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Lukaschenko kann innerhalb von nur einer Woche „den Protest auflaufen lassen“


Der Dienstag wurde für Weißrussland zu einem Tag der Stille. Die Protestaktionen auf den Straßen von Minsk wurden zu keinen so massenhaften wie am Vorabend. Und die Streiks in den führenden Unternehmen des Landes sind minimiert worden. „Die Mehrheit der Arbeitnehmer befasst sich mit ihren Angelegenheiten. Doch einige kleine Gruppen streiken weiter, aber sie verlieren sich im Gesamtbild“, berichtete die ehemalige stellvertretende Vorsitzende der oppositionellen Vereinigten Bürgerpartei und nunmehrige Menschenrechtlerin und politische Analytikerin Ludmilla Grjasnowa. Ihren Worten zufolge sei dies geschehen, was keiner in Weißrussland zu Beginn der Proteste erwartet hätte: Der Appell von Alexander Lukaschenko an das Volk sei erhört worden.

Das Wichtigste, was die Weißrussen in der Rede ihres unruhigen Landesvaters vernommen haben: Im Falle einer Entwicklung der Ereignisse gemäß einem radikalen Szenario können sie das Land verlieren. „Die Weißrussen wollen nicht die ukrainischen Erfahrungen wiederholen. Wir wollen Stabilität und Frieden. Und Veränderungen, aber ohne Barrikaden und Blut. Die Weißrussen wollen eine Privatisierung des staatlichen Eigentums, die aber nicht so durchgeführt wird, wie dies in Russland in den 90er Jahren oder in der Ukraine getan wurde, sondern zivilisiert und ehrlich.

Die haushaltsbildenden Unternehmen sollen in der Struktur des Staates bleiben. Die übrigen aber über Ausschreibungen zum Verkauf angeboten werden. Dies wollen sowohl die Unternehmer als auch die Arbeitnehmer“, sagt Grjasnowa. Sie betonte, dass die Bevölkerungsmehrheit Alexander Lukaschenko nach seinen Gesprächen mit Arbeitern in Unternehmen am Montag (siehe Druckversion der „NG“ vom 18. August 2020) freie Hand gegeben hätte: „und nicht für ein halbes Jahr, sondern für eine längere Zeit, möglicherweise auf für fünf Jahre“.

Der Direktor des weißrussischen nichtstaatlichen Mises-Forschungszentrums Jaroslaw Romantschuk bestätigte der „NG“, dass am Dienstag im Land eine Flaute begonnen hätte. Der Experte begründete sie aber anders. Nach Meinung von Romantschuk sei eine Situation entstanden, in der das „Fest der Veränderungen“ der Opposition aufgehört hätte, solch eines zu sein. „Noch eine Woche, und Lukaschenko wird den weißrussischen Protest vollkommen auflaufen lassen“, vermutet Romantschuk. „Die Sache ist die, dass die Veränderungen nicht zu solchen massenhaften geworden wären, wenn es nicht die Härte der Rechtsschutzorgane gegeben hätte. Nach wie vor sind rund 30 Personen nicht gefunden worden. Menschenrechtler versuchen, sie ausfindig zu machen. Zwei sind bereits beerdigt worden. Die Menschen berichten von Foltern. Dies hat auch nicht nur die Jugend auf die Straße gebracht, die Veränderungen verlangt, sondern auch Arbeiter, die Intelligenz, kurz gesagt: das Volk.“

Nach Aussagen von Romantschuk hatte die sich erhebende Bevölkerung auf eine legitime Swetlana Tichanowskaja gesetzt. Sie hat aber „irgendeinen unverständlichen Koordinierungsrat, dem unbekannte Leute angehören, und unklar wofür“ gebildet. „Wenn sie sich mit Verhandlungen bezüglich der verschwundenen Menschen befassen sollten, so tun sie dies nicht. Wie auch Anderes nicht. Und die Millionen Weißrussen, die die Proteste unterstützt hatten, haben dies gesehen und sich die Frage gestellt: Was machen Tichanowskaja und ihr Koordinierungsrat in Litauen? Was wollen sie? Tichanowskaja hat kein klares Programm. Sie ist keine Politikerin. Und das Begreifen dessen, das es keinen und nichts gibt, dem man folgen kann, hat die Proteste aus der Bahn geworfen. Die Menschen sind auseinander gegangen. Die Arbeiter gingen zur Arbeit. Ein Teil der Jugend ist ins Ausland gegangen“, kommentierte Jaroslaw Romantschuk die Situation.   

Die sich in Litauen aufhaltende Swetlana Tichanowskaja hatte die Bildung des Koordinierungsrates zwecks Gewährleistung eines Machttransfers verkündet. In den Rat sind in der Gesellschaft wenig bekannte Personen aufgenommen worden. Alte Oppositionelle haben sich von dieser Struktur distanziert, da man sie auch nicht eingeladen hatte, an ihr teilzunehmen. Doch dem Verhalten der Weißrussen nach zu urteilen, die nicht an das Projekt von Tichanowskaja und ihrem Team geglaubt haben, das nach Aussagen von Jaroslaw Romantschuk „entweder eine Exilregierung oder sonst noch irgendein unverständliches Gremium“ sei, wird es einen Machttransfer in Weißrussland auch geben, aber nicht jetzt. Besonders wenn Lukaschenko aufhört, Fehler zu machen. Solche wie die Auszeichnung von Vertretern der bewaffneten Organe mit Orden und Medaillen. „Er hätte die Schuldigen sofort, sobald die Menschen anfingen, vom brutalen Vorgehen gegenüber den Protestierenden zu reden, entlassen müssen, dann hätte es auch ganz und gar nicht die Proteste gegeben, die das ganze Land erfassten“, betonte Romantschuk. Vorerst aber herrscht in Weißrussland eine Kampfpause. Möglicherweise zeitweilig. Alles wird in Vielem davon abhängen, wie sich Lukaschenko weiter verhalten wird.