Die Zentrale Wahlkommission (ZWK) Weißrusslands hat am Montag die vorläufigen Ergebnisse der am Sonntag zu Ende gegangenen Präsidentschaftswahlen verkündet. Laut offiziellen Angaben kam Alexander Lukaschenko auf über 80 Prozent der abgegebenen Stimmen bei einer fast 85-prozentigen Wahlbeteiligung. Die Hauptherausforderin – Swetlana Tichanowskaja – lag um 70 Prozent hinter ihm zurück. Die anderen drei Teilnehmer der Wahlen kamen insgesamt nicht einmal auf fünf Prozent der Stimmen.
Zu solch einer Verteilung war die Öffentlichkeit allem Anschein nach bereit. Die Nacht zum Montag, aber auch die zum Dienstag wurde in Minsk zu einer stürmischen. Menschenrechtler sprechen von Hunderten von Festgenommen in der ersten Nacht nach den Wahlen, dutzenden Verletzten, darunter auch Milizionären und sogar von einem Toten (was jedoch offiziell dementiert wurde). Der Protest wird möglicherweise in der einen oder anderen Form fortgesetzt werden, aber am ehesten mit einer nachlassenden Intensität. Hervorgehoben seien einige Besonderheiten.
Erstens, der Stab von Swetlana Tichanowskaja hat sich auf eine Erklärung über die Nichtanerkennung der Wahlergebnisse und eine entsprechende Beschwerde an die Adresse der ZWK beschränkt. Und nicht mehr. Die Variante hinsichtlich eines langen Ringens ist in diesem Lager augenscheinlich von Anfang an nicht ins Auge gefasst worden. Es sei daran erinnert, dass der Gatte von Tichanowskaja und mehrere Kontrahenten Lukaschenkos Geiseln des Systems bleiben.
Zweitens, die lasche Reaktion des Westens. Die OSZE hat freilich erklärt, dass sie die Wahlergebnisse nicht anerkenne. Und Polen hat die Europäische Union aufgerufen, die weißrussische Frage zu behandeln. Doch kann man damit etwa Lukaschenko in Erstaunen versetzen oder Angst machen? Besonders vor dem Hintergrund eines erneuten US-amerikanischen Tankers, der mit Erdöl für Weißrussland in Litauen eingetroffen ist.
Drittens haben Lukaschenko zum Sieg bereits der Präsident der Volksrepublik China, Xi Jinping, und der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, gratuliert, womit sie den Anfang zur Gewährleistung der internationalen Legitimität der Ergebnisse der Wahlen in Weißrussland machten.
Viertens sehen die von der ZWK verkündeten Ergebnisse nicht wie etwas Phantastisches aus. Für Lukaschenko votierten in absoluten Zahlen 4.652.000 Menschen. Das ist weniger als die Hälfte der Landesbevölkerung laut Angaben der Bevölkerungszählung von 2019. Das heißt, dies ist ein Wert, der spürbar hinter den traditionellen Diktatoren-Werten von „über 90 Prozent“ zurückliegt. Lukaschenkos Publikum sind Beschäftigte staatlicher Institute, der bewaffneten Organe, von Unternehmen, die vom Staat abhängen, Vertreter des Business, das mit staatlichen Strukturen affiliiert oder mit ihnen verbunden ist, Arbeitnehmer, die aus dem Staatshaushalt ihren Lohn erhalten, sowie die Einwohner auf dem Lande, die in der Regel loyal zum Herrscher stehen, auch wenn sie mit den örtlichen Behörden und Offiziellen unzufrieden sind. Und dies sind keine einzelnen Menschen, sondern auch deren Familienmitglieder. Gerade auf diese 4,6 Millionen Ja-Sager werden die Offiziellen verweisen, wobei sie beweisen werden, dass die Gegner Lukaschenkos nur einen Bruchteil dessen ausmachen.
Dennoch hat Lukaschenko… verloren. Er hat den morgigen Tag verloren. Den Kampf gegen die Zeit hat keiner gewonnen. Er regiert ein Vierteljahrhundert Weißrussland, das heißt sieben Jahre länger als die Breschnew-Ära, die als unendlich erschien, und bisher sechs Jahre weniger als die Stalinsche. Die Einwohner, die auf die Straßen von Minsk, Grodno, Lida und anderer Städte gekommen waren, bestanden nicht auf einen Sieg von Tichanowskaja. Sie forderten Lukaschenkos Verlassen des Olymps. Der Herrscher ist innerhalb von 25 Jahren einem über geworden. Dabei gibt es keine glänzenden Erfolge des Staates. Es gibt eine leicht modernisierte, vom Wesen her eine direktive sowjetische Planwirtschaft. Es gibt Aufrufe zu einer „tiefgreifenden Integration“ im postsowjetischen Raum ohne konkrete Handlungen dafür. Und es gibt das nicht enden wollenden Hin-und-Her in der Außenpolitik, das heutzutage dazu führte, dass sich Russland „aus einem Bruder in einen Partner verwandelte“. Und wenn auch der Westen näher wurde, so doch nur ganz gering.
Auf die Straßen ist die Jugend gekommen. Dies ist der morgige Tag Weißrusslands. Sie versagt Lukaschenko das Vertrauen. Sie wird wohl kaum Nikolaj Lukaschenko als Nachfolger akzeptieren, der bei offiziellen Empfängen schon längst bei Begrüßungen als erster den Amtskollegen des Vaters die Hand reicht. Weißrussland ist nicht der Osten. Hier wird man noch Lukaschenko Senior dulden können, doch kaum einer Dynastie zustimmen. Jetzt steht Lukaschenko das Wichtigste bevor – sich so auf den Abtritt vorzubereiten, um nicht in die Landesgeschichte als eine negative Persönlichkeit einzugehen. Letzten Endes ist es ihm gelungen, die Stabilität des heimatlichen Weißrusslands zu sichern und es vor großen Erschütterungen zu bewahren. Wie die Erfahrungen einer Reihe einstiger Unionsrepubliken belegen, ist so etwas von großem Wert.