Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Lukaschenko sicherte sich problematische sechste Amtszeit


Die Wahlen in Weißrussland erfolgten bei einer hohen Wahlbeteiligung (laut Angaben der Zentralen Wahlkommission lag sie bei 84,05 Prozent – Anmerkung der Redaktion). Am Montagvormittag gab die Zentrale Wahlkommission (ZWK) bekannt, dass entsprechend den vorläufigen Ergebnissen Alexander Lukaschenko mit 80,23 Prozent die Abstimmung gewann. Doch selbst bei solch einem Ausgang wird Weißrussland nicht jenes bleiben, das Lukaschenko bisher gekannt hat. Das Land hat sich verändert. Und dies ist gut anhand der Anzahl der alternativen Präsidentschaftskandidaten, aber entsprechend der Unterstützung der Bevölkerung für sie zu sehen. Und anhand der weißen Bändchen, die die Verfechter von Veränderungen bei der Abstimmung sich um die Handgelenke gebunden hatten. Dass die Zahl derjenigen zugenommen hat, die unzufrieden mit den Herrschenden sind, begreift Lukaschenko. Wie auch das, dass die sechste Präsidentenamtszeit für ihn eine nicht einfache werden wird. Bisher aber heben Experten hervor, dass die diesjährige Präsidentschaftswahlkampagne überhaupt nicht entsprechend dem Szenario sowohl der Herrschenden als auch der traditionellen Opposition verlaufen ist.  

Bereits in den Mittagsstunden des Wahlsonntags teilte die Leiterin der ZWK Weißrusslands, Lidia Jermoschina, mit, dass bei den Präsidentschaftswahlen über die Hälfte der Wähler abgestimmt haben und folglich sie gültig sind. Mit Stand von 12.00 Uhr hatten mit Ausnahme von Minsk alle Regionen die 50-Prozent-Marke genommen. In den Verwaltungsgebieten Gomel und Mogiljow waren über 60 Prozent der registrierten Wahlberechtigten in die Abstimmungslokale gekommen, teile sie mit. Im Tagesverlauf stieg diese Zahl weiter an. Außerdem informierte Lidia Jermoschina, dass von nationalen Beobachtern viele Beschwerden eingegangen seien, doch sie alle seien ihren Worten nach erfundene gewesen. 

„Es entsteht der Eindruck, dass im Grunde genommen die Beschwerden praktisch ein und dieselben Personen einreichen. Mehrere Dutzende. Und allem nach zu urteilen ist ihnen eine Bezahlung für das Einreichen von Beschwerden versprochen worden, denn oft ist die Frage bereits in der Territorialkommission geklärt worden. Aber es wird dennoch die Beschwerde an die Zentrale Wahlkommission gerichtet. Es gibt offensichtlich einen Stücklohn“, vermutete die Chefin der ZWK.   

Zu dieser Zeit hatte auch Weißrusslands amtierender Präsident, der sich ein sechstes Mal um diesen Post bewarb, in seinem Wahllokal abgestimmt. Auf Journalistenfragen antwortend, gestand er ein, dass die jetzige Kampagne eine der schwierigsten sei, und erlaubte sich sogar, Zweifel hinsichtlich seines Sieges bei ihr zu äußern. „Was die Gewissheit hinsichtlich meines Sieges angeht, so würde ich nicht so eindeutig sein. Ich hoffe!“, sagte er. Dabei äußerte er sich recht geringschätzig über seine Kontrahenten im Präsidentschaftswahlkampf. „Sie sind nichts wert, um gegen sie irgendwelche Repressalien anzuwenden“, erklärte er. Alexander Lukaschenko enthielt sich direkter Androhungen, doch warnte er ein weiteres Mal, dass die Regierenden genug Kräfte hätten, um die Situation unter Kontrolle zu halten. Er gab zu verstehen, dass die Feinde Weißrusslands nicht schlummern würden und sie von allen Seiten her präsent seien. Zurückhaltend äußerte er sich auch über die Beziehungen mit Russland. Der Präsident gestand ein, dass er mit dem Übergang dieser Beziehungen von brüderlichen zu partnerschaftlichen nicht zufrieden sei, doch die Situation könne sich ändern, da Russlands Präsident versprochen habe, „sich detailliert ein Bild zu machen“. Allerdings ging es doch auch nicht ohne „Steine“ in Nachbars Garten aus. Alexander Lukaschenko beklagte, dass Russland das Schicksal der in Weißrussland festgenommenen 33 russischen Bürger egal sei. „Die Vorschläge an die Staatsanwälte und die Ablehnung, hierher zu kommen, belegen, dass ihnen das Schicksal dieser Jungs egal ist“, erklärte er. Es sei daran erinnert, dass Lukaschenko im Verlauf seiner Jahresbotschaft an das Parlament und das Volk am 4. August erklärte hatte, dass Einladungen an die Generalstaatsanwälte Russlands und der Ukraine gesandt worden seien. Entsprechend der Absicht von Minsk sollten sie sich mit ihrem weißrussischen Amtskollegen an einen Tisch setzen und klären, was mit den Bürgern Russlands getan werden sollte, die man in Weißrussland als Kämpfer der privaten Militärfirma „Wagner“ bezeichnet und in deren Hinsicht man behauptet, dass sie gekommen seien, „die Lage zu destabilisieren“.    

Experten und einheimische Beobachter betonen, dass die offiziellen Informationen und das Geschehen in Weißrussland zwei absolut parallele Realitäten seien. Während die ZWK erklärte, dass vorzeitig 41,7 Prozent der Wähler abgestimmt hätten, stehen an vielen Abstimmungslokalen lange Warteschlangen derjenigen, die ihre Stimme abgeben wollen, was es in der Geschichte des heutigen Weißrusslands nie gegeben hatte. Übrigens, auch solch ein großer Anteil der vorzeitigen Abstimmung hatte es früher auch nicht gegeben. Im Jahr 2010 beispielsweise lag er bei 23,1 Prozent, im Jahr 2015 – bei 36,05 Prozent. Laut Angaben unabhängiger Beobachter unterschieden sich die von ihnen fixierte Wahlbeteiligung und die Wahlbeteiligung, die im Protokoll der Wahlkommission ausgewiesen wurde, um mindestens das Zweifache. Die Informationen mit einer Gegenüberstellung der Daten hängen die unabhängigen Beobachter einfach in den Eingängen der Häuser aus, deren Bewohner sie als Beobachter nominiert hatten. So berichtete in einem der Abstimmungslokale von Minsk dessen Wahlkommission über 757 Abstimmende. Die Beobachter hatten aber nur 301 Menschen gezählt. In den sozialen Netzwerken berichteten Bürger, dass sie in den Wählerverzeichnissen ihre verstorbenen Großeltern gesehen hätten, die angeblich auch an der Abstimmung teilgenommen hatten.   

Wie mitgeteilt wurde, hatten Weißrusslands Behörden in diesem Jahr nur bedingt OSZE-Beobachter und Vertreter von Zentralen Wahlkommissionen anderer Länder eingeladen. Ausländische Journalisten, die um eine Akkreditierung zwecks Berichterstattung über die Wahlen gebeten hatten, haben sie auch nicht erhalten. Diejenigen, die es gewagt hatten, ins Land zu kommen, wurden oft festgenommen und deportiert. Am Samstagabend wurden unter anderem Journalisten des russischsprachigen Fernsehkanals „Current Times“ (ein Projekt der in Prag ansässigen Mediaholdung „Radio Free Europa“/„Radio Liberty“ unter Beteiligung von „Voice of Amerikca“ – Anmerkung der Redaktion) nach Odessa abgeschoben, wobei ihnen für zehn Jahre eine Einreise ins Land verboten wurde. Am Sonntag wurden die Journalisten des russischen Fernsehsenders „Doshd“ Wladimir Romenskij, Wassilij Poklonskij und Kameramann Nikolai Antipow festgenommen. Männer in Zivil hatten sie zuerst sich auf den Asphalt legen lassen und dann in unbekannte Richtung weggebracht. Für die Journalisten war in diesem Jahr nicht einmal ein Pressezentrum organisiert worden. 

In den Mittagsstunden wurde bekannt, dass die Gattin des nichtregistrierten Präsidentschaftskandidaten und Ex-Chef des Parks für Hochtechnologien Valerij Zepkalo, Veronika, das Land verlassen hatte. Nachdem ihr Mann mit den Kindern das Land verlassen hatten (er hält sich derzeit in Warschau auf), führte sie zusammen mit der Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa, Vertreterin des Stabs des Ex-Chefs der Belgazprombank Viktor Babariko, der sich derzeit in der U-Haftanstalt des KGB befindet, die Tichanowskaja-Agitationskampagne. Wie sich später herausstellte, war Zepkalos Gattin nach Moskau gefahren.

Die Behörden sperrten viele zentrale Straßen von Minsk für den Verkehr, Metallabsperrungen tauchten auch auf zentralen Plätzen auf. Einwohner teilten mit, dass Kolonnen von Militärtechnik ins Zentrum der Hauptstadt unterwegs und die Zufahrtsstraßen zur Stadt durch Posten blockiert seien, an denen die Dokumente der Autofahrer kontrolliert wurden, die in die Stadt wollten. Zum Tagesende hin wurde zur Residenz des Präsidenten in der Karl-Marx-Straße im Herzen der Stadt Spezialtechnik verlegt. Freilich hält sich Lukaschenko in ihr fast nie auf, da er sich eine andere Residenz am Prospekt der Sieger errichten ließ, die näher am Minsker Viertel Drasdy, wo er lebt, liegt. 

Derweil konstatierten Beobachter, dass viele ausgelassene Menschen mit weißen Bändchen an den Handgelenken – solch ein Erkennungszeichen für ihre Anhänger hatte man sich im vereinigten Stab von Tichanowskaja, Zepkalo und Babariko ausgedacht – in die Wahllokale kamen. Wie auch vorab vereinbart worden war, fotografierten sie ihre Stimmzettel, um dann die Richtigkeit der Ergebnisse zu überprüfen, die die ZWK verkündet. Wenn die von den Beobachtern gesammelten Daten, aber auch die Anzahl der veröffentlichten Stimmzettel nicht mit den Zahlen der ZWK übereinstimmen, wird diese Tatsache zusammen mit jenen zahlreichen Angaben über Verstöße im Verlauf der Wahlkampagne, die zuvor gesammelt worden waren, zu einer Grundlage, um die Wahlen für ungültig zu erklären und deren Annullierung zu fordern.   

Bereits am Sonntagmorgen hatten Vertreter des vereinigten Stabs erklärt, dass anstelle von Aktionen im Minsker Stadtzentrum es für die Einwohner Sinn mache, zu den Abstimmungslokalen zu gehen und dort die Bekanntgabe der Ergebnisse abzuwarten. Und bei Bestehen unwiderlegbarer Fakten von Fälschungen – Beschwerden zu schreiben. Alle dokumentarisch belegten Zeugnisse würden zur Beweisgrundlage für eine Revision der Wahlergebnisse werden, betonten die Juristen des Stabs. 

Die diesjährige Präsidentschaftswahlkampagne in Weißrussland verlief überhaupt nicht nach dem Szenario sowohl der Herrschenden als auch der traditionellen Opposition. Daher hatte es keiner der Experten gewagt, deren Ausgang vorauszusagen. Genannt wurden mehrere Varianten für eine Entwicklung der Ereignisse. 

Die erste und traditionelle ist, dass diejenigen, die mit den Wahlergebnissen nicht einverstanden sind, auf die Straßen gehen und deren brutales Auseinandertreiben, in dessen Folge tausende Menschen ins Gefängnis kommen. Im Jahr 2010 zeigte solch eine Strategie ihr Ergebnis, indem der Protest niedergeschlagen wurde, sehr viele Teilnehmer der Kampagne das Land verließen und die Offiziellen die Beziehungen mit dem Westen für beinahe zehn Jahre verdarben. 

Die zweite Variante einer möglichen Entwicklung der Ereignisse sieht vor, dass die Behörden sich nicht auf ein brutales Auseinandertreiben einlassen, um nicht die Beziehungen mit dem Westen zu verderben. In diesem Falle wird die Konfrontation weiter gehen und kann zu einer langwierigen werden. Wirtschaftsexperten sagen ernsthafte Wirtschaftsprobleme in der allernächsten Zeit voraus. Das Land wird unter den Folgen der inneren Krise, ausgelöst durch die Erdölprobleme mit Russland, und der äußeren im Zusammenhang mit der Einstellung der Arbeit der Hauptmärkte aufgrund der Coronavirus-Epidemie leiden. Außerdem hatten die Herrschenden in den letzten Monaten keine Zeit für die Wirtschaft, zumal sie großzügig Geld für das Buhlen um das Elektorat ausgaben. Der Wirtschaftsrückgang sowie die Verringerung des Einkommens- und Lebensniveaus verstärken die Positionen der Opponenten der Herrschenden und vergrößert die Zahl ihrer Anhänger.  

Alle Experten sind sich darin einig, dass Lukaschenko trotz seiner 80,08 Prozent der Wählerstimmen (laut Angaben der ZWK vom Montagnachmittag) seinen legitimen Status in den Augen der Bevölkerungsmehrheit verliere und die Offiziellen den Wirtschaftsprobleme nicht ausweichen könnten. Es sei nicht ausgeschlossen, dass im Land eine Militärdiktatur das Zepter schwingen werde, bei der Alexander Lukaschenko mit Gewalt seine Macht erhalten müsse.