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Lukaschenko verlangt von den Wissenschaftlern Ergebenheit


Ergebenheit ist in Weißrussland zur Hauptforderung geworden, zuerst für die Vertreter der Rechtsschutz- und Sicherheitsorgane, danach für die Staatsbeamten und jetzt auch für die Wissenschaftler. Während die Offiziellen mit der Bekämpfung von Dissidententum befasst sind, nehmen in den Schlüsselbereichen des Lebens im Land besorgniserregende Tendenzen zu. Weißrussland verlassen Künstler, Wissenschaftler und einfach aktive Menschen.

Alexander Lukaschenko hat sich am Dienstag mit Wissenschaftlern getroffen sowie Auszeichnungen und Titel vergeben. Im Verlauf der feierlichen und pompösen Veranstaltung erklärte er, dass die Hauptbedingung für den Erhalt einer staatlichen Auszeichnung Ergebenheit sei. „Meine Forderung ist: Ein Akademiemitglied muss in dem Sinne ein zuverlässiger Mensch sein, dass er dem Staat ergeben sein muss. Wenn du ein Akademiemitglied bist, so arbeite für das Land. Andernfalls, was bist du da für ein Akademiemitglied?“, legte er seine Sichtweise hinsichtlich der Verdienste von Wissenschaftlern dar.

Es sei daran erinnert, dass die Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch nach den Präsidentschaftswahlen vom Sommer 2020 wie auch viele andere bekannte und einfache Weißrussen gezwungen war, das Land zu verlassen, da sie die Ansichten der gegenwärtigen Herrschenden nicht teilt. Und die Staatspropagandisten aus der Zeitung der Präsidialverwaltung „SB. Belarus heute“ bezeichneten sie in einer ihrer Veröffentlichungen als „eine kranke Frau“ und eine „beschränkte Tante“.

Früher hatte Lukaschenko die Forderung nach Treue und Ergebenheit in Bezug auf die Vertreter der Rechtsschutz- und Sicherheitsorgane formuliert, danach – hinsichtlich der Staatsbeamten. Und danach folgten die Entlassungen jener, die als unzureichend ergebene anerkannt worden waren. Wie bereits berichtet, waren von oben Listen Unliebsamer an die Unternehmen gegangen, die zu entlassen waren. Wobei deren Schuld einfach in der Unterschrift zur Unterstützung eines „falschen“ (Präsidentschafts-) Kandidaten bestand.

Die Wissenschaftler in Gestalt des Vorsitzenden der Akademie der Wissenschaften, Wladimir Gusakow, demonstrierten als Antwort auf die Forderungen Lukaschenkos ihre Ergebenheit, wobei sie erklärten, dass in den 90er Jahren „nur die Wahl des Präsidenten dem totalen Niedergang der Wissenschaft ein Ende bereitete“. „Das Oberhaupt des jungen souveränen Staates besuchte die Akademie der Wissenschaften, traf sich mit Wissenschaftlern, wonach man begann, die Probleme allmählich zu lösen. Aufgekommen sind Hoffnungen und Zuversicht, die Wissenschaftler spürten die Fürsorge und Perspektiven“, erklärte Wladimir Gusakow.

Im Verlauf der Veranstaltung erklärte Alexander Lukaschenko, dass die weißrussische Wissenschaft etwas hätte, worauf sie stolz sein könne. Und die Erfolge Weißrusslands hätten stets den Westen verärgert. Er betonte insbesondere den Beitrag der Wissenschaft zur Entwicklung der Importsubstitution, was jetzt helfe, mit den Sanktionen fertig zu werden. „Durch uns ist viel hinsichtlich der Importsubstitution und Entwicklung des Exports getan worden. Obgleich vor 20 Jahren nicht alle meine Vorgehensweisen verstanden und unterstützten. Und wenn wir uns damals nicht besonnen hätten, was würden wir da jetzt mit den sogenannten Sanktionen machen?“, erklärte Weißrusslands Staatsoberhaupt.

Wenn man sich die Statistik anschaut, ist die weißrussische Wissenschaft schon keine so erfolgreiche. Laut Angaben des Statistikamtes „Belstat“ werden 63,2 Prozent der wissenschaftlichen Forschungen und Entwicklungsarbeiten im Unternehmenssektor durchgeführt. Auf den Anteil des staatlichen Sektors entfallen lediglich 19,5 Prozent der Entwicklungen.

Zur gleichen Zeit droht das Abgehen von einer Kompetenz in Richtung Ergebenheit und Treue, langfristig Probleme auszulösen. Unter anderem in der Wirtschaft. Für Weißrussland ist die sogenannte Handsteuerung das Hauptübel. Die Entscheidungen der letzten Zeit geben Grund zur Annahme, dass der Anteil solch eines Führungsstils zunehmen wird. So hat am Montag die Regierung beschlossen, die Preise für frische Kartoffeln, Weißkohl, Rüben und Möhren, Zwiebeln und Äpfel administrativ zu regeln. Die Ursache liegt im Preisanstieg für diese Arten von Gemüse und für Äpfel. Ihrerseits ist diese Entscheidung zum Ergebnis einer anderen geworden. Zuvor hatte die Regierung ihre Gegensanktionen als Antwort auf die Handlungen des Westens verhängt und die Einfuhr einiger Arten von Lebensmitteln aus „unfreundlichen“ Staaten ins Land eingeschränkt. Unter diese Restriktionen waren auch Gemüse und Früchte gefallen. In der Regierung behauptete man, dass im Land ausreichend solcher Art Erzeugnisse produziert werden würden, obgleich Experten und Akteure des Marktes gewarnt hatten, dass zum Hauptergebnis so undurchdachter Entscheidungen eine Zunahme der Preise werde.

Wie mitgeteilt wurde, machte die Inflationsrate in Weißrussland im vergangenen Jahr laut offizieller statistischer Angaben 9,97 Prozent aus. Solch eine Genauigkeit sei nach Meinung von Experten durch den Unwillen der Offiziellen ausgelöst worden, die Tatsache einzugestehen, dass der Anstieg der Verbraucherpreise bereits im zweistelligen Bereich liegt.

Die Loyalitätsforderungen werden sich immer mehr auf die Wirtschaft auswirken, betonen Analytiker. Bereits im Jahr 2020 hatten sie vorausgesagt, dass nicht alle effektiven Unternehmen und nicht sofort Weißrussland verlassen würden. Dieser Prozess werde ein schrittweiser sein. Der Beginn dieses Jahres hat bereits erste Verluste beschert. So begannen aus dem einzigen Stolz der weißrussischen Wirtschaft – dem Hochtechnologie-Park von Minsk – bekannte Firmen zu verschwinden. Unter anderem das weißrussische Startup-Unternehmen OneSoil, das Algorithmen entwickelt, die den Agrariern erlauben, online die Entwicklung von Aussaatflächen zu verfolgen und die Effizienz von Landwirtschaftsbetrieben zu erhöhen. Es arbeitet bereits aus der Schweiz und aus Polen.

Nicht nur Unternehmen verlassen das Land, sondern auch initiativreiche und wegen Illoyalität entlassene Bürger. In der vergangenen Woche erklärte Weißrusslands Kulturminister Anatolij Markewitsch, dass er 300 Personen wegen Illoyalität entlassen hätte. Gleichzeitig damit veröffentlichte die Zeitung „Nascha Niwa“ die Geschichte des im Oktober 2020 aus dem Minsker Bolschoi-Theater für Oper und Ballett entlassenen Sängers Ilja Siltschukow. Er ist jetzt in den USA, und sein Schaffen ist dort sehr gefragt.

Vor kurzem berichtete das polnische Außenministerium, dass allein Polen 15.000 weißrussische politische Flüchtlinge aufgenommen habe. Und dieser Strom höre nicht auf. Bisher ist es aber schwierig, die Anzahl aller aus Weißrussland ausgereisten Menschen zu ermitteln. Nicht alle beantragen den Status eines politischen Flüchtlings. Die Forderungen nach Loyalität und Ergebenheit sowie der Kampf gegen Andersdenkende würden in der Perspektive in Weißrussland zu einer großen Tragödie sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kultur und in der Wirtschaft führen, meinen Analytiker.