Dokumente über die Handlungen der weißrussischen Offiziellen und Behörden sind an den Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court — ICC) am vergangenen Mittwoch weitergeleitet worden. Die Initiative, sich an Den Haag zu wenden, ist nicht das erste Mal gestartet worden. Ihre Realisierung scheitert daran, dass das Land die Jurisdiktion dieses Gerichts nicht anerkennt. Die Initiatoren der nunmehrigen Anrufung des Gerichts empfehlen, sich der Erfahrungen von Myanmar zu erinnern.
„Die Materialien werden durch die Internationale Partnerschaft für Menschenrechte (International Partnership for Human Rights — IPHR), das Norwegische Helsinki-Komitee, die Anwaltsorganisation Global Diligence und die Organisation Truth Hounds eingereicht“, teilte des Leiter des Belarus Free Theatre und Aktivist Nikolai Khalezin auf seinem Telegram-Kanal mit. Das Paket von Dokumenten basiert auf Zeugnissen und Aussagen hunderter Opfer, aber auch auf aufgezeichneten audiovisuellen Aussagen, Felduntersuchungen und Informationen aus offenen Quellen.
„Auf der Grundlage des Artikels 15 des Römischen Statuts kann jeder Mensch, jede Gruppe oder Organisation Informationen zur Anklage aufgrund von Verbrechen oder potenziellen Verbrechen dem Internationalen Strafgerichtshof übergeben. Die Informationen werden im Office des Staatsanwaltes des ICC eingereicht“, betont Nikolai Khalezin. Als ein offener Zeuge, „der die Dynamik der repressiven Handlungen der weißrussischen Offiziellen und Behörden im Verlauf des gesamten Zeitraums ihrer Existenz akzentuiert“, wird die Ehefrau, Kollegin und Mitstreiterin von Nikolai Khalezin, Natalia Kaliada, auftreten.
Das erste Mal war solch eine Initiative aus dem Munde des potenziellen Kontrahenten von Alexander Lukaschenko bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen Valeri Tsepkalo zu vernehmen. Im vergangenen September erklärte er, dass eine Gruppe von Juristen bereits das notwendige Paket von Dokumenten zwecks Vorlage beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag vorbereite. Damals hatte Experten diese Initiative kritisiert, wobei sie daran erinnerten, dass Weißrussland das Römische Statut nicht unterzeichnet hätte und die Jurisdiktion des ICC nicht anerkenne. Dies bedeute, dass das Gericht Fälle zu Verbrechen, die auf dem Territorium von Belarus verübt worden sind, nicht behandeln könne. Eine Untersuchung könne aber dennoch bei Vorhandensein eines speziellen Antrags des UN-Sicherheitsrates beginnen. Dessen ständiges Mitglied ist aber Russland, das über ein Vetorecht besitzt und zweifellos nicht erlauben wird, ein Verfahren gegen seinen Verbündeten einzuleiten.
Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes ist ein internationaler Vertrag, durch den der Internationale Strafgerichtshof gebildet wurde. Angenommen wurde es 1998 in Rom und ist am 1. Juli 2002 in Kraft getreten.
Die „NG“ interessierte sich bei Nikolai Khalezin, womit die Autoren und Initiatoren der Anrufung des Internationalen Strafgerichtshofes in einer Situation, in der Weißrussland das Römische Statut nicht unterzeichnet hat und die Jurisdiktion dieses Gerichts nicht anerkennt und Russland nicht erlauben wird, einen Antrag vom UNO-Sicherheitsrat zu erhalten, rechnen.
Nikolai Khalezin erinnerte daran, dass es im Jahr 2019 in Myanmar, das auch nicht das Römische Statut unterzeichnet hat, einen ähnlichen Präzedenzfall gegeben habe. Damals hatte die Kammer für Voranhörungen des Internationalen Strafgerichtshofes einen Staatsanwalt bevollmächtigt, eine weitere Untersuchung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in diesem Land auf der Grundlage durchzuführen, dass die Bürger, die Gewalt ausgesetzt worden waren, gezwungen waren, nach Bangladesch zu emigrieren. Es ging um eine Nötigung zur Emigration und eine gewaltsame Deportation, was jetzt auch in Weißrussland der Fall sei. Bürger Weißrusslands fliehen vor der Gewalt und den Repressalien in Nachbarstaaten – nach Litauen, Lettland, Polen und in die Ukraine. Diejenigen, die in Weißrussland mit einer Aufenthaltsgenehmigung lebten, deportiert man zwangsweise. „Die einzige Variante ist ein Case über eine Nötigung zur Emigration und gewaltsame Deportation, wofür kein Beschluss des Sicherheitsrates gebraucht wird, da Ort des Verbrechens auch die angrenzenden Länder Litauen, Lettland, Polen und die Ukraine sind“, sagte Nikolai Khalezin der „NG“. Er ist davon überzeugt, dass „dies entsprechend dem Präzedenzfall Myanmar/Bangladesch von 2019 möglich ist“. „So ist auch die Klage eingereicht worden“, resümierte der Gesprächspartner der „NG“.
Derweil werden bei den Staatsanwaltschaften jener europäischen Länder, wohin Weißrussen vor der Gewalt und den Repressalien zu flüchten gezwungen waren, Anträge mit Anklagen gegen Alexander Lukaschenko und seinen Komplizen aufgrund Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingereicht. Eingereicht wurden solche Anträge unter anderem in Litauen, Tschechien und Polen. Anfang Mai gingen Anträge weißrussischer Bürger in der Bundesstaatsanwaltschaft Deutschlands ein. Diese haben vier deutsche Anwälte im Namen ihrer Mandanten eingereicht. Die Anwälte haben Unterlagen zu mehr als einhundert dokumentierten Fällen von Folterungen.
Am Mittwoch sandte die Führerin der weißrussischen Protestierenden Swetlana Tichanowskaja ein Schreiben an Deutschlands Generalbundesanwalt Dr. Peter Frank mit dem Aufruf, ein Strafverfahren entsprechend diesem Antrag einzuleiten. Darüber wurde auf ihrem offiziellen Telegram-Kanal informiert. Sich an den Generalbundesanwalt zu wenden, hatten sie die Ereignisse vom vergangenen Dienstag veranlasst, als das größte Informationsportal Weißrusslands TUT.BY blockiert und mehr als zehn seiner leitenden Mitarbeiter festgenommen wurden. „Die Einleitung solch eines Verfahrens wird erlauben, den Weißrussen zu zeigen, dass sie selbst unter den Bedingungen der Gesetzlosigkeit im Land das internationale Recht verteidigt“, meint Swetlana Tichanowskaja.
Alexander Lukaschenko reagierte auf die Initiative der deutschen Anwälte am 7. Mai, wobei er erklärte, dass sich „die Erben des Faschismus“ anschicken würden, über ihn zu richten. „Sie werden über mich richten … Wer sind Sie denn, um über mich zu richten?“, zeigte er sich empört.
Zuvor hatten sich Experten in Kommentaren für die „NG“ recht skeptisch über die Perspektiven einer Verfolgung von Alexander Lukaschenko durch das Gericht in Den Haag geäußert. „Aus der Sicht einer praktischen Realisierung dieser Idee stehe ich dem skeptisch gegenüber“, erklärte auch jetzt der Politologe Valerij Karbalewitsch gegenüber der „NG“. Zur gleichen Zeit reagiere Lukaschenko aber empfindlich auf solche Erklärungen. Und dies könne man als einen fühlbaren Mechanismus für die Ausübung psychologischen Drucks ansehen, meint er. „Was ein reales Verantwortlichmachen von Alexander Lukaschenko angeht, so weiß ich nicht, wie man dies praktisch vornehmen kann. Ich weiß nicht, ob dies überhaupt in der Kompetenz dieses Gerichts liegt. In Myanmar hat es Massenmorde gegeben. In Belarus ist die Situation ja doch keine solche. Tötungen in Belarus, dies sind eher ein Resultat eines schlechten Aufeinandertreffens von Umständen, denn einer zielgerichteten Anweisung, gerade diese Menschen zu töten“, sagte der Experte der „NG“. Nach seiner Meinung könne man von den Anträgen der Weißrussen, die durch die Gewalt gelitten haben, an die Rechtsschutzorgane europäischer Länder noch irgendwelche reale Ergebnisse erwarten, da in diesen Anträgen konkrete Namen konkreter Menschen vorkommen, die unmittelbar an Verbrechen beteiligt waren. Was Lukaschenko persönlich angehe, so brauche jeglicher Rechtsstaat konkrete Beweise für seine Beteiligung an diesen Verbrechen, die bei weitem nicht offenkundig seien. „Relativ gesehen, ich denke nicht, dass Lukaschenko den Befehl erteilte, Roman Bondarenko (ein Aktivist, der bei der Festnahme im Herbst letzten Jahres zu Tode geprügelt wurde – „NG“) umzubringen“, sagte Valerij Karbalewitsch.