Die weißrussische Gesellschaft hat sich verändert und wird schon niemals die frühere sein. Alexander Lukaschenko sucht seit August vergangenen Jahres Beweise für seine Legitimität und rechnet mit seinen Opponenten ab. 1994 war er ein Mann seiner Zeit. Im Jahr 2020 aber hat er seinen Platz in der Geschichte verloren. Den Kampf führt er jetzt nicht um eine Entwicklung des Landes, sondern um das Überleben der herrschenden Gruppierung.
Lukaschenko hat in den seit dem Zeitpunkt der Präsidentschaftswahlen vergangenen zwölf Monaten um sich seine ideellen Anhänger konsolidieren können. Laut Angaben mehrerer soziologischer Untersuchungen übersteigt der Anteil seiner Anhänger keine 25 Prozent. Und sein Anti-Rating nähert sich den 70 Prozent. Sich die Unterstützung der Mehrheit zurückzuholen, ist Lukaschenko bereits nicht mehr imstande. In der Gesellschaft hat sich das Misstrauen gegenüber den staatlichen Instituten und Machtorganen gefestigt. Es lohnt, das aktive Zurückholen von Bankeinlagen durch die Bevölkerung, den Erwerb von Devisen, die freiwillige Kündigung von Beschäftigten in Unternehmen und die Emigration hervorzuheben. Gesonderte Beachtung verdient das umfassende Scheitern der Immatrikulationskampagne der weißrussischen Hochschule. Die Abiturienten haben es vorgezogen, Dokumente bei russischen und europäischen Bildungseinrichtungen einzureichen.
Sanktionen können eine Zuspitzung der politischen Krise provozieren
Alexander Lukaschenko vermochte in den 1990er Jahren geschickt die Prioritäten zu setzen und, indem er das sowjetische industrielle Fundament ausnutzte, bestimmte Erfolge auf dem internen, dem inländischen politischen Feld erzielen. Das Modell der Konservierung der alten Ordnungen und Vorgehensweisen hatte keine Modernisierung und Erneuerung vorgesehen. Das Sich-stützen auf die Arbeiter der staatlichen Industriebetriebe hatte sich in der postindustriellen Gesellschaft als ein fehlerhaftes erwiesen. Die Außenpolitik Lukaschenkos hatte sich vorteilhaft von der Innenpolitik unterschieden. Zwischen den Interessen des Ostens und des Westens lavierend, zwischen den Versprechen bezüglich einer Integration mit Russland und den Zusagen gegenüber dem kollektiven Westen, die Integrationsprozesse zu sabotieren, nutzte Lukaschenko die Schwächen und Interessen beider Seiten aus, wobei er von ihnen die Dividenden abschöpfte. Der Westen hatte viele Jahre die Augen vor den offenkundigen Menschenrechtsverletzungen und unehrlichen Wahlen verschlossen, wobei er einen Zugang zu seinen Märkten und Finanzinstrumenten beließ. Und Russland hatte reichlich die Wirtschaft von Weißrussland mit seinem Markt, Krediten sowie billigem Gas und Erdöl gesponsort.
Die Präsidentschaftswahlen, die am 9. August 2020 stattgefunden hatten, wurde im Westen nicht anerkannt. Der Formalismus und die Schwäche des Sanktionsdrucks auf das weißrussische Regime in den ersten Monaten nach den Wahlen begannen, zu viele Fragen gegenüber den Eliten der europäischen Demokratien auszulösen. Im Frühjahr dieses Jahres waren die europäischen Länder bereit, mit Lukaschenko zu handeln. Zumal es die Praxis eines Austauschs von Gefangenen im Gegenzug zur Aufhebung von Sanktionen und einem Entfrosten der Beziehungen bereits gegeben hatte. Der Zwischenfall mit der erzwungenen Landung eines Ryanair-Jets in Minsk im Mai wurde zu jenem Detonator, der das weißrussische Thema ins Blickfeld der westlichen Politiker zurückholte.
Am 24. Juni verhängte der EU-Rat sektorale Wirtschaftssanktionen, die in der Praxis viele Ausnahmen besitzen. Am 9. August verkündeten die USA, Kanada und Großbritannien neue Sanktionen. Das neue Sanktionspaket seitens der westlichen Länder wurde zum stärksten und berührte einzelne Wirtschaftssektoren. Die neuen Sanktionen gegen Belarus haben faktisch die Epoche des politischen Lavierens von Lukaschenko zwischen dem Osten und dem Westen abgeschlossen. Zu Ende gegangen ist die Periode der vielen Vektoren, die durch Minsk als ein Instrument genutzt wurden, um finanzielle Ressourcen aus Moskau anzuziehen.
Die realen wirtschaftlichen Folgen durch die Sanktionen werden etwa im Dezember dieses Jahres spürbar werden. Bisher ist es schwierig, die Effektivität der ergriffenen Maßnahmen zu beurteilen, doch die Schätzung der Verluste kann bis zu zehn Prozent des BIP ausmachen. Belarus ist von der Möglichkeit abgeschnitten worden, Kredite im Westen aufzunehmen. Zu den spürbarsten Sanktionen können die in Bezug auf den Konzern „Belaruskali“ werden, der rund sechs Prozent der Haushaltseinnahmen bringt. Für russische Investoren und Banken ergeben sich gleichfalls wesentliche Risiken durch ein Investieren in weißrussische staatliche Obligationen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass solche Deals Sanktionen für deren Käufer bescheren werden.
Es macht Sinn, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass in die Sanktionsliste der EU und Großbritanniens der russische Staatsbürger Michail Guzerijew aufgenommen wurde. Dies ist ein wichtiges Signal für die russische politische und Business-Elite, sich von jeglichen Kontakten mit Lukaschenko fernzuhalten. Die weißrussische politische Krise hat auch für China Komplikationen verursacht, das an der Sicherheit und Stabilität des Transits von Frachtgütern über die „Seidenstraße“ interessiert ist.
Sanktionen als ein äußerer Faktor des Drucks auf das Regime führen selbst nicht zu einem politischen Transit. Sie können jedoch eine Zuspitzung der innenpolitischen Krise fördern und bereits im Herbst Streiks in Unternehmen provozieren. Das Ausmaß wird von der Bereitschaft der Gesellschaft zu einem Widerstand gegen das System abhängen. Entsprechend den Ergebnissen der Ereignisse des vergangenen Jahres haben mehrere tausend illoyale Mitarbeiter und Staatsangestellte die Arbeit verloren. Der Personalmangel nötigte dazu, ein Verbot für das Entlassen hochspezialisierter Fachkräfte zu verhängen. In den Unternehmen hat sich die staatliche Propaganda verstärkt. In Großbetrieben hat man erlaubt, nur Knopf-Mobiltelefone zu verwenden, und verboten, politische Themen zu erörtern.
Als Antwort auf die Sanktionen haben die weißrussischen Offiziellen die politischen Repressionen gegen die Zivilgesellschaft, nichtkommerzielle Organisationen und die Medien verstärkt. Betroffen wurden nicht nur prowestliche Strukturen, sondern auch prorussische. Die Offiziellen haben im Verlauf eines Jahres die Gesetzgebung verschärft, die Möglichkeiten für die Verhängung des Ausnahme- und eines Kriegszustands im Falle realer Bedrohungen erweitert. Zu erwarten sind Repressionen gegenüber europäischen und amerikanischen Konzernen auf dem weißrussischen Markt.
Einerseits scheint die Verhängung sektoraler Wirtschaftssanktionen ein großes Geschenk für Russland zu sein. Andererseits kann jedoch die Integration mit einem Staat mit einer illegitimen Führungsriege nichtvoraussagbare Folgen bescheren. Man darf sich nicht den Illusionen hingeben, dass ein schwacher Lukaschenko imstande sei, sich im Interesse der Bewahrung seiner Macht auf Zugeständnisse einzulassen und „Roadmaps“ zur Vertiefung der Integration zu unterschreiben. Solche Entscheidungen werden den russisch-weißrussischen Beziehungen einen kolossalen Schaden zufügen und härtere Sanktionen gegen Russland nach sich ziehen. Unweigerlich werden antirussische Stimmungen in Belarus und in der weißrussischen Diaspora in der ganzen Welt aufkommen.
Seit Anfang Juni haben die weißrussischen Behörden eine handgemachte Migrationskrise an der Grenze zu EU-Ländern organisiert. Mit solch einer eigenartigen Erpressungsmethode rechnet Lukaschenko damit, die Aufnahme von Verhandlungen mit seiner Regierung und seine Anerkennung als Präsident seitens der europäischen Nachbarn zu erreichen. Die Provokationen unter Beteiligung von Militärs und die Androhungen, „einen dritten Weltkrieg zu beginnen“, haben eine entgegengesetzte Wirkung.
Verfassungsreferendum
Auf der Tagesordnung stehen die Freilassung der politischen Häftlinge und ein Rückzug Lukaschenkos aus der Politik. Er beeilt sich nicht, freiwillig auf die Herrschaft zu verzichten, aber er bereitet ein Sicherheitskissen für sich und die nächste Umgebung vor. Einige Mitglieder seiner Familie sind bereits gezwungen gewesen, nach Moskau zum Studium zu gehen.
Eine der möglichen Varianten für eine Lösung der politischen Krise ist die Abhaltung eines Referendums zur Änderung der Verfassung, woran man aus dem Kreml regelmäßig erinnert. Darüber spricht man bereits ein Jahr. Der Prozess hat sich aber in die Länge gezogen. Die von Lukaschenko etablierte Verfassungskommission besteht nur aus machttreuen Experten und Beamten. Der von ihnen vorgelegte Entwurf des Grundgesetzes sieht neben dem Präsidenten und einem Parlament aus zwei Kammern die Bildung eines neuen höchsten Machtorgans – der Gesamtweißrussischen Volksversammlung – vor. Sie wird unbegrenzte Vollmachten besitzen. Der Gesellschaft will man die Variante einer Monarchie unterjubeln, in der ein Generalsekretär berechtigt sein wird, den gewählten Präsidenten abzusetzen und die Frage hinsichtlich der Legitimität der Wahlen zu klären. Lukaschenko möchte listig abtreten, dabei aber der wichtigste Chef bleiben. Er wird niemals mehr zustimmen, Volkswahlen zu spielen. Solch ein Modell schafft die Gefahr einer Doppelherrschaft und ist kein stabiles System.
Die Vorlage nur eines Verfassungsentwurfs zu einem Referendum wird die derzeitige politische Krise nur vertiefen. Die Bürger werden in solch einem Fall zwischen zwei von Lukaschenko vorgeschlagenen Verfassungen auswählen – der geltenden und der neuen.
Ein Kompromiss wäre das Szenario der Vorlage von alternativen Entwürfen des Grundgesetzes zu einem Referendum, die unter Beteiligung einer breiten Bürgerkoalition vorbereitet werden. In der gegenwärtigen Situation erwartet die Gesellschaft jedoch in erster Linie neue Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Eine neue Verfassung muss ein erneuertes professionelles Parlament vorbereiten.
Der Kreml, der wahrscheinlich Lukaschenko die Idee vom Verfassungsreferendum schenkte, und der kollektive Westen in Gestalt der OSZE könnten zu einem Garanten für die Abhaltung neuer Präsidentschaftswahlen, aber auch eines transparenten Verfassungsreferendums werden. In solch einem Fall kann man einen Mechanismus für einen sanften bzw. schonenden Transit schaffen, indem in den Übergangsbestimmungen der Verfassung die Abhaltung neuer Präsidentschafts- und Parlamentswahlen verankert wird. Andernfalls kann die Republik durchaus zum Regime einer heißen Phase eines vollwertigen Bürgerkrieges abrutschen. Moskau, das die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen des vergangenen Jahres anerkannte, hat teilweise auch die Verantwortung für das Geschehen im Land übernommen. Der Sanktionsdruck seitens des kollektiven Westens wird nur zunehmen. Russland wird direkt oder indirekt gezwungen sein, Lukaschenko die wegfallenden Einnahmen zu kompensieren.
Strategisch ist Belarus für den Kreml verlorengegangen. Das Arbeiten nur mit einem Machtzentrum führte zu einem drastischen Vertrauensverlust seitens der weißrussischen Gesellschaft gegenüber Russland. In Moskau begreift man nicht die tiefgreifenden Transformationen, die sich im Land vollziehen. Praktisch ist es unmöglich, das Ansehen wiederherzustellen und besonders das Vertrauen der jungen Menschen zurückzugewinnen.
Der zu erwartende Machttransit wird nur teilweise erlauben, die politische Krise zu lösen. In Belarus hat sich ein kollektiver Lukaschenko herausgebildet. Dies ist ein besonderer Typ des Denkens und Handelns der Beamten aller Ebenen. Nach der Ablösung des Staatsoberhauptes im Land wird sich akut ein Mangel an professionellen Fachkräften ergeben. Belarus ist an einen Punkt gekommen, hinter dem ein Verlust der Staatlichkeit folgen kann. Im Verlauf von drei Jahrzehnten ist im Land keine Mittelklasse geschaffen worden. Und es ist keine starke nationale Elite entstanden, die in der Lage ist, den Staat vor inneren und äußeren Gefahren zu schützen. Die nächsten sechs Monate verheißen viele überraschende Ereignisse, die historische Bedeutung haben können.