Die weißrussischen Präsidentschaftswahlen werfen weiterhin sowohl die Szenarios der Herrschenden als auch Expertenprognosen über den Haufen. Die bescheidene Hausfrau Swetlana Tichanowskaja füllt Stadien mit ihren Anhängern, was es noch nie im heutigen Weißrussland gegeben hat. Alexander Lukaschenko deutet einen möglichen Einsatz militärischer Gewalt zur Unterdrückung von Protesten an.
Jeden Tag besucht die Kandidatin für das Präsidentenamt Swetlana Tichanowskaja mindestens drei Städte. Und jede der Wahlkampf-Mahnwachen und -Aktionen bringt mehrere tausende Menschen in Abhängigkeit von der Größe der jeweiligen Stadt zusammen. So waren in der Gebietshauptstadt Witebsk mit einer Bevölkerung von über 300.000 Einwohnern laut Expertenschätzungen etwa 10.000 Menschen zusammengekommen. Und in der Kreisstadt Bobruisk mit einer Bevölkerung von etwa 200.000 Einwohnern – rund 6.000 Menschen.
Kleine Städte (zum Beispiel Glubokoje im Verwaltungsgebiet Witebsk) mit einer Bevölkerung von weniger als 20.000 Einwohnern) bringen jeweils eintausend Menschen zusammen. Die Menschen kommen mit Autos und öffentlichen Verkehrsmitteln zu oft völlig unbequemen, abgelegenen Orten, die ihnen die Behörden für die Treffen eingeräumt haben.
Die Treffen verlaufen in einem vollkommen neuen, in Weißrussland nie dagewesenen Format. Swetlana Tichanowskaja und ihre „kämpferischen Freundinnen“ (so bezeichnet sie die Vertreterinnen der sich ihr angeschlossenen Stäbe der nichtregistrierten Kandidaten Valerij Zepkalo und Viktor Babariko — Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa) agitieren nicht nur dafür, für bei den anstehenden Wahlen zu stimmen, sondern singen auch Lieder über den Sieg und das Streben der Weißrussen nach Freiheit. Zu einer Hymne der Begegnungen wurde das in Russisch übersetzte Lied „Mury“ („Die Mauern“), das Ende der 70er Jahre die Mitglieder der polnischen Gewerkschaft „Solidarność“ sangen: „Die Zeit ist reif, die Mauern müssen fallen. Hier diese Mauern dürfen nicht stehen. Und die Mauern werden fallen, fallen, fallen. Und sie werden die alte Welt begraben!“. Die Menschen kommen zu den Treffen mit einer von den heutigen Herrschenden verbotenen Symbolik – der weiß-rot-weißen Flagge und dem Wappen „Pahonja“ (ein historisches Wappen von besonderer politischer Bedeutung, der Begriff kann mit „Verfolgung“ übersetzt werden – Anmerkung der Redaktion). Die Miliz beobachtet das Geschehen, doch Behinderungen für die friedlichen Mahnwachen verursacht sie keine. „So etwas hatte keiner vorausgesagt, dass beim Finish dieser Wahlen dem rauen weißrussischen Führer eine Hausfrau entgegenstehen wird, die wiederholt, dass sie keine Politikerin sei“, beschreibt der politische Kommentator Alexander Klaskowskij die Situation. Wobei die Mehrheit und die Sympathien der Bevölkerung offenkundig auf ihrer Seite seien, konstatiert der Experte. „Ihr emotionales, von Positivem durchdrungenes und eine aufrichtige Reaktion auslösendes Kommunizieren mit dem Volk kontrastiert vorteilhaft zu den offiziösen Veranstaltungen des Staatsoberhauptes, der es vorzieht, zu den Begegnungen das „Aktiv“ (d. h. die Nomenklatura) zusammenzunehmen und Elite-Truppenteile zu bereisen“, schreibt A. Klaskowskij.
Das Ausbleiben einer Reaktion der Herrschenden bedeutet nicht, dass sich Alexander Lukaschenko mit der drohenden Niederlage abgefunden hat. Dass er vor einem erneuten Schlag abgetaucht ist, kann man anhand einiger seiner Schritte und Erklärungen urteilen. So hatten, wie aus Erklärungen der Familie des nichtregistrierten Kandidaten und ehemaligen Berater Lukaschenkos sowie Ex-Chef des Parks für Hochtechnologien Valerij Zepkalo folgt, die Behörden beabsichtigt, deren Aktivität zu neutralisieren, indem man androhte, die Kinder wegzunehmen. Veronika Zepkalo erklärte, dass Vertreter der Staatsanwaltschaft in die Schule, in die die Kinder gehen, gekommen waren und die Lehrer gebeten hätten, darüber Briefe zu schreiben, dass sie eine schlechte Mutter sei. Danach ist Valerij Zepkalo heimlich aus Weißrussland ausgereist und hat die Kinder mitgenommen (die Jungs lernen in der Unterstufe bzw. Grundschule). Allein die Tatsache dessen, dass die Kinder außer Landes gebracht wurden, bewerteten einheimische Beobachter als positiv. Zuvor hatte auch Swetlana Tichanowskaja eingestanden, dass sie ihre Kinder ins Ausland gebracht hatte. Doch, während sie die Kinder nach Europa brachte, ist Zepkalo nach Moskau gefahren. Den ausgewählten Ort haben die einheimischen Beobachter als nicht sehr positiv bewertet. „Wir hoffen, dass Wladimir Wladimirowitsch (Putin) meinen Gatten nicht ausliefert“, erklärte Veronika Zepkalo nicht sehr selbstsicher.
Außerdem beabsichtigt Alexander Lukaschenko mit einer programmatischen Rede am 3. August aufzutreten. Der Präsident hat beschlossen, eine Woche vor den Wahlen mit einer Ansprache an das Parlament und das Volk aufzutreten. Traditionell erfolgt dies im April, doch im April dieses Jahres wütete im Land eine von den Behörden nicht anerkannte Coronavirus-Epidemie. Und vor diesem Hintergrund bravouröse Rede zu halten, wäre schon ganz absurd gewesen. Nach Einschätzung von Experten verletzt der nunmehrige Auftritt des Kandidaten für das Präsidentenamt im Parlament die weißrussische Gesetzgebung über die Gleichheit aller Kandidaten. „Das Strafgesetzbuch legt solche Handlungen eindeutig aus, und zwar ist dies ein Missbrauch der Macht oder dienstlichen Vollmachten, was den Tatbestand eines Amtsvergehens bildet“, sagt Professor Dr. jur. Michail Pastuchow. „Dies belegt, dass die Präsidentschaftswahlen bei uns von Anfang an ungerechte sind, denn die Präsidentschaftskandidaten befinden sich nicht in einer gleichen Lage“, betont der Experte. Seinen Worten zufolge wäre es für den amtierenden Präsidenten richtig gewesen, für die Zeit des Wahlkampfes in Urlaub zu gehen.
Die größte Besorgnis der Experten und der einheimischen Öffentlichkeit lösen jedoch die Andeutungen Lukaschenkos hinsichtlich einer gewaltsamen Lösung der Situation aus. Zuvor sprach der Staatssekretär des Sicherheitsrates Andrej Rawkow davon, dass, wenn nötig, die Armee auch kommen werde, um innere Aktionen zu unterdrücken. „Unsere Aufgabe ist es, in dem Moment, wenn dies natürlich erforderlich wird, mit den Truppen des Innern, mit der Miliz und mit den anderen bewaffneten Organen … die Aufgaben zur Verhinderung irgendwelcher terroristischer Erscheinungen, Massenunruhen usw. zu lösen. Wir haben uns darauf vorbereitet, bereiten uns und werden uns darauf vorbereiten“, erklärte Rawkow in einer Sendung des einheimischen Staatsfernsehens.
Allerdings seien nach Meinung von Alexander Lukaschenko die Andeutungen Lukaschenkos hinsichtlich einer gewaltsamen Lösung der Situation auch ein „grober PR-Flop“, der – wie auch das Ignorieren des Coronavirus im Frühjahr – „viele zutiefst empörte und beleidigte“.