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Lukaschenko will Leben in der Sperrzone wiederherstellen


Alexander Lukaschenko besuchte Gebiete, die durch die Havarie im AKW Tschernobyl in Mitleidenschaft gezogen wurden, führte eine Beratung durch und ordnete an, ein Programm zur Wiederherstellung des Lebens in der Sperrzone auszuarbeiten. Seinen Opponenten hatte Lukaschenko nicht erlaubt, irgendwelche Veranstaltungen im Zusammenhang mit dem 35. Jahrestag der Havarie durchzuführen. Dennoch haben die viel Gemeinsames zwischen der Vergangenheit und dem heutigen Weißrussland gefunden: Die Offiziellen lügen. Und das Leben eines Menschen kostet für sie nichts.

Am Tag des Jahrestags der Havarie im AKW Tschernobyl begab sich Alexander Lukaschenko traditionsgemäß in die betroffenen Gebiete. Am 26. April rief er in Brahin überraschend und ungeplant, wie sein Pressedienst behauptete, eine Beratung ein und ordnete an, bis zum September ein Programm zur Wiedergeburt des Landes des Polessischen Staatlichen Radioökologischen Schutzgebietes und um dieses herum auszuarbeiten. „Wir müssen, ich verstehe es so, ein abschließendes, endgültiges Programm zur Wiedergeburt dieses Gebietes ausarbeiten. Wie wir es oft genannt haben, zur Liquidierung der Folgen der Tschernobyl-Katastrophe. Endgültig“, sagte Alexander Lukaschenko. „Denn wir haben 35 Jahre nach der Tschernobyl-Katastrophe gelebt und in der Praxis verstanden, welchen Weg wir nicht nur einfach gehen, sondern dass wir das Leben wiederherstellen müssen“, erläuterte er den Grund. Lukaschenko wies an, nun nicht die ganz kleinen Dörfer wiederaufzubauen. Auf den wiederhergestellten Territorien werde man die Landwirtschaft, die Holzverarbeitung und die Holzaufbereitung entwickeln. Es wurde gleichfalls der Auftrag erteilt, die Zweckmäßigkeit des Baus einer Eisenbahnlinie Shitkowitschi-Jelsk zu prüfen. „Nun, auch andere Straßen und Bahnlinien muss man heranführen. Kurzum, man muss das Gebiet wiederherstellen und sich festlegen, wo die Menschen leben werden. Wir müssen begreifen, welche Betriebe dort zu errichten sind, was für Arbeitsplätze es geben wird“, sagte Alexander Lukaschenko.

Es sei daran erinnert, dass im Land auch so alljährlich entsprechende 5-Jahres-Programme verabschiedet werden. Das neue – für die Jahre 2021-2025 – wurde vor nicht allzu langer Zeit angenommen, im März dieses Jahres. Solch großangelegten Pläne sieht dieses Dokument nicht vor.

Wie auf der Internetseite des Polessischen Staatlichen Radioökologischen Schutzgebietes ausgewiesen wird, beträgt seine Fläche 217.200 Hektar. Gebildet wurde es 1988 auf den am stärksten „verunreinigten“ Territorien des Sperrgebietes. Die Bevölkerung war von dort evakuiert worden. Verboten wurde, auf diesen Böden einer landwirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen. Es handelt sich dabei um eine 30 Kilometer breite Schutzzone um das AKW Tschernobyl in den Kreisen Brahin, Narowlja und Choiniki. Bis zur Havarie hatten dort 22.000 Menschen gelebt. Als die Offiziellen von Weißrussland das Schutzgebiet bildeten, hatten sie beschlossen, auf den geräumten Territorien wissenschaftliche Untersuchungen der Pflanzen- und Tierwelt durchzuführen, den Einfluss der radioaktiven Verschmutzungen auf sie zu untersuchen, aber auch Technologien zur Rehabilitierung bzw. Rekultivierung der verschmutzten Territorien zu entwickeln.

Bereits auf Anordnung von Lukaschenko wurde in dem Schutzgebiet eine experimentelle Basis geschaffen, die einen Tierzuchtbetrieb, einen Obstgarten, ein Gelände für Bienenstöcke, Aufzuchtflächen für die Aufzucht von Pfirsich-, Aprikosen- und Apfelbäumen sowie Holzverarbeitungsproduktionsstätten umfasst. Die landwirtschaftliche Produktion wurde auf 700 Hektar Boden wiederhergestellt. Das Schutzgebiet bietet auch touristische Dienstleistungen an. Man kann sich dort bis zu fünf Tagen ohne einen Schaden für die Gesundheit aufhalten.

Wie auf der Internetseite des Katastrophenschutzministeriums von Weißrussland mitgeteilt wird, in dessen Zuständigkeitsbereich sich dieses Objekt befindet, befinden sich auf dem Territorium des Schutzgebietes rund 30 Prozent des über Weißrussland niedergegangenen Cäsiums-137, 73 Prozent von Strontium-90 sowie 97 Prozent der Isotopen von Plutonium-238, -239 und -240. 1986 erreichte die maximale Verschmutzungsdichte des Bodens durch Cäsium-137 1622 Сi/km2, durch Strontium-90 bis zu 70 Ci/km2, durch die Plutoniumisotopen 238, 239 und 240 bis zu 5 Ci/km2, durch Americium-241 drei Ci/km2. Die Stärke der Gamma-Strahlung bis zu 2000 Mikroröntgen in der Stunde (20 Mikro-Sievert/Stunde). Wie Experten betonen, müssen, damit Cäsium-137 aufhört, für die Gesundheit der Menschen gefährlich zu sein, mindestens sechs Halbwertszeiten vergehen. Bisher ist nur eine vergangen.

„Für das Territorium des Schutzgebietes ist das Vorhandensein hoher Verschmutzungsgrade durch Transuran-Radionukliden mit großen Halbwertzeiten charakteristisch: Plutonium-238 – 87,7 Jahre, Plutonium-239 – 24110 Jahre, Plutonium-240 – 6564 Jahre, Plutonium-241 – 14,4 Jahre, Americium-241 – 433 Jahre. Im Zusammenhang damit kann ein großer Teil des Territoriums des Schutzgebietes selbst in der fernen Perspektive nicht für eine wirtschaftliche Nutzung wiederverwendet werden“, informiert Weißrusslands Katastrophenschutzministerium auf seiner Internetseite.

Ihre Meinung über das Geschehene zu äußern und die traditionellen Aktionen zum Jahrestag der Havarie im AKW Tschernobyl durchzuführen, hatten die Offiziellen den Opponenten nicht erlaubt. Früher waren sie für die weißrussische Opposition traditionelle gewesen. Zu verschiedenen Zeiten war der Massencharakter des „Tschernobyl-Schljachs“ („Tschernobyl-Weg“) von unterschiedlicher Art. Im Jahr 2006 beispielsweise waren im Rahmen der Protestwelle nach den Präsidentschaftswahlen über 50.000 Menschen auf die Straßen von Minsk gekommen. Es gab ernsthafte Zusammenstöße mit der Miliz. Im Jahr 2011 ereigneten sich ebenfalls massenhafte Repressalien im Land, und es gab keine Aktionen. Und im vergangenen Jahr hatte die Opposition selbst aufgrund der Coronavirus-Epidemie die Aktion abgesagt.

In diesem Jahr hatten der Vorsitzende der weißrussischen Partei „Die Grünen“, Dmitrij Kutschuk, der Führer der Weißrussischen Volksfront, Grigorij Kostusjew, und die Vertreterin der Weißrussischen sozialdemokratischen Partei Ludmilla Wolkowa bei den Behörden einen Antrag eingereicht. Im Organisationskomitee waren außer ihnen auch Vertreter der Bewegung „Für die Freiheit“ und des Stabs von Swetlana Tichanowskaja gewesen.

Erwartungsgemäß hatten die Offiziellen die Durchführung der Aktion verweigert. In Minsk erfolgten in den Morgenstunden des 26. Aprils einige lokale Aktionen. Mädchen mit Schirmen nicht in weiß-rot-weißen Farben – wie gewohnt -, sondern in schwarzer Farbe waren auf die Straßen gekommen. Außerdem hatte es einer der Antragsteller „geschafft“, in die U-Haftanstalt des KGB zu kommen. Grigorij Kostusjew bezichtigt man der Teilnahme an einer Verschwörung zwecks Machtergreifung. Es war angedacht worden, dass der diesjährige „Tschernobyl-Schljach“ unter den Losungen „Stoppt das juristische Tschernobyl!“ und „35 Jahre Tschernobyl in Belarus, die Katastrophe dauert an“ erfolgt.

Mit einer speziellen Erklärung aus Anlass des tragischen Datums hatte sich Swetlana Tichanowskaja, die Anführerin der weißrussischen Proteste, zu Wort gemeldet. „Leider macht Tschernobyl gegenwärtig ein zweites, ein politisches und humanitäres Tschernobyl durch. Vor 35 Jahren demonstrierte der Staat, dass Menschenleben für ihn nichts bedeuten. Und das gleiche sehen wir auch heute. Diejenigen, die sich die Herrschenden nennen, dienen nicht den Weißrussen, sondern vernichten die Weißrussen – durch Folterungen in den Gefängnissen, durch Gewalt auf den Straßen sowie durch Strafverfahren wegen des Wunsches nach Veränderungen“, heißt es in der Erklärung. Nach Meinung von Tichanowskaja würden jene Zeit und das heutige Weißrussland Lüge vereinen, die „buchstäblich in der Luft zu empfinden ist“. „Vor 35 Jahren hatte der Staat entschieden, die Menschen über die Katastrophe zu belügen. Und jetzt belügt man uns wieder. Hinsichtlich der Dimensionen der Pandemie, hinsichtlich der Wahlergebnisse, in Bezug dessen, dass es in Belarus keine Hunderten von Häftlingen aufgrund politischer Motive gebe“, konstatierte sie. Swetlana Tichanowskaja rief die Weißrussen auf, am Abend, um 20.30 Uhr Kerzen neben Gotteshäusern zur Erinnerung an Tschernobyl zu entzünden. Leider waren ihrem Aufruf nur wenige gefolgt, zu groß ist die Furcht, von den Repressalien des Lukaschenko-Regimes erfasst zu werden.