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Lukaschenko grenzt die Souveränität Weißrusslands ein


Alexander Lukaschenko behauptet, dass die Unabhängigkeit und Souveränität Weißrusslands nichts gefährde. Opponenten der Herrschenden und Experten stimmen dem nicht zu. Die Hauptgefahren seien die wirtschaftliche Abhängigkeit und militärische Zusammenarbeit.

Am Dienstag wurde bekannt, dass die USA die Familien der Diplomaten aus Minsk evakuieren. Die Befürchtungen stehen mit dem Beginn der russisch-weißrussischen Militärmanöver in einem Zusammenhang, die in Weißrussland an der Grenze zur Ukraine erfolgen. Auf diese Entscheidung reagierend, erklärte Weißrusslands Außenministerium, dass die USA nicht die Situation in Osteuropa beherrschen würden und daher „politisierte Entscheidungen zum Anheizen der Lage treffen“. Dabei würde den Diplomaten in Weißrussland tatsächlich nichts drohen.

Die Gefahr, die vom Eintreffen einer großen Anzahl von Militärs aus Russland in Weißrussland ausgehe, betonen sowohl die Opponenten der Herrschenden als auch einheimische Experten.

Vertreter der Offiziellen und die Staatspropagandisten versichern, dass das Gerede von einer Gefahr Erfindungen sei. „Ich möchte betonen, dass diese Manöver ausschließlich einen Verteidigungscharakter tragen. Nach Abschluss der Manöver ist ein organisierter Abzug aller Truppen zu den ständigen Stationierungsorten geplant“, erklärte unter anderem der Chef der Hauptverwaltung für Gefechtsausbildung der Streitkräfte Weißrusslands Andrej Nekraschewitsch in einer Sendung des einheimischen Staatsfernsehens. Als eine Frechheit und Dreistigkeit bezeichnete der Chefredakteur der Zeitung der Präsidialverwaltung „Belarus heute“, Dmitrij Shuk, die diesbezüglichen Erklärungen der Vereinigten Staaten.

Es sei daran erinnert, dass sich früher hinsichtlich der Anwesenheit russischer Truppen auf dem Territorium von Weißrussland Opponenten der Offiziellen geäußert haben. „Das regelmäßige Auftauchen ausländischer Truppen auf Weißrusslands Territorium birgt eine Gefahr für die Unabhängigkeit des Landes in sich und erhöht die Spannungen in der Region. Dies entspricht nicht den nationalen Interessen Weißrusslands“, hieß es in einer Erklärung der Anführerin der weißrussischen demokratischen Kräfte Swetlana Tichanowskaja aus diesem Anlass.

Die Frage nach einem Verlust der wirtschaftlichen Unabhängigkeit erregt vor dem Hintergrund der Erörterung der militärischen Bedrohungen weniger Aufmerksamkeit. Die Veröffentlichung einiger Bestimmungen und im vergangenen Jahr bestätigter Integrationsprogramme in weißrussischen Medien hat jedoch die Diskussionen auch zu diesem Thema belebt. Auszüge aus den Programmen, die einer breiten Öffentlichkeit gar nicht vorgestellt wurden, veröffentlichte das Nachrichtenportal „Unser Boden“ („Nascha Niwa“).

Wie aus den publizierten Informationen folgt, geht es in den Programmen um eine Harmonisierung der Gesetzgebung fast in allen Lebensbereichen des Landes: Finanzen, Währungsregulierung, Buchhaltungs- und Audit-Standards, Regeln und Mechanismen des Wettbewerbs und Binnenhandels, Schutz der Verbraucherrechte, Industrie, Landwirtschaft, Transportwesen sowie Informations-, tiermedizinische und phytosanitäre Standards. Nach Einschätzung der Autoren des Beitrags seien in den Dokumenten „auch Momente fixiert worden, die die Souveränität und Unabhängigkeit Weißrusslands im Gegenzug für billiges Gas und Erdöl zu Grabe tragen“.

Unter anderem wird eine Gefahr in der „Etablierung übernationaler Organe und in der Harmonisierung der Steuer- und Zollgesetzgebung“ gesehen. „Nascha Niwa“ zitiert die Meinung des BEROC-Wirtschaftsexperten Dmitrij Kruk (BEROC — Belarusian Economic Research and Outreach Center). Der Experte ist gleichfalls der Auffassung, dass das unterzeichnete Dokument bei weitem kein harmloses sei. Die Standards, die harmonisiert werden sollen, „geben eine Lebensweise im Land vor, formieren den Rahmen von Erlaubtem sowohl für die Menschen als auch für die Offiziellen“, erläutert Kruk. Nach seiner Meinung sei das Spektrum der Standards, die „harmonisiert“ und „unifiziert“ werden sollen, weitaus breiter als die Logik eines gewöhnlichen Wirtschaftsbündnisses. „Wenn sich solch eine „Harmonisierung“ und „Unifizierung“ vollzieht, wird dies einen erheblichen Teil der Souveränität des Landes fressen“, meint Dmitrij Kruk. „Stellen Sie sich einmal vor, dass Sie in einer gewöhnlichen Wohnung in einem Mehrfamilienhaus wohnen. Für bestimmte Bonusse schlägt Ihr Nachbar vor, der über ein Dutzend Wohnungen in eben diesem Haus besitzt, einen Vertrag abzuschließen, dem entsprechend man die Regeln Ihres Lebens gestaltet, wobei man sich an ihm orientiert. Sie übernehmen die Pflichten, zu welcher Zeit man heimkehren und das Haus verlassen kann, wann man sich schlafen legt, was für Möbel in Ihrer Wohnung stehen sollen und wie sie hinzustellen sind, wie man seine Finanzen verwalten und was für eine entsprechende Erfassung vorgenommen werden muss, was für Lebensmittel man erwerben kann, in welche Läden man gehen kann, mit was für einem Auto man fahren darf, was für (Haus-) Tiere man sich zulegen kann und anderes (auf 124 Seiten). Eine bestimmte Freiheit für ein Auswählen bleibt, aber nur in diesen Grenzen. Aber Schlüssel von der Wohnung und deren technischer Pass bleiben bei Ihnen“, so beschreibt der Experte bildlich das Wesen der Integrationsprogramme.

Solch einen Standpunkt vertreten nicht alle Analytiker. In einem Kommentar für die „NG“ stimmte der Senior Analytiker des Investitionsunternehmens „Alpari Eurasien“ Wadim Iosub dem zu, dass eine Gefahr für die Unabhängigkeit Weißrusslands bestehe. Sie würde aber nicht mit der Realisierung der Integrationsprogramme zusammenhängen. „Im September vergangenen Jahres waren auf der Internetseite der russischen Regierung Annotationen zu diesen 28 Programmen veröffentlicht worden. Das, was jetzt bekannt geworden ist, enthält etwas mehr Details hinsichtlich dessen, was jedes Programm an sich darstellt, was für Fristen für die Realisierung vorgesehen sind. Im Großen und Ganzen aber gibt es da nichts Revolutionäres im Vergleich zu dem, was im September war“, meint der Experte. Nach seinen Worten „geht es hauptsächlich nur um eine Harmonisierung. Und es gibt dort wenig Punkte, in denen das Wort „Unifizierung“ verwendet wird. Und sie haben keinen prinzipiellen Charakter“.

„Wenn man die Spreu entfernt“, so lassen sich die Hauptrichtungen des Interesses beider Länder nachverfolgen. Für Weißrussland ist dies der Markt der Energieträger, in erster Linie einheitliche Preise für Gas und Öl. Für Russland – eine „Harmonisierung der Prinzipien für das Erheben der indirekten Steuern“. „Ungeachtet der Freundschaft war Belarus in den letzten Jahren solch ein schwarzes Loch für Schmuggelware für den russischen Markt“, sagt der Analytiker. Wobei es nicht nur um die Lieferung von Erzeugnissen ging, die sich unter russischen Sanktionen befinden. „Wenn wir etwas importieren, wird die Importware mit einer Mehrwertsteuer belegt. Und bei einer (Waren-) Bewegung innerhalb der Zollunion wird dies nicht als Export- und Importoperationen angesehen. Und dementsprechend gibt es keinerlei MWSt. Das heißt: Wenn eine russische Firma in den Niederlanden Blumen kaufen möchte, muss sie die in den Niederlanden kaufen, nach Russland bringen und die MWSt. entrichten. In Weißrussland sind für solche Schemas spezielle Firmen registriert worden, denen Vergünstigungen hinsichtlich dieser Steuer eingeräumt wurden. Das heißt: Die Firma kauft Blumen und bezahlt keine Mehrwertsteuer, da sie eine Vergünstigung entsprechend einem gesonderten Erlass hat. Danach werden diese Blumen simpel nach Russland gebracht, aber bereits ohne die Entrichtung jeglicher Mehrwertsteuern. Daraus ergibt sich, dass in Russland eine Ware auftaucht, die nicht mit dieser Steuer belegt wird“, beschrieb der Experte das Schema für eine Steuerhinterziehung. Indem aber Russland die Bezahlung der indirekten Steuern unter seine Kontrolle stellt, löst es das Schmuggelproblem“, resümiert der Analytiker.

„Hinter diesen Programmen steht keine Aufgabe der Souveränität. Dies bedeutet aber nicht, dass damit alles in Ordnung ist“, meint Wadim Iosub. „Die weißrussische Führung hat es verstanden, sich mit einem größeren Teil der entwickelten Welt zu zerstreiten, mit der man gegenseitig vorteilhaft handeln kann, von der man potenziell Investitionen erwarten kann. Und damit begibt sich Belarus in die Umarmung Russlands. Es nimmt dessen Anteil am Außenhandel und an den Finanzen zu. Es bleibt praktisch der einzige Gläubiger für Belarus. Eben darin besteht die Abhängigkeit. Und nicht darin: Gibt es die Programme oder gibt es sie nicht“, konstatierte der Gesprächspartner der „NG“.