Die geplante Lieferung operativ-taktischer „Iskander“-Komplexe an Weißrussland hat für gehörige Aufregung in Europa gesorgt. Die Staats- und Regierungschefs der G-7 verurteilten die Entscheidung von Wladimir Putin, Minsk mit Waffen zu versorgen, die in der Lage sind nukleare Gefechtsköpfe zu tragen.
Nach Meinung der Mitglieder der G-7 verwende Russland eine „ungerechtfertigte Rhetorik“. Ihrerseits droht die G-7 Russland mit „strengen Konsequenzen“. Worin ihr Wesen besteht, ist unklar. Moskau hat man scheinbar schon alles genommen. Jedoch ist der Westen gewillt, selbst zum eigenen Schaden den Sanktionskrieg fortzusetzen.
„Im Verlauf der nächsten Monate wird die Russische Föderation an Minsk „Iskander-M“-Komplexe übergeben, die sowohl ballistische als auch Flügelraketen einsetzen können. Und dies sowohl in einer konventionellen als auch in einer nuklearen Ausführung“, teilte Russlands Präsident Wladimir Putin bei einem Treffen mit Weißrusslands Staatsoberhaupt Alexander Lukaschenko in Petersburg mit.
Die Erklärung des russischen Staatsoberhauptes als eine plötzliche zu bezeichnen, gelingt nicht. Beispielsweise ist die Entfaltung von „Iskander“-Raketenkomplexen in Russlands Verwaltungsgebieten Leningrad und Kaliningrad seinerzeit zu einer direkten Antwort auf die Handlungen der USA und der NATO in Osteuropa geworden. „Wir haben ehrlich und offen die „Partner“ gewarnt, dass ein weiteres Vorrücken des Nordatlantikpaktes zu unseren Grenzen unverzüglich zu Antwortmaßnahmen führen wird“. In diesem Kontext wurde auch Weißrussland erwähnt.
Brüssel und Washington taten so, als ob sie nichts hören. Man entfaltete in Polen und Rumänien Mk-41-Raketenabwehrsysteme, die in der Lage sind, BGM-109-Tomahawk-Angriffsflügelraketen einzusetzen. Im Baltikum hat man F-16-Jagdflugzeuge, die für einen Einsatz von nuklearen Kampfmitteln angepasst worden sind, ins dortige System der ständigen Gefechtsbereitschaft integriert.
Zu alle dem haben die Polen und Balten, die sich vor einer „russischen Aggression“ schützen wollen, die Amerikaner eingeladen, auf ihren Territorien Militärstützpunkte einzurichten. Und am 18. Juni blockierte Litauen den Transit russischer Frachtgüter nach Kaliningrad.
Und nach alle dem hat man sich in der G-7 auf einmal an Garantien für eine gegenseitige Sicherheit erinnert. Obgleich der Gastgeber und Teilnehmer des jüngsten G-7-Gipfels, Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz, direkt erklärte, dass eine Rückkehr zu den einstigen Beziehungen mit Russland angesichts der Situation in der Ukraine unmöglich sei. Da steht aber die Frage: Hatte man Sie etwa nicht gewarnt?
Bemerkenswert ist, dass der weißrussische Staatschef nicht das erste Jahr Moskau um Lieferungen von „Iskander“-Komplexen bittet. Jedoch hatte Alexander Lukaschenko bisher jedes Mal eine Ablehnung erhalten. Grund war die Notwendigkeit einer erstrangigen Umstellung russischer Raketenbrigaden auf den neuen Komplex.
Dabei spielte Minsk in diesem Prozess nicht die letzte Rolle. Das Fahrzeug, in dessen Aufbau sich die ballistischen Raketen oder Container mit den Flügelraketen befinden, sind aus weißrussischer Produktion. Zu bestimmten Zeitpunkten verschaffte dies Alexander Grigorjewitsch (Lukaschenko) die Möglichkeit, die Situation für eine Lösung von Wirtschaftsfragen mit Moskau zu lösen. Beispielsweise bei der Preisbildung für das von Russland gelieferte Erdgas. Dies ist allerdings bereits in der Vergangenheit.
Möglich ist, dass die russische Entscheidung von der Lieferung von US-amerikanischen Mehrfach-Raketenwerfern M142 HIMARS an die Ukraine beeinflusst wurde. Dies ist eine mobile Anlage im Modulformat, die erlaubt, sowohl nichtlenkbare Raketengeschosse mit einer Reichweite von 32 bis 80 Kilometern als auch operativ-taktische Raketen aus der ATACMS-Familie (Army TACMS Family of Munitions, also ballistische Kurzstreckenraketen) abzufeuern. Zu dieser Serie gehören mehrere Raketentypen. Die MGM-140A sind nichtlenkbare mit einer Reichweite von 128, laut anderen Angaben von 165 Kilometern. Sie haben eine Gefechtsladung von 950 Streu- bzw. Submunitionen. Die MGM-140B haben bereits eine Reichweite von 165 bis 300 Kilometern, verfügen über ein kombiniertes satellitengestütztes Lenksystem und haben bis zu 300 Submunitionen (Bomblets). Die MGM-140E ist die modernste Entwicklung dieser Familie von Raketen. Die Reichweite soll bis zu 270 Kilometer betragen. Und zum Ziel werden Streumunitionen mit einer Masse von 227 Kilogramm gebracht.
Nun, und schließlich gibt es da noch die Version PrSM, die in der Lage ist, Ziele in einer Entfernung von bis zu 500 Kilometern zu treffen. Im kommenden Jahr wird ihre Auslieferung an die US Army erwartet. Das Vorhandensein aller dieser Raketenmunition macht die HIMARS-Systeme zu einem Analog der sowjetischen „Totschka-U“- und der russischen „Iskander“-Raketen.
Die Amerikaner liefern Systeme mit einer minimalen Reichweite in die Ukraine, da die Administration von Joseph Biden befürchtet, dass die Ukraine mit Hilfe der HIMARS-Komplexe beginnen werden, Schläge gegen das Territorium Russlands zu führen (als Antwort darauf, dass die russische Armee vom Territorium Russlands aus Angriffe gegen Objekte in der Ukraine vornimmt – Anmerkung der Redaktion). Theoretisch wird dies den ukrainischen Militärs erlauben, beispielsweise aus dem Verwaltungsgebiet Charkow praktisch alle Städte der Verwaltungsgebiete Kursk, Brjansk und Belgorod zu erreichen. Einen direkten Konflikt mit Moskau möchte aber Washington vermeiden.
Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij erklärt, dass Derartiges nicht geschehen werde. Die US-Botschafterin in der Ukraine, Bridget A. Brink, sagt aber offenherzig, dass das Kommando der Streitkräfte der Ukraine eigenständig die Entscheidung über die Ziele und der Reichweite der Schläge, die mit Hilfe der amerikanischen Systeme geführt werden, treffen werde.
In dieser Hinsicht sind die „Iskander“-Raketen ein ernsthafter ausgleichender Faktor. Auf sieben äußerlich absolut gleichartigen ballistischen Raketen können zehn Typen unterschiedlicher Gefechtsköpfe eingesetzt werden. Sie können Kassetten-Gefechtsköpfe sein, die aus 54 separaten Gefechtselementen bestehen, mit einer großen Aufschlagskraft für die Vernichtung von tiefliegenden und gut befestigten Objekten, Gefechtsköpfe mit Streumunitionen und mit einer volumetrischen Sprengwirkung, aber auch nukleare. Was Wladimir Putin augenscheinlich speziell im Gespräch mit Alexander Lukaschenko unterstrichen hatte.
All diese Versionen fliegen 500 Kilometer weit, was zum heutigen Zeitpunkt erheblich weiter ist als bei den HIMARS-Komplexen. Und da gibt es noch eine Nuance: Die Entfernung von der weißrussischen Grenze zur Ukraine bis nach Kiew beträgt hinsichtlich der Luftlinie nur ganze 432 Kilometer.
Um was für eine Anzahl von „Iskander“-Komplexen es geht, ist unbekannt. Die russische Armee erhält sie als Brigade-Sätze. Zu jedem von ihnen gehören insgesamt 51 Maschinen – zwölf Startanlagen (auf jeder jeweils zwei Raketen), zwölf Transport- und Lade-Maschinen, elf Kommandostabsfahrzeuge, 14 Sicherstellungsfahrzeuge, ein Fahrzeug für Regelarbeiten und technische Wartung, ein Punkt zur Informationsvorbereitung, Kampfsätze von hochpräzisen Lenkraketen, ein Arsenal-Satz sowie Lehr- bzw. Ausbildungs- und Trainingsmittel.
Das Thema der nuklearen Komponente spielt bei den Lieferungen von „Iskander“-Komplexen an Minsk bei weitem nicht die letzte Rolle. Jüngst unterbreitete der polnische Europarlamentsabgeordnete Radosław Sikorski die Initiative, Kiew mehrere nukleare Gefechtsladungen zu übergeben – es versteht sich: US-amerikanische. In Europa gebe es davon laut einer Erklärung von Wladimir Putin mindestens 200 Stück. Dies sind vor allem B-61-12-Fliegerbomben mit einer Leistung von 18 Kilotonnen (auf Hiroshima und Nagasaki wurden im August 1945 20-Kilotonnen-Bomben abgeworfen). Für ihren möglichen Einsatz seien 257 Flugzeuge vorbereitet worden.
Die USA und die NATO sündigen schon lange dadurch, dass sie unter Verletzung internationaler Pflichten gemeinsame Manöver zur Ausbildung von Piloten kernwaffenfreier Länder für einen Einsatz von Kernwaffen durchführen. So blufft Sikorski nicht sehr stark. Polnische Piloten können solche Waffen abwerfen. Zumal Polen gegenwärtig US-amerikanische Kampfjets der letzten Generation F-35 Lightning II erwirbt, die in der Lage sind, derartige Waffen an Bord zu nehmen. Warum sollte man da nicht dies auch den Ukrainern beibringen?
Alexander Lukaschenko ist extrem über die Möglichkeit eines derartigen Szenarios beunruhigt. Zuvor hatte er in einem Interview für die russische staatliche Nachrichtenagentur RIA Novosti berichtet, dass bei einer Stationierung amerikanischer nuklearer Gefechtsköpfe in Polen (oder, wie erhitzte Gemüter träumen, auch in der Ukraine) er dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vorschlagen werde, Kernwaffen nach Weißrussland zurückzubringen. Für deren Aufnahme sei im Land alles bereit – Startpositionen, Hangars für eine Lagerung von Technik nuklearer Sprengköpfe. Das sparsame Oberhaupt Weißrusslands hat sie noch seit den Sowjetzeiten bewahrt.
Allerdings sieht Wladimir Putin bisher keine Gründe für eine globale „symmetrische Antwort“. Bei der Begegnung mit Alexander Lukaschenko in Petersburg hatte er lediglich betont, dass „wir verpflichtet sind, uns um die Gewährleistung unserer Sicherheit, die Sicherheit des Unionsstaates und der anderen Länder der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit zu sorgen“. Im Grunde genommen wird Minsk in diesem Kontext auch die operativ-taktischen 2Iskander“-Raketenkomplexe erhalten. Und Russland wird zusätzlich eine Modernisierung der weißrussischen Su-25-Jagdflugzeuge „Gratsch“ (deutsch: Krähe) vornehmen. Es wird angenommen, dass sie gleichfalls Kernwaffen anwenden werden können. Beginnen wird auch eine Ausbildung weißrussischer Piloten – analog zu den NATO-Piloten.