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„Memorial“ soll komplett auseinandergenommen werden


Im Moskauer Stadtgericht begannen am 23. November die Voranhörungen zur Liquidierung des Menschenrechtszentrums von „Memorial“ (einer in Russland als „ausländischer Agent“ eingestuften Organisation). Die Verhandlungen zur Klage der Moskauer Staatsanwaltschaft mit Rückendeckung des russischen Justizministeriums werden am Montag, dem 29. November fortgesetzt. Experten räumen ein, dass das langsame Vorgehen des Gerichts mit der Absicht der Offiziellen zusammenhänge, für diese grundlegende Entscheidung sorgfältiger eine juristische und informationsseitige Grundlage vorzubereiten. Es ist jedoch klar, dass gerade das Menschenrechtszentrum von allen „Memorial“-Strukturen ganz bestimmt geschlossen wird, da es sich auch mit einer aktuellen Verteidigung oppositioneller Aktivisten befasst.

Bei den Anhörungen am 23. November waren durch die Verteidigung eine Reihe von Anträgen gestellt worden. Beantragt wurde, von der Anklage zusätzliche Beweise einzufordern. Die Staatsanwaltschaft versprach, bei der anstehenden Verhandlungsrunde unbedingt mitzuteilen, auf welcher Grundlage bereits vor einem Jahr durch die Institution eine finale Überprüfung des Menschenrechtszentrums vorgenommen worden war. Zu den Ergebnissen der Erörterung entschied das Moskauer Stadtgericht, auch den kompletten Beschluss des Twerskoi-Stadtbezirksgerichts der russischen Hauptstadt, auf den sich die Staatsanwaltschaft beruft, und einige andere Materialien anzufordern.

Die erste Vorverhandlung erfolgte hinter verschlossenen Türen, und nicht nur im Zusammenhang mit der COVID-Pandemie. Zum Gebäude des Moskauer Stadtgerichts waren dennoch mehrere Dutzend Menschen gekommen, darunter der amtierende Direktor, Mitglieder des Rates und Mitarbeiter der zur Liquidierung vorgesehenen Organisation. Am 25. November erfolgte dann im Obersten Gericht der Russischen Föderation die Behandlung der Klage der russischen Generalstaatsanwaltschaft gegen die Organisation „Internationales Memorial“, die ebenfalls als einzelner „ausländischer Agent“ im Land abgestempelt wurde. Freilich ging es bereits um das Wesen der Sache. Aber nicht lange, da die zuständige Richterin Alla Nasarowa nach wenigen Stunden die nächste Verhandlungsrunde für den 14. Dezember anberaumte.

Was nun aber das Menschenrechtszentrum angeht, so ist eine der Anklage gegen dieses wegen einer angeblichen Rechtfertigung der Tätigkeit von Beteiligten internationaler terroristischer und extremistischer Organisationen erhoben worden. Dies hängt mit Veröffentlichungen von Listen russischer politischer Gefangener zusammen. Die Staatsanwaltschaft ist gleichfalls der Auffassung, dass das Menschenrechtszentrum systematisch Informationen über die Wahrnehmung von Funktionen eines ausländischen Agenten durch dieses verheimlicht habe. Ungefähr das gleiche wird auch der „großen“ Organisation „Memorial“ vorgeworfen.

Wahrscheinlich wird gerade die Tatsache, dass das Menschenrechtszentrum Projekte leitet, die Informationen über Festnahmen bei Protestaktionen sowie ordnungsrechtliche und Strafsachen akkumuliert, Aktivisten die Hilfe von Juristen bereitstellt und auch noch Listen politischer Gefangener führt, sein Schicksal vorausbestimmen. Wie das Büromitglied der Partei „Jabloko“ Grigorij Grischin gegenüber der „NG“ anmerkte, sei es logisch, dass die Offziellen gerade mit dem Menschenrechtszentrum begonnen haben. „Dies ist eine Plattform für Aktivisten, ein Verteidigungsinstrument für die Zivilgesellschaft. Wenn man solch ein Instrument aus den Händen schlägt, so wird es nichts geben, um sich zu verteidigen“. Er vermutete, dass man die Verhandlung wahrscheinlich in die Länge ziehe, da derzeit eine Manipulierung der öffentlichen Meinung erfolge. „Die Herrschenden haben riesige Erfahrungen, wie man die Brisanz gesellschaftlicher Probleme sowohl mit Hilfe von Informationskampagnen als auch durch Gerichte überwinden kann. Der Leiter des analytischen Zentrums der KPRF, Sergej Obuchow, erläuterte der „NG“: „Obwohl „Memorial“ vom Wesen her ein ideeller Opponent der KPRF ist, haben wir insgesamt eine negative Einstellung zu dieser Sache“. Nach seinen Worten erstrecke sich der Druck, den die Offiziellen auf die Opposition ausüben, auf ihr gesamtes Spektrum. Folglich seien „die Vernichtung von „Memorial“ und die Verfolgung des Protestflügels der KPRF tatsächlich Glieder einer Kette“. Und die Liquidierung gerade des Menschenrechtszentrums erfolge, weil „für die Offiziellen in erster Linie die gesellschaftliche und staatsbürgerliche Agenda relevant ist. Doch dabei besteht die Absicht, die Hitze der Leidenschaften zu verringern. Und von daher werden auch die Sitzungen verlängert“. Und wenn die Anklage, wie sie jetzt aussieht, wirklich an den Haaren herbeigezogen ist, so „sucht man sicher andere Beweise“. Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow bestätigte, dass die „Menschenrechtler der hauptsächliche Reizfaktor für das politische System sind“. Daher sei klar, dass man in erster Linie denjenigen Vorwürfe vorbringt, die die aktuelle Agenda propagieren würden. Daher wolle man ja auch in erster Linie mit dem Menschenrechtszentrum abrechnen. Sein Wirken füge aus der Sicht der Herrschenden dem Ansehen der Russischen Föderation im Ausland und dem Image der eigentlichen Offiziellen im Land Schaden zu. Nach Meinung des Experten sei dies durchaus in der Logik des Systems: „Liquidiert werden müssen in erster Linie jene, die die Ausprägung eines einheitlichen Denkens und des Konsenses in der Gesellschaft um die Herrschenden herum stören. Für die gewissen Verzögerungen mit diesem Fall gebe es nach Aussagen von Kalatschjow viele mögliche Erklärungen.

Die erste Variante sei ein gewisser Streit unter den Offiziellen, das Auftauchen eines Unterschieds der Herangehensweisen zwischen den sogenannten Grundpfeilern des Kremls. Die zweite Variante sei die Absicht, die harte Informationsagenda zu verwaschen, das heißt, „den Schwanz nicht vollkommen, sondern stückweise abzuhacken. Die dritte Variante sei: Die Anklage werde auf der Rechtsebene durchgearbeitet, das heißt: Für die Liquidierung des Menschenrechtszentrums suche man stahlbeton-harte Begründungen, beispielsweise Angaben von Rosfinmonitoring (russische Behörden für die Kontrolle der Finanz- und Geldströme – Anmerkung der Redaktion). „Wenn der Fall schon zu solch einem spektakulären geworden ist, so ist es für die Herrschenden wichtig zu zeigen, dass es alle legitimen Grundlagen für eine völlige Zerschlagung von „Memorial“ gibt und dass es „keine Abrechnung mit Opponenten“ und kein Voluntarismus ist. Und dass, wenn schon die Herrschenden harte Gesetze verabschieden, sie die auch unbedingt einhalten und durchsetzen. Dann werden zumindest beim loyalen und machttreuen Teil der Gesellschaft keine Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der gefällten Entscheidung bleiben. Dafür muss man aber den Anschein eines richtigen Rechtsprozesses erwecken“, sagte Kalatschjow der „NG“.