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Man muss nicht die Rabbiner aufstacheln!


Am vergangenen Mittwoch wandte sich der Chefrabbiner der Ukraine Moshe Reuven Azman an die russischen Bürger mit der Bitte, auf die Führung des Landes Einfluss zu nehmen, um die Kampfhandlungen in seinem Land zu stoppen. Ein gewisser russischsprachiger Rabbiner, der in Israel lebt, ist weiter gegangen. Er forderte von den religiösen Führungskräften der jüdischen Organisationen in Russland, offen die militärische Sonderoperation in der Ukraine zu verurteilen. Er verdiente Billigung dafür, denn es wurden Stimmen zur Unterstützung dieses Mannes laut.

All dies erfolgt vor dem Hintergrund einer recht vorsichtigen Position der Führung Israels. Jedoch äußern sich einzelne Politiker privat recht scharf über die russische Führung. Der einstige sowjetische Dissident und nunmehrige Vorsitzende des Aufsichtsrates des Holocaust-Memorial-Zentrums „Yad Vashem“ („Jad Waschem“) Natan Scharanski ist der Auffassung, dass Russlands Präsident „mit dem Holocaust-Thema manipuliert“, um die russischen Handlungen in der Ukraine zu rechtfertigen. So kommentierte er das Einschlagen einer Rakete in Babyn Jar (siehe auch: https://ngdeutschland.de/prasident-selenskij-unsere-geschichte-unser-land-sollen-ausgeloscht-werden/).

Die russischen Rabbiner verhalten sich wirklich äußerst vorsichtig. Es wurde einige Aufrufe zu einer friedlichen Lösung des Konflikts laut. Am 2. März gab Russlands Oberrabbiner Berl Lazar eine Erklärung ab, in der seine Hilfe bei Verhandlungen anbot: „Ich bin zu jeglicher Vermittlerrolle bereit, ich bin bereit, alles zu tun, was in meinen Kräften steht. Und sogar mehr, nur damit die Waffen schweigen, Bomben zu explodieren aufhören!“ „Unsere Pflicht vor Gott ist, mit allen Kräften nach einem gegenseitigen Verstehen zu streben, zu gegenseitiger Achtung, und um auf keinen Fall das Schwert gegen den eigenen Bruder zu erheben!“, schrieb er. Und in Israel tadelt man den Rabbiner dafür, dass er die militärische Sonderoperation nicht mit dem Wort bezeichnete, mit dem sie nach Meinung der israelischen Bürger bezeichnet werden muss.

Von irgendeinem Protest gegen die Handlungen der Landesführung ist natürlich keine Rede. Die Rabbiner sprechen in solchen Fällen von einer Verantwortung für ihre Gemeinden, für das Schicksal der Menschen. Die Opponenten aus dem Ausland schmettern dieses Argument zurück. Sie ziehen riskante historische Parallelen, stellen solche Vergleiche an, die an und für sich schon im heutigen Russland als ein Anlass zur Verurteilung angesehen werden.

Der Mann, der die russischen Rabbiner beschämte, hatte einst auch in einer der Moskauer Synagogen im Rahmen des Wirkens einer großen jüdischen Vereinigung seinen Dienst versehen. Wie es sich im religiösen Bereich unseres Landes ergeben hat, hatte er die Gemeinde nicht im Ergebnis offener Wahlen unter Beteiligung der Gläubigen erhalten, sondern war in das Amt – wie es heißt – zur seelsorgerischen Betreuung der Moskauer und für den eigenen Verdienst eingesetzt worden. Einst hatten sich ihm gegenüber Beanstandungen der Rechtsschutzorgane ergeben, und man blockierte ihm die Einreise nach Russland. Er blieb in Israel und hat scheinbar seinen Platz im jüdischen Staat gefunden.

Dieser Rabbiner ist nicht allein solch einer. Es gibt mehrere religiöse Vertreter, die aus Russland ausgewiesen worden sind. Wir wissen nicht genau, welches die Gründe sind. Sie sind selbst für die Arbeitgeber dieser Rabbiner, die zentralisierten religiösen Organisationen, die mehrfach eine patriotische Position deklariert hatten, ein Geheimnis.

Bemerkenswert ist, dass die Männer eine vorbereitete Zufluchtsstätte haben, einen Ort, wohin sie sich begeben können, nachdem sie im Airport Ben Gurion das Flugzeug verlassen haben, wo sie mit ihrem Schlüssel die Wohnungstür öffnen, den Staub von der Couch wedeln und sich nach dem langen Weg aus Moskau zum Ausruhen hinlegen können.

Aber man darf nicht vergessen, dass die tausenden Menschen, die in den letzten dreißig Jahren Synagogen besuchten, kein zweites Zuhause in Israel oder in den Vereinigten Staaten haben. Die Gemeindemitglieder haben dreißig Jahre lang die Rabbiner angehört, haben sich die traditionellen Werte angeeignet und bemühten sich, so zu handeln, wie es ihnen die geistlichen Lehrer gelehrt hatten. Sie hatten vor allem Familien gegründet, in denen zahlreiche Kinder das Licht der Welt erblickten, wie die Tora lehrt: Seid fruchtbar und mehret euch! Viele dieser Kinder sind nie in Israel gewesen, sind aber in der traditionellen jüdischen Atmosphäre geboren und erzogen worden. Sie sind nicht zu verstecken. Sie können sich nicht unter den anderen Bürgern Russlands wie in Luft auflösen, wie dies die sowjetischen Juden im Verlauf von 70 Jahren zu tun gewohnt waren.

Für die absolute Mehrheit der russischen Juden ist es vollkommen unmöglich, sich mit den Wurzeln aus Russland herauszureißen und einfach auf einen anderen Boden Fuß zu fassen. Diejenigen, die dazu imstande sind, haben dies bereits vor vielen Jahren getan. Andere haben es vorgezogen, in der Heimat zu bleiben. Dies ist ihre legitime Entscheidung. Und vielleicht auch einfach eine Notwendigkeit. Sie haben nicht vor, sich weder von der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk noch von den Sympathien für den jüdischen Staat Israel loszusagen. Ich bin mir aber sicher, dass sie für sich auch keine Möglichkeit sehen, die Heimat aufzugeben, in der sie geboren wurden, groß geworden sind, wo die Vorfahren beigesetzt worden sind. Die Menschen können sich nicht die Zunge herausreißen, mit der russische Worte gesprochen werden. Dies ist genauso unmöglich, wie die Hautfarbe zu ändern.

Was schlägt man aber den Rabbinern vor? Offen mit einer Aktion des Ungehorsams aufzutreten und danach wahrscheinlich ins Ausland zu gehen. Doch die Rabbiner, die, indem sie Gemeinden entwickelten und all die letzten Jahre erklärten, dass das jüdische Leben rasant eine Wiedergeburt erlebe und sich entwickele, haben wirklich die Verantwortung für diejenigen übernommen, die sie sich vertraut gemacht haben (Anspielung auf das Zitat „Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“ aus „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry – Anmerkung der Redaktion).

Es sei daran erinnert: Gerade die religiösen Organisationen werden im postsowjetischen Russland als inoffizielle Vertreter der jüdischen Gemeinde wahrgenommen. In den vergangenen Jahren sind keine freien, unabhängigen zivilgesellschaftlichen Institute des jüdischen Gemeindelebens entstanden. Keiner brauchte unter den russischen Realitäten wahrhaft demokratische Prozeduren, die die realen Wünsche und Bedürfnisse der Juden mit dem Pass eines russischen Staatsbürgers reflektiert hätten. Anstelle dessen hatten die Offiziellen zu solch einer Vertretung die Rabbiner-Organisationen bevollmächtigt, wobei man sich auf das Modell der Russischen orthodoxen Kirche stützte. Und als dies klappte, nahm man in ihnen eine „Verwurzelung“ der Kader vor (der Oberrabbiner Russlands Berl Lazar ist beispielsweise ein gebürtiger Mailänder, der erst 1990 nach Russland gekommen ist – Anmerkung der Redaktion). Daher liegt auf den Rabbiner eine besondere Verantwortung.

Dies ist etwa genau solch eine Verantwortung wie sie auf dem Jüdischen Antifaschistischen Komitee nach dem Krieg gelegen hatte. Damals hatten die sowjetischen Herrschenden eine Kehrtwende um 180 Grad vorgenommen. Und ihr ganzer politischer Zynismus ergoss sich auf die sowjetischen Juden, von deren Verwandten die Asche in den Krematorien von Auschwitz noch nicht erkaltet gewesen war. Ums Leben kam der Schauspieler Solomon Michoels, erschossen wurden Poeten und Wissenschaftler, Ärzte wurden in Gefängnisse geworfen. Es setzten eine Hetze und Verfolgung gegen die „Bürger jüdischer Nationalität“ auf den Straßen sowjetischer Städte – in Moskau, Kiew und Minsk – ein.

Heutzutage fordert man auch von der Führung der Russischen orthodoxen Kirche, offen mit einer Kritik an der Führung Russlands aufzutreten. Doch beim schlimmsten Szenario werden Millionen von einfachen Gläubigen nicht mit den Hierarchen die Ungnade der Herrschenden teilen. Das gleiche kann man auch über die moslemischen und buddhistischen geistlichen Führer sagen. Hinter ihnen stehen nationale Republiken, zahllose Glaubensgenossen. Das Häufchen Juden aber ist ein bequemes und schutzloses Ziel für Repressionen. So war es in allen Zeiten gewesen. Und das Ausland wird nicht helfen. Nur Mitgefühl bekunden, wie dies bereits in der Geschichte gewesen war.

Eine Wiederholung der Tragödien zu provozieren, bedeutet, deren Beteiligter zu sein.