Am letzten Montag traf der EU-Sondervertreter für Menschenrechtsfragen, der Ire Eamon Gilmore, zu seinem ersten Ukraine-Besuch ein. Traditionell war ein Gespräch mit ukrainischen Offiziellen zu den Rechten der Einwohner des Donbass und der nicht von Kiew kontrollierten Krim vorgesehen worden. Am Vortag hatte sich aber eine neue Frage ergeben – über die Rechte von Viktor Medwedtschuk, des Vorsitzenden des politischen Rates der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“, der aufgrund einer Taufpatenschaft enge Beziehungen zu Russlands Präsident Wladimir Putin unterhält.
Zum Anlass der hochgegangenen „Informationsbombe“ wurde ein Interview des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij für die Sendung „Fakten der Woche“ auf dem TV-Kanal ICTV. Auf eine entsprechende Frage antwortend, räumte das Staatsoberhaupt die Möglichkeit eines Austauschs eines der Anführer der Opposition gegen Ukrainer aus der Liste der Personen, die in der Russischen Föderation, auf der Krim sowie der nichtanerkannten Donezker und Lugansker Volksrepublik festgehalten werden, ein. „Viktor Medwedtschuk ist Bürger der Ukraine. Und ihm gegenüber wird die ukrainische Gesetzgebung angewandt. Wenn andererseits Russland beispielsweise bestätigen würde, dass Herr Medwedtschuk die russische Staatsbürgerschaft besitzt, so würden wir danach mit Freude die Möglichkeit eines Austauschs von Medwedtschuk gegen Helden der Ukraine, von Bürgern, die sich nicht in der Ukraine befinden, prüfen“, erklärte Selenskij.
Viktor Medwetschuk antwortete: „Ich hatte und habe keine andere Staatsbürgerschaft außer der ukrainischen. Ich bin Staatsbürger der Ukraine und werden in sein, ungeachtet des widerrechtlichen, verbrecherischen Drucks, der heute durch die Herrschenden gegen mich ausgeübt wird. Und das Fabrizieren von Strafsachen betrachte ich ausschließlich als eine ungesetzliche strafrechtliche Verfolgung und politische Repressalien“. Der Politiker beabsichtigt, in der Heimat zu bleiben und „für die Wiederherstellung von Gerechtigkeit und einen Triumph des Gesetzes, aber auch für eine Bestrafung all jener, die sich mit der kriminellen Organisierung einer politisch motivierten strafrechtlichen Verfolgung und die Erhebung widerrechtlicher Anschuldigungen gegen mich befassen, zu kämpfen“.
Dass der Präsident der Ukraine die Möglichkeit derartiger Austausche einräume, demonstriere nach Meinung von Medwedtschuk, „in was für einen rechtlichen und moralischen Abgrund die Ukraine gestürzt ist, und belegt faktisch, dass das Land seine Existenz als ein Rechtsstaat beendet hat“. Die Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ ist ihrerseits der Auffassung, dass die ukrainischen Offiziellen „um jeden Preis und unter Verletzung der Verfassung und der Gesetze der Ukraine, Medwedtschuk aus dem Land verdrängen“ möchten. Außerdem denken die Anhänger des in Ungnade gefallenen Politikers, dass die Erklärung von Wladimir Selenskij „von einem völligen Scheitern des Dialogs mit der Russischen Föderation zeugt“. Daher versuche der ukrainische Präsident, einen Dialog mit Russland mittels Andeutungen zu führen, die in einem Fernsehinterview erklingen. In der moskautreuen Oppositionspartei erklärte man ein weiteres Mal, dass eine Abrechnung der ukrainischen Herrschenden mit politischen Opponenten erfolge.
Die Situation hätte im Berufungsgericht innerhalb des Obersten Gerichts ausgenutzt werden können, das – wie früher mitgeteilt worden war – am 20. Oktober weiter über die Klage gegen den Präsidentenerlass über die Anwendung von Sanktionen gegen Viktor Medwedtschuk verhandeln sollte. Im September wurde bekannt, dass sich das Gericht an das Präsidenten-Office und den Sicherheitsdienst der Ukraine mit dem Vorschlag gewandt hatte, schriftliche Erklärungen über das Prozedere der Behandlung der Frage über die Anwendung von Sanktionen gegen einen Bürger der Ukraine durch den Rat für nationale Sicherheit und Verteidigung vorzulegen. Die Sanktionen waren Anfang des Jahres verhängt worden – gegen Medwedtschuk und später gegen dessen Ehefrau Oksana Martschenko, aber auch gegen die Familie von Taras Kosak, noch eines Mitglieds der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“. Zu einer Folge der Sanktionen wurde die Schließung von drei oppositionellen Fernsehkanälen, deren Besitzer Kosak ist. Später wurde Medwedtschuk des Landesverrates und der Beihilfe zu einer terroristischen Tätigkeit verdächtigt. Zur Grundlage wurde, wie im Mai mitgeteilt wurde, ein Deal Medwetschuks mit den russischen Herrschenden für die Förderung von Erdöl und Erdgas im Schwarzen Meer bereits nach dem Beitritt der Krim zur Russischen Föderation (in der Lesart von Kiew und des Westens: nach der Annexion der Krim durch Russland – Anmerkung der Redaktion).
Seitdem befindet sich der 67jährige Politiker unter Hausarrest. In der ersten Oktoberdekade informierte man ihn über den neuen Verdacht eines Landesverrats – im Zusammenhang mit den 2015 organisierten Kohle-Lieferungen aus den von Kiew nicht kontrollierten Donbass-Gebieten. Der Chef des ukrainischen Sicherheitsdienstes Iwan Bakanow erklärte bei einem Briefing: „Laut der Version der Untersuchungsbehörden geht es um Handlungen, die auf eine Untergrabung der Energieunabhängigkeit der Ukraine abzielten. Insbesondere, nachdem Russland einen Teil des Donbass besetzt hatte, war die Ukraine am Rande einer Energiekrise gewesen. Daher war entschieden worden, Kohle auf dem Weltmarkt zu kaufen, unter anderem in der Republik Südafrika“. Laut der Version der Untersuchungsbehörden war die russische Seite daran interessiert gewesen, die Lieferungen scheitern zu lassen. Und deshalb „erfolgte unter Vermittlung von Medwedtschuk eine Abmachung mit höchsten Beamten der Ukraine, die unter Ausnutzung der Vollmachten der Nationalbank und der Rechtsschutzorgane künstliche Hindernisse für die Kohlelieferung aus der Republik Südafrika schufen“. Wonach, wie Materialien des ukrainischen Sicherheitsdienstes belegen, illegale Schemas für Kohlelieferungen aus der Donezker und der Lugansker Volksrepublik an staatliche Unternehmen der Ukraine geschaffen wurden. Die Bezahlung dieser Lieferung wird von den Untersuchungsbehörden als Beihilfe für eine terroristische Tätigkeit angesehen. Nach der Formulierung des neuen Verdachts entschied man in Kiew erneut über eine Sicherungsmaßnahmen in Bezug auf Viktor Medwedtschuk. Die Anklage schlug vor, den Politiker in U-Haft zu nehmen. Das Gericht beließ ihn aber unter einem Hausarrest rund um die Uhr. Das Damoklesschwert in Gestalt der Inhaftierung in eine U-Haftanstalt ist jedoch geblieben.
Bereits im Mai, als man für Medwedtschuk das erste Mal eine Sicherungsmaßnahme auswählte, hatte man in Kiew begonnen, von einem möglichen Austausch eines der Anführer jenes Teils der Opposition, den man in der Ukraine für einen prorussischen hält, gegen festgehaltene Menschen zu sprechen. Damals hatte der Sekretär des Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung Alexej Danilow bei Beantwortung einer Journalistenfrage solch eine Möglichkeit eingeräumt, aber nur, nachdem die ukrainischen Gerichte ein Verdikt zum „Fall Medwedtschuk“ sprechen. Experten sprachen davon, dass der Prozess des Austauschs von festgehaltenen Personen ausgesetzt worden sei. Die Ukraine möchte aber über 300 ihrer Bürger wieder freibekommen.
Der Leiter des Zentrums für politische Forschungen „Penta“, Wladimir Fesenko, sagte gegenüber Radio Liberty, dass der Austausch, über den man in den Medien angefangen hat, Überlegungen anzustellen, „nicht mehr als eines der möglichen Szenarios ist, das sich ergeben kann. Dies ist aber keine Erklärung an die Adresse Russlands. Keiner wird heute mit Medwedtschuk handeln, zumal bisher von keinerlei Gerichtsentscheid die Rede ist. Unter Berücksichtigung des Arbeitstempos unserer Rechtsschutzorgane und besonders des Arbeitstempos der Gerichte „ist der Fall Medwedtschuk ein Langläufer, für zwei, drei Jahr, nicht weniger“. Eine Nuance bestehe auch darin, dass in der Erklärung von Wladimir Selenskij keine Bedingung für das Gerichtsverdikt im „Fall Medwedtschuk“ erklang, sondern nur die vom Vorhandensein einer russischen Staatsbürgerschaft. Da der Politiker behauptet, dass er keinen russischen Pass habe, werde die Frage nach einem Austausch wohl kaum zu einer aktuellen werden. Aber auf die politische Lage in der Ukraine und auf die Beziehungen Kiews mit der EU kann die Situation Einfluss nehmen. Die Opposition versuchte, den Sondervertreter der EU für Menschenrechtsfragen Eamon Gilmore in die Details des Geschehens einzuführen. Über Ergebnisse dieser Anstrengungen ist bisher jedoch nichts bekannt geworden.