetzt, eine Gegenoffensive zu organisieren und den Protest zu unterdrücken, meint er. „Lukaschenko und seine Unterstellten haben da solch ein primitives Paradigma des Denkens, dass man einschüchtern müsse, dass man mit allen Mitteln all das unterdrücken müsse, was sich bewegt. Daher nutzen sie auch das gesamte repressive Instrumentarium aus. Da es keine unabhängigen Gerichte gibt, wird das Strafgesetzbuch willkürlich ausgenutzt“, meint der Experte. Der Gesprächspartner der „NG“ schließt nicht aus, dass die Repressalien verstärkt werden und die strafrechtliche Verantwortung umfangreich zum Einsatz kommen wird, um die Menschen einzuschüchtern. 

In den letzten zwei Wochen berichten die staatlichen Propagandisten verstärkt darüber, dass sich der Protest bei einem völligen Nichtvorhandensein von Fakten einer Radikalisierung an sich radikalisieren würde. Nach Meinung von Experten sei dies die informationsseitige Vorbereitung für eine Verschärfung bei der Unterdrückung der Proteste gewesen. „Die Offiziellen versuchen, die Sache so darzustellen, dass sich der Protest angeblich radikalisiere. Obgleich dies solch ein künstliches Schüren einer Psychose ist, die gebraucht wird, damit ihnen die Hände nicht gebunden sind. Dies ist einfach ein Anlass, um die Repressalien zu verschärfen“, ist Alexander Klaskowskij überzeugt. „Ja, unter den Protestierenden sind verschiedene Menschen. Wenn Hunderttausende von Menschen auf die Straßen kommen, so können unter ihnen irgendwelche Unausgeglichenen sein. Da kann man nicht zu 100 Prozent das Ausbleiben von Zwischenfällen und unbedachten Handlungen seitens der Protestierenden garantieren. Insgesamt aber bleibt der Geist des Protests ein friedlicher. Und mir scheint, dass die Weißrussen nicht auf radikale Aktionen eingestellt und psychologisch nicht zu ihnen bereit sind. Ja, und sie haben keine Ressourcen, um im buchstäblichen Sinne des Wortes gegen die Herrschenden zu kämpfen“, meint der Experte.  

Er ist sich nicht sicher, dass Lukaschenko durch eine Verschärfung der Repressalien seine Ziele zu erreichen vermag. Als relevantere bezeichnet er andere Faktoren. „Ich denke, dass entscheidende Faktoren sein können: erstens, die Hartnäckigkeit der Verfechter von Veränderungen, zweitens, die Verschlechterung der Wirtschaftssituation und drittens, der Faktor Moskaus“, sagt Klaskowskij. „Eine Verschlechterung der Wirtschaftssituation ist unausweichlich. Darüber sprechen einmütig alle unabhängigen Wirtschaftsexperten. Und es gibt bei ihnen nur Differenzen hinsichtlich der Zeiten. Einige sagen, dass Ende dieses Jahres eine Krise ausbrechen könne. Andere erklären – im Februar-März“, nimmt der Gesprächspartner der „NG“ an. Er fügte gleichfalls hinzu, dass „Wladimir Putin dieser Tage sanft und delikat, aber dennoch die Gewalt in Belarus verurteilte und anmerkte, dass sie augenscheinlich seitens der Vertreter der Rechtsschutzorgane eine übermäßige gewesen war“. „Er hat sogar solch einen Satz fallen lassen, dass diejenigen, die dies zugelassen hätten, wahrscheinlich bestraft werden müssten. Dies ist solch eine Warnsignal für Lukaschenko. Und obendrein ist es offensichtlich, dass Moskau doch beabsichtigt, ihn in Richtung einer Verfassungsreform zu schubsen“, erinnerte Klaskowskij. „Dabei will Lukaschenko keinerlei Machttransit. Daher ist für Lukaschenko eine Verstärkung der Spannungen auch an der östlichen Front möglich. All diese Faktoren werden natürlich das System für Lukaschenko untergraben“, meint er.