Das Dokument, das Alexander Lukaschenko als Krönung seiner langjährigen Herrschaft angekündigt hatte, unterzeichnete er symbolträchtig am Tag des Sieges. Das Dokument regelt die Handlungen der Offiziellen im Falle eines gewaltsamen Todes des Staatsoberhauptes. Experten konstatieren, dass das Dekret nicht den lautstarken Ankündigungen entspreche, rechtliches Durcheinander schaffe und die Gesellschaft auf den Abtritt Lukaschenkos vorbereite.
Das Dekret Nr. 2, das von Alexander Lukaschenko am 9. Mai unterzeichnet wurde, ist am 10. Mai veröffentlicht worden. Es erhielt den spektakulären Titel „Über den Schutz der Souveränität und der Verfassungsordnung“. Alexander Lukaschenko unterzeichnete das Gesetz „eingedenk der Verantwortung gegenüber der heutigen und den künftigen Generationen der Bürger des Landes für die Bewahrung der Souveränität der Republik Belarus, die Gewährleistung ihrer nationalen Sicherheit und territorialen Integrität, des Friedens und der Ruhe sowie den Schutz des Lebens und der Gesundheit der Menschen unter den Bedingungen der globalen Herausforderungen und Gefahren“, heißt es in der Präambel. Entsprechend dem Dokument werde „im Falle eines gewaltsamen Todes des Präsidenten der Republik Belarus … unverzüglich auf der Grundlage eines Beschlusses des Sicherheitsrates“ im Land der Ausnahme- oder Kriegszustand verhängt. Im Weiteren würden alle Staatsorgane, Organisationen und Bürger entsprechend den Entscheidungen des Sicherheitsrates handeln. Die Führungskräfte, die sich diesen Entscheidungen nicht unterordnen werden, könne der nationale Sicherheitsrat entlassen und durch andere ersetzen. Seine Entscheidungen werde dieses Organ durch eine geheime Abstimmung und durch eine qualifizierte Mehrheit von mindestens zwei Dritteln der Stimmen der ständigen Ratsmitglieder treffen. Bei den Sitzungen des Sicherheitsrates werde der Premierminister den Vorsitz führen.
Es sei daran erinnert, dass die erste Erwähnung über das sich in Vorbereitung befindende Dekret am 17. April erfolgte. Lukaschenko annoncierte das Dokument und bezeichnete es „als eine prinzipielle…Entscheidung in dem Vierteljahrhundert der Präsidentschaft“. Es sollte berichten, „wie die Machtorgane in Belarus gestaltet sein werden“, wenn es Alexander Lukaschenko auf einem nicht geben werde. „Das Hauptziel ist, dass „sie“ selbst in diesem Falle nicht die Macht bekommen“, betonte Lukaschenko. Wer „sie“ sind, hatte das Staatsoberhaupt Weißrusslands nicht konkretisiert. Innerhalb des letzten Jahres hatte sich der Feind mehrfach geändert. Zu Beginn der Wahlkampagne hatte Russland gemäß der Version der Offiziellen nach der Souveränität und Unabhängigkeit Weißrusslands getrachtet, dass Wagner-Leute (laut Presseberichten Vertreter eines russischen privaten Militärunternehmens, die als Söldner im Ausland agieren – Anmerkung der Redaktion) ins Land geschickt hatte. Danach wollte Polen mit Unterstützung von NATO-Truppen angeblich das Verwaltungsgebiet Grodno erobern. Und noch später wurden zu Terroristen die Anführer der Proteste, Swetlana Tichanowskaja und Pawel Latuschko, erklärt. Last and least habe entsprechend einer zum gegenwärtigen Zeitpunkt letzten Version US-Präsident Joe Biden persönlich angeordnet, Lukaschenko umzubringen, und dafür den Literaturwissenschaftler und Publizisten sowie ehemaligen Mitstreiter Lukaschenkos Alexander Feduta, den in den USA lebenden Anwalt Jurij Senkowitsch, den Führer der Oppositionspartei „Weißrussische Volksfront“ Grigorij Kostusjew und noch einige weißrussische Emigranten angeheuert.
Bei der Kommentierung der Pläne Lukaschenkos sprachen Experten darüber, dass sie der Verfassung widersprechen würden, deren Artikel 89 laute, dass im Falle der Unmöglichkeit einer Ausübung seiner Pflichten durch den Präsidenten die Macht an den Premierminister übergehe. Die Rede war auch vom vergeblichen Charakter der Anstrengungen Lukaschenkos, da gleich nach seinem Tode seine Erlasse und Dekrete nicht mehr realisiert werden würden, und über die Gefahr eines Übergangs der Macht an eine Militärjunta. Swetlana Tichanowskaja behauptete, dass das Auftauchen des Dekrets ein Ergebnis der Proteste sei, die Lukaschenko gezwungen hätten, sich über einen Abtritt Gedanken zu machen. Die Experten-Gemeinschaft beeilte sich jedoch nicht mit endgültigen Schlussfolgerungen, da die Ankündigungen nicht immer den real unternommenen Schritten entsprechen würden.
Die Erwartungen haben sich teilweise bewahrheitet. „Die Vorbereitung auf einen Ausnahmezustand, das Delegieren der Vollmachten an eine nicht vom Volk gewählte Struktur – und dies ist die Krönung der Herrschaft des ersten Präsidenten? Dies ist alles, was er als politisches Vermächtnis zurückzulassen bereit ist?“, reagierte der politische Kommentator Alexander Klaskowskij auf die Veröffentlichung des Wortlauts des Dekretes. „Die Symbolik des Dekretes wurde zu einer düsteren und zweideutigen“, meint er. Was immer auch Lukaschenko mit diesem Dekret sagen wollte, die Gesellschaft hat vernommen, dass die Herrschenden begreifen, dass sie unpopulär sind, dass er selbst hat vor einer Abrechnung mit ihm große Angst hat und dass im Land kein normales System staatlicher Institutionen geschaffen worden ist, wenn ein Scharfschütze imstande ist, alles zu zerstören“, urteilt Alexander Klaskowskij auf seinem Telegram-Kanal.
„Aus diesem Dokument kann man nur dies schlussfolgern, dass Lukaschenko sich anschickt, bis an sein Lebensende zu herrschen und nach dem (möglicherweise kommt er auf einmal durch ein Attentat ums Leben) die Macht an einen Militärrat übergeht, der sich mit den Fragen des (Macht-) Transits befassen wird. Das Ziel letzteren ist entsprechend der Absicht des Diktators die Bewahrung der Macht in den Händen der „Familie““, resümiert der Politologe Pawel Usow. Er ist überzeugt, dass, „sobald Lukaschenko verstirbt, dieser „Rat“ die Souveränität und das Land vernichten wird. Da sich die einzige Stütze all dieser Leute in Russland befindet“.
„Das politische Vermächtnis von Alexander Lukaschenko“, charakterisierte der Politologe Valerij Karbalewitsch das Dokument. „Nicht zufällig haben in früheren Zeiten die Führer die Versuche von Verschwörungen vor dem Volk verheimlicht, um ihre Schwäche und Empfindlichkeit allen zur Schau zu stellen und ihren Feinden kein zusätzliches Gewicht zu verschaffen“, urteilt der Experte. In dem Wunsche, das Volk einzuschüchtern und die Opposition zu diskreditieren, hätten die Offiziellen tatsächlich für ein Entsakralisierung Lukaschenkos gewirkt, meint er. „Ein Vermächtnis bzw. Testament schreiben die Menschen bei uns zum Zeitpunkt des Empfindens eines Übergangs in eine andere, in eine bessere Welt. In unserem Fall geht es um den politischen Abgang Lukaschenkos“, ist Karbalewitsch überzeugt. „Das Dekret Nr. 2 – dies ist eine Ausweglosigkeit, die Empfindung eines Urteils des Schicksals, des Fehlens einer Perspektive… Mit diesem Dekret eröffnet er selbst der Gesellschaft einen Horizont in eine Post-Lukaschenko-Epoche… Im Unterbewusstsein der weißrussischen Gesellschaft wird der Gedanke verankert, dass man – wie sich herausstellt – auch ohne Lukaschenko leben kann. Dies ist eine Wende in den Vorstellungen seiner Anhänger“, meint der Experte. Übrigens, die Spießer in den sozialen Netzwerken und in den Küchen diskutieren bereits die Wahrscheinlichkeit einer möglichen heimlichen Ausreise Lukaschenkos mit einer Inszenierung des eigenen Todes.
Was die mögliche Realisierung jenes Szenarios angeht, das im Dekret dargelegt worden ist, so schaffe es nach Meinung von Valerij Karbalewitsch ein „juristisches Durcheinander, das mit nichts Gutem enden kann“. Der Experte lenkt das Augenmerk darauf, dass der Name des Dokuments nicht dem Inhalt entspreche. „Was hat beispielsweise mit der Souveränität der Mechanismus für die Machtübergabe nach dem Weggang Lukaschenkos zu tun?“, fragt er sich. Sein Wort über die Übereinstimmung des Dokuments mit der Verfassung muss auch das Verfassungsrecht sprechen, meint der Experte.