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Lukaschenko hat wieder die Flug-Karte ausgespielt


Roman Protasewitsch, wegen dem die Behörden Weißrusslands ein Flugzeug der irischen Fluggesellschaft Ryanair in Minsk zur Landung nötigten, ist zu einem Redner einer Pressekonferenz zusammen mit Spitzenvertretern der Rechtsschutzorgane geworden. Experten sprechen von Plänen der weißrussischen Offiziellen, auf maximale Weise den politischen Häftling für ihre Interessen auszunutzen. Die Öffentlichkeit ist aufgrund deren Zynismus schockiert.

Die Pressekonferenz des Außenministeriums war in den Vorankündigungen nicht ausgewiesen worden. Am Montag hatte man Journalisten bereits im Vorfeld der Veranstaltung zu einem Briefing „zu aktuellen Fragen“ eingeladen. Es war versprochen worden, dass „die Leitung des Departments für Luftfahrt des Ministeriums für Transport- und Kommunikationswesen von Belarus, des Untersuchungskomitees, des Verteidigungsministeriums, des Staatlichen Grenzkomitees, der Bevollmächtigte für Religions- und Nationalitätenfragen beim Ministerrat der Republik Belarus sowie andere relevante Redner“ ihre Fragen beantworten würden.

Zu einem nichtangekündigten „relevanten“ Sprecher der Pressekonferenz wurde der Journalist und Blogger Roman Protasewitsch, der sich in der U-Haftanstalt des KGB befindet und wegen dessen Festnahme die Behörden Weißrusslands am 23. Mai ein Flugzeug der irischen Fluggesellschaft Ryanair zur Landung in Minsk genötigt hatten. Zusammen mit ihm war seine Freundin und Bürgerin Russlands Sophia Sapega festgenommen worden. Ungeachtet dessen, dass seit dem Zeitpunkt der Festnahme bereits drei Wochen ins Land gegangen sind, sind keinerlei offizielle konkrete Informationen über die gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen der Öffentlichkeit vorgelegt worden.

Lediglich im Verlauf der Pressekonferenz unter Beteiligung von Protasewitsch teilte der Leiter des Untersuchungskomitees Dmitrij Gora mit, dass man den Journalisten entsprechend von drei Artikeln des Strafgesetzbuches anklage – 342 (Organisierung und Vorbereitung von Handlungen, die auf grobe Weise die öffentliche Ordnung verletzen), 293 (Organisierung von Massenunruhen) und 130 (Schüren von sozialem Zwist). Seine Freunde habe man unter dem Verdacht der Teilnahme an Massenunruhen (das heißt, auch gemäß dem Artikel 342 des StGB) festgenommen, teilte Dmitrij Gora mit. Dabei wurde sie auch als Angeklagte entsprechend einem anderen Strafverfahren – über das Schüren sozialer Feindschaft (Artikel 130 des StGB der Republik Belarus) – festgenommen. Sie hatte als Administratorin eines Telegram-Kanals gearbeitet, der persönliche Daten von Vertretern der bewaffneten und Rechtsschutzorgane sowie von Beamten, die an Gewaltakten gegen Bürger und Fälschungen beteiligt waren, enthielt. Die Veröffentlichung deren Daten sei zur Ursache von Hetze gegen Vertreter der Beamtenschaft und gegen Vertreter der Rechtsschutzorgane seitens Bürger Weißrusslands geworden. Roman Protasewitsch droht ein Freiheitsentzug für die Dauer von bis zu 15 Jahren, Sophia Sapega – bis zu zehn Jahren.

Zur Pressekonferenz waren neben Journalisten auch Vertreter des diplomatischen Korps eingeladen worden. Nachdem sie unter ihren Teilnehmern den inhaftierten Roman Protasewitsch erblickten, begannen viele von ihnen, den Raum zu verlassen. „Wir sind gerade rausgegangen. Wir nehmen nicht teil. Es ist offensichtlich, dass er sich dort unter Druck befindet“, schrieb der BBC-Korrespondent Jonah Fisher.

Roman Protasewitsch hat durch seine Erklärungen keine neuen Informationen zu diesem Fall hinzugefügt. Er wiederholte mehrfach, dass er sich „ausgezeichnet“ fühle, sich in einer „guten Laune“ befinde, dass ihn keiner geschlagen hätte, dass er alle Erklärungen freiwillig abgebe. „Natürlich, die U-Haftanstalt ist keine Wohnung in Vilnius. Aber mit mir ist alles normal“, versicherte Roman Protasewitsch die durch Geschehen verblüfften Kollegen. Er bat die Eltern, nach Weißrussland zurückzukehren, und die Massenmedien – keine Gerüchte darüber zu verbreiten, dass man ihn in der U-Haft foltere und ihn misshandele. Seine Entscheidung, mit den Untersuchungsbehörden zusammenzuarbeiten, erklärte er damit, dass er begriffe habe, was für einen Schaden er „dem Staat und dem Land“ zugefügt hätte, aber auch damit, dass er von den Anführern der weißrussischen Proteste enttäuscht sei, die gegenwärtig mehr mit „Zwistigkeiten“, „Auseinandersetzungen“ und „politischen Spielen“ beschäftigt seien. „ich werde kein politischer Anhänger des Präsidenten sein, ich achte ihn aber als einen Menschen, der standhalten konnte. Ich werde nicht auf die Seite des Staates gehen…“, erklärte Roman Protasewitsch. Nach seinen Worten würde er sich gern mit Fotojournalismus und nicht mit Politik befassen.

Es sei daran erinnert, dass die Schuld von Protasewitsch darin besteht, dass er Chefredakteur eines Telegram-Kanals gewesen war, der aktiv die Proteste gecovert und den Ort für die Abhaltung des nächsten Marsches bekanntgegeben hatte. Einheimische Analytiker sprechen schon lange darüber, dass die Offiziellen die Relevanz des Kanals und persönlich von Protasewitsch hinsichtlich dessen, dass die Proteste erfolgten, wesentlich übertreiben würden, da, wenn die Menschen nicht über die Handlungen der Herrschenden empört gewesen wären, keinerlei Kanäle und keinem bisher bekannte Journalisten sie veranlasst hätten, auf die Straßen zu gehen. Laut soziologischen Angaben waren die Teilnehmer der Proteste erwachsene gestandene Menschen im Alter von 30 bis 40 Jahren. Und die würden keinerlei Aufrufen folgen, die nicht ihren Absichten entsprechen. Die Offiziellen propagieren aber aktiv dieses Narrativ, um das angeblich künstliche Wesen der Proteste zu demonstrieren. Alexander Lukaschenko möchte beweisen, dass er auch so im Land beliebt und geachtet sei. Die Intrigen aber würden irgendwo im Ausland initiiert werden. Einzugestehen, dass die Menschen im Land ihn nicht als Präsident sehen möchten, ist er nicht bereit.

Die an der Pressekonferenz teilnehmenden Vertreter der bewaffneten und Rechtsschutzorgane haben nichts Neues erzählt. Wiederholt wurde die Geschichte mit der Landung des Ryanair-Jets, der selbst die Entscheidung zur Landung getroffen hätte. Zu vernehmen waren der Aufruf, eine internationale Untersuchung durchzuführen, und die Vorwürfe an die Adresse der westlichen Länder, dass sie nicht gewillt seien, dies zu tun. Das offizielle Minsk warf Litauen eine Verbreitung von Fakes über eine beispiellose Anzahl illegaler Einwanderer, die aus Weißrussland kommen würden, und Polen die Preisgabe von Informationen über Umstände der Freilassung von Vertretern der nationalen Minderheit (man hatte angeblich zugesagt, nichts mitzuteilen) vor. Nebenbei demonstrierten die Offiziellen Gleichgültigkeit gegenüber den internationalen Normen und Regeln, indem sie eine heimlich aufgenommene Aufnahme des Gesprächs des polnischen Konsuls mit inhaftierten und unter Anklage stehenden Mitgliedern des Verbands der Polen zeigten.

Ausgehend von dem Ausbleiben von Nachrichten und dem lediglichen Wiederholen der Versuche, sich für die merkwürdigen vorgenommenen Handlungen zu rechtfertigen, hat die einheimische Öffentlichkeit die Schlussfolgerung gezogen, dass die Veranstaltung dazu bestimmt gewesen sei, weiter die „Karte Protasewitsch“ auszuspielen. Nach seinem vorangegangenen Interview für das Staatsfernsehen waren die Propagandisten empört gewesen, dass keiner den Inhalt des Gesagten erörtere und sich nur über die Tatsache des Interviews mit dem Inhaftierten empört hätten. Daher wurde der Versuch Nummer 2 unternommen. „Das Regime schlachtet die Ressource Protasewitsch vollkommen aus. Man hat mit ihm so gearbeitet, dass er bereits selbst auch an das glaubt, was er sagt, an seine Achtung für Lukaschenko als einen Menschen, an die Verkäuflichkeit der Opposition, an die Größe des Staates. Er glaubt so sehr daran, dass er seine Anhänger davon überzeugt, dass er wirklich das sagt, was er denkt, ohne Nötigung und Angst. Er sieht nicht gebrochen und niedergeschlagen aus, aber verändert. Hier gerade ist die Aufrichtigkeit des Glaubens bis zu solch einem Grade wichtig, dass dies einen Schock und Unverständnis unter den eigenen und Jubel unter den fremden (Leuten) auslöste. Und dies ist nur der Anfang des Weges. Man will bzw. muss nicht nur das Bild des Helden zerstören, sondern den Menschen zu einem Kämpfer für das System, zu einem treuen Soldaten machen. Darin besteht die größte Tücke solch eines Systems, das die Seelen der Menschen verkehrt“, schrieb diesbezüglich der Politologe Pawel Usow in den sozialen Netzwerken. „Ihnen scheint, dass, wenn Protasewitsch irgendetwas vor einer Kamera eingesteht, dies irgendwen überzeugen wird. Aber nach der Annahme der Allgemeinen Menschenrechtsdeklaration durch die UNO ist ein Geständnis, das durch Foltern erhalten wurde, ein Verbrechen“, erklärte der politische Kommentator Pjotr Kusnezow gegenüber dem Hörfunksender „Euroradio“.