Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Lukaschenko stellt Deutschland eine Rechnung aus


Weißrusslands Staatsanwaltschaft hat im Rahmen der Untersuchung von Fakten des Genozids am weißrussischen Volk in den Jahren des Zweiten Weltkrieges bereits über 4.000 Zeugen befragt und die Namen von über 400 Angehörigen von Strafkommandos ermittelt. Die gegenwärtigen Handlungen der europäischen Länder bewertet man in Minsk gleichfalls als Faschismus. Die will man gleichfalls untersuchen und publik machen.

„Durch uns sind über 4.000 Zeugen befragt worden. Ermittelt wurden die Namen von über 400 Angehörigen von Strafkommandos, die in dreizehn Ländern leben“, informierte Weißrusslands Generalstaatsanwalt Andrej Schwed Präsident Alexander Lukaschenko am 26. Juli. Nach seinen Worten sei es gelungen, über 100 neue Stellen von Massengräbern von Zivilisten aus der Kriegszeit festzustellen. Dort wurden tausende, und „irgendwo auch 15.000 bis 20.000 weißrussische Bürger“ begraben.

Nach Abschluss der Beratung teilte der Generalstaatsanwalt mit, dass der materielle Schaden bereits ungefähr berechnet worden sei, der Weißrussland „durch die Deutschen und deren Komplizen in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges“ zugefügt wurde. „Nach dem Studium aller Archivmaterialien, darunter von Nürnberg (der Nürnberger Prozesse vom November 1945 bis April 1949 – Anmerkung der Redaktion), kann man sagen, dass diese Summe mindestens 500 Milliarden Dollar in den heutigen Preisen ausmachen wird“, sagte Andrej Schwed. „Natürlich ist dies für uns vielleicht eine nicht ganz natürliche Schätzung – jenen Schmerz zu bestimmen, jene Leiden der Menschen in irgendwelchen Äquivalenten. Aber man muss dies tun, um insgesamt die Ausmaße der Tragödie zu umreißen“, präzisierte er. Nach Aussagen von Andrej Schwed werde in der nächsten Zeit ein Paket von Dokumenten „für Beamte ausländischer Staaten zusammengestellt, in denen über die Greueltaten der Faschisten und ihre Komplizen wird“.

Es sei daran erinnert, dass Alexander Lukaschenko früher angewiesen hatte, eine Untersuchung von Fakten des Genozids am weißrussischen Volk in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges zu beginnen. Wie aus dem von Andrej Schwed Gesagten folgt, geht es jedoch nicht nur um Ereignisse des Großen Vaterländischen Krieges, sondern auch um heutige. Jetzt sei es besonders wichtig, über den Genozid am weißrussischen Volk zu berichten, der lange Jahre verschwiegen worden sei, erklärte Lukaschenko. „Die ganze Welt muss um die Wahrheit wissen, was sich ereignete, besonders eben in dieser Situation, während dieses Hybrid-Krieges, den man gegen uns entfesselt hat“, sagte er im Verlauf des Gesprächs mit dem Generalstaatsanwalt. „Vor nicht allzu langer Zeit hat ein vernunftbegabter Mann gesagt, dass „Mein Kampf“ (in der Russischen Föderation als extremistisches Material eingestuft) in der Gegenwart ein aktuelles Buch bleibe. Das heißt, wie sie Nazis gewesen waren, so sind sie auch geblieben, nur die Formen sind völlig andere“, erklärte Alexander Lukaschenko. „Dabei sind sie Schufte, überhaupt widerliche Menschen. Am Beispiel von Litauen ist es zu sehen. Sie nehmen uns die Luft und verlangen von uns, dass wir sie – bildlich gesprochen – bis zum letzten Atemzug verteidigen“, äußerte er sich in Bezug auf die europäischen Staaten.

Die Rhetorik von Alexander Lukaschenko gegenüber Deutschland und insgesamt gegenüber der EU wird immer schärfer. Dies ist nicht der erste Vorwurf einer Fortsetzung der „Traditionen“ des Nazismus. Bereits im Mai, als bekannt wurde, dass deutsche Anwälte Klage gegen Alexander Lukaschenko bei der Staatsanwaltschaft Deutschlands im Namen der von Folterungen betroffenen Weißrussen eingereicht hätten, bezeichnete er die Deutschen als „Erben des Faschismus“. „Wäre da doch Großbritannien schon aufgetreten, Amerika, Frankreich. Sie waren doch in einer Koalition. Aber nicht die Erben des Faschismus! Die werden über mich richten? Wer seid ihr denn, um über mich zu richten?“, empörte sich damals Lukaschenko. Danach, bereits im Juli, sagte er, dass im Verlauf einer antiterroristischen Operation in Weißrussland eine Beteiligung Deutschlands überhaupt und Angela Merkel in Sonderheit an den weißrussischen Ereignissen ermittelt worden sei. Da erklärte man in Berlin, dass man nicht beabsichtige, die Erklärungen Lukaschenkos zu kommentieren.

Die antifaschistische Rhetorik des Staatsoberhaupts von Weißrussland nutzt man ständig für eine Konsolidierung der eigenen Anhänger und die Rechtfertigung jener beispiellosen Brutalität der Repressalien, die gegenwärtig in Weißrussland geschehen. Andrej Schwed teilte am Montag die aktuelle Statistik zu den Repressalien mit. Nach seinen Angaben sind 4.200 Strafverfahren „im Zusammenhang mit Extremismus und Terrorismus“ eingeleitet worden (so bezeichnen die Herrschenden Weißrusslands die Proteste gegen die Fälschung der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen vom 9. August letzten Jahres). An die Gerichte sind 803 Strafverfahren in Bezug auf 1116 Menschen übergeben worden. Behandelt wurden bereits 704 Strafverfahren gegen 955 Personen.

Alexander Lukaschenkos Kommen „auf die internationale Ebene des Terrorismus“, wie Experten den Zwischenfall mit der erzwungenen Landung des Ryanair-Jets in Minsk bezeichnen, und die danach folgende Einwanderer-Krise an der weißrussisch-litauischen Grenze haben den Konflikt mit dem „kollektiven Westen“ zugespitzt und dazu geführt, dass man begonnen hat, die Faschismus-Vorwürfe nicht nur gegen die Opponenten im Land aktiv zu erheben, sondern auch im Ausland. Über die Motivation von Alexander Lukaschenko in dieser Situation hat sich der politische Kommentator Vitalij Zygankow gut geäußert. Nach seiner Meinung sei das Einzige, was die weißrussischen Herrschenden derzeit verspüren, „eine tiefe Befriedigung dadurch, dass man sich nun endlich nicht als zivilisierte ausgeben, irgendwelche Worte von Demokratie äußern und die westlichen Partner davon überzeugen muss: „Wir gehen in der Richtung. Aber es wird nicht alles auf einmal getan“ usw.“. „Jetzt kann man seiner selbst, ein wahrhaftiger sein“, resümiert der Experte.

Mit ihm solidarisiert sich auch der unabhängige Analytiker Sergej Tschalyj. „Das heißt, jetzt muss der unerzogene Mensch schon nicht mehr versuchen, sich zivilisiert zu verhalten und den Anschein erwecken, dass wir uns in der gleichen Richtung wie auch die ganze übrige Welt bewegen, nur langsam. Aber man mit einem Tischtuch sich die Nase putzen usw. Bisher sieht dies so aus: „Ja, ich bin ein Diktator. Und was macht dies aus?“, urteilt der Experte. „Ich sehe gegenwärtig nicht einen Tätigkeitsbereich – weder den dritten Sektor noch den Bildungs- oder den aufklärenden, weder den Kultur- noch den analytischen und selbst nicht den Wirtschaftsbereich. Es gibt keinen Ort, wo man vor den aufgrund der eigenen Ungestraftheit völlig wahnsinnig gewordenen Herrschenden ausharren kann“, erklärte Sergej Tschalyj in einem Interview für den Hörfunksender EURORADIO. „Derzeit kehrt das Regime in dem ihm eigenen Zustand zurück, zu einer reinen Diktatur, die keiner dekorativen quasidemokratischen Gebilde bedarf“, schreibt der Politologe Pawel Usow in seinem Telegram-Kanal.