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Merkel wird versuchen, Kiew von der Ungefährlichkeit des Projekts „Nord Stream 2“ zu überzeugen


Im Verlauf ihres Abschiedsbesuchs in Kiew wird Angela Merkel wohl kaum am Summit „Krim-Plattform“ teilnehmen. Die Gespräche der deutschen Kanzlerin mit der ukrainischen Führung sind für den 22. August geplant. Der Gipfel findet aber am 23. August statt, und am folgenden Tag sind die Feierlichkeiten aus Anlass des 30. Jahrestages der Unabhängigkeit der Ukraine geplant. Experten räumen ein, dass die deutsche Politikerin, die russische Seite nicht reizen möchte, mit der Deutschland eine Zusammenarbeit im Rahmen von „Nord Stream 2“ plant.

Die Inbetriebnahme der Gaspipeline wird zu einem der Hauptthemen der Gespräche in Kiew. Bekanntlich hatte Wladimir Selenskij am 12. Juli in Berlin versucht, Merkel davon zu überzeugen, dass er Recht habe. Das ukrainische Staatsoberhaupt ist der Auffassung, dass „Nord Stream 2“ kein Wirtschaftsvorhaben sei, sondern in erster Linie ein Hebel zur Einflussnahme Russlands mittels Energieträger. In Kiew ist man davon überzeugt, dass dies neue Risiken im Sicherheitsbereich nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die EU schaffe. Jurij Vitrenko, der Chef des nationalen Konzerns „Naftogaz“, hatte früher in einem Interview für „Voice of America“ erklärt: „Unsere Position ist unverändert: „Nord Stream 2“ ist eine Bedrohung für die Sicherheit der Ukraine und der ganzen Region … Dies ist eine geopolitische Waffe des Kremls. Daher verstehen wir nicht ganz, wie andere Länder – besonders die führenden Länder der westlichen Welt – sich über das Projekt des Kremls einigen können“.

Nachdem sich Merkel die Argumente Selenskij angehört hatte, vereinbarte sie am 15. Juli in Washington eine ungehinderte Fertigstellung der Gasleitung. Der Ukraine wurden Garantien bezüglich einer Beibehaltung des russischen Gastransits über ihr Territorium im Verlauf der nächsten zehn Jahre versprochen, aber auch Sanktionen des Westens gegen Russland, wenn es beginnen werde, seine Stellung auf dem Gasmarkt zu missbrauchen. Die Entscheidungen der deutschen Kanzlerin und des US-Präsidenten hatten in Kiew einen Sturm des Unmuts ausgelöst. „Ich verstehe nicht, wie Deutschland einen Transit von Gas über das Territorium der Ukraine garantieren kann, wenn es dieses Gas nicht fördert und das Gas nicht vom Territorium Russlands aus bereitstellt. Theoretisch könnte dies Russland garantieren, doch es stellt sich die Frage: Was für einen Preis haben diese Garantien?“, erklärte Jurij Vitrenko. Er erinnerte daran, dass die Ukraine seinerzeit bereits unbestimmte Sicherheitsgarantien bei der Unterzeichnung des Budapester Memorandums (vom 5. Dezember 1994 – Anmerkung der Redaktion) erhalten hätte. Und dieses Dokument sei weder in der Zeit des Krim-Referendums (im Jahr 2014) noch zu Beginn des Krieges im Donbass angewandt worden. „Kann man denn dem glauben, wenn irgendwer etwas anstelle von Russland verspricht? Man kann nicht einmal dem Glauben schenken, was Russland selbst verspricht. Wir haben dies in der Praxis durchgemacht“, sagte der „Naftogaz“-Chef, als er die Versicherungen der Spitzenvertreter der USA und Deutschlands vom 15. Juli kommentierte.

Bereits im Juli hatten Abgeordnete der Werchowna Rada (das ukrainische Parlament – Anmerkung der Redaktion) zusammen mit Parlamentsmitgliedern aus elf Staaten eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet, wonach zu einer ordnungsgemäßen Kompensation für die Ukraine aufgrund der Inbetriebnahme von „Nord Stream 2“ eine „Roadmap“ zum Beitritt zur EU und NATO werden könnte. Diese Frage löst viele Streitigkeiten aus. In Kiew gesteht man inoffiziell ein, dass einige einflussreiche NATO-Mitgliedsländer gegen eine Annäherung mit der Ukraine aufgrund von Befürchtungen hinsichtlich der Reaktion Russlands seien. In diesem Kontext nimmt man in Kiew auch die Haltung Deutschlands in den Fragen der Regulierung des Donbass-Konflikts wahr. Bekanntlich hatte Angela Merkel nach den Juli-Gesprächen mit Wladimir Selenskij in Berlin erklärt, dass es im Minsker Prozess an einem Fortschritt mangele: „… Wir brauchen eine Implementierung der sogenannten Steinmeier-Formel“. Die Erklärung Merkels wurde zu einem zusätzlichen Reizfaktor für die ukrainische Seite, da die Offiziellen keine Beschlussentwürfe über den Sonderstatus der Territorien, die durch die nichtanerkannten Gebilde Donezker Volksrepublik und Lugansker Volksrepublik kontrolliert werden, ins Parlament einbringen können. Den Ergebnissen einer Reihe von Umfragen nach zu urteilen, würde solch ein Versuch Protestaktionen unter Beteiligung der Kräfte, die am radikalsten eingestellt sind, auslösen. Die in der Steinmeier-Formel verankerten Ideen werden von 50 bis 70 Prozent der Bürger der Ukraine abgelehnt.

Sergej Nikiforov, der Pressesekretär des ukrainischen Präsidenten, teilte mit, dass Merkel und Selenskij in Kiew unbedingt die Situation um die Sicherheit im Osten der Ukraine erörtern, aber auch darüber sprechen würden, „wie man die Friedensverhandlungen reanimieren kann“. Das Ziel des Besuchs der deutschen Kanzlerin besteht aber augenscheinlich in etwas Anderem. Als Reaktion auf die Vereinbarungen von Angela Merkel und Joseph Biden initiierte die ukrainische Seite Konsultationen mit der Europäischen Kommission und mit Deutschland. Dies erklärte Außenminister Dmitrij Kuleba: „Entsprechend Artikel 274 des Assoziationsabkommens mit der EU initiiert die Ukraine offiziell Konsultationen mit der Europäischen Kommission und der BRD zu „Nord Stream 2“, die die Sicherheit der Ukraine bedroht und die Prinzipien des EU-Energiebündnisses für eine Diversifizierung verletzt. Entsprechende Noten sind bereits nach Brüssel und Berlin gesandt worden“.

Die Konsultationen können in der Zeit der Bundestagswahlen in Deutschland stattfinden. Um den Ereignissen vorzugreifen, wird Merkel in Kiew versuchen, das Selenskij-Team davon zu überzeugen, dass „Nord Stream 2“ keine Bedrohung für die Ukraine in sich berge. (Zumal zwei Tage vor dem Kiew-Besuch die Bundeskanzlerin mit Russlands Präsident Wladimir Putin in Moskau sprechen wird – Anmerkung der Redaktion.) Sergej Nikiforov bestätigte, dass Kiew Antworten auf viele Fragen erwarte. Insbesondere, wie konkret Deutschland beabsichtige, die Erfüllung der Verbindlichkeiten für den Fall zu garantieren, wenn Russland doch versuchen werde, seine Lage auf dem Energiemarkt nach Inbetriebnahme von „Nord Stream 2“ zu missbrauchen. Bereits Anfang Juli, als Medien über Projekte für eine Kompensierung für die Ukraine, die in Berlin ausgearbeitet werden, berichteten, sagte Nikiforov Journalisten: „Die Position von Wladimir Selenskij ist solch eine, dass „Nord Stream 2“ schon lange keine Wirtschaftsfrage, sondern eine Frage der Sicherheit ist. Daher wird es, denke ich, über keinerlei wirtschaftliche Kompensationen gehen. Der Präsident der Ukraine versucht, den Bau von „Nord Stream 2“ zu stoppen. Wenn es nicht gelingt, dies zu tun, so werden wir dann über Sicherheitsgarantien sprechen, über die Rückholung der zeitweilig okkupierten Territorien und nicht über eine finanzielle Wiedergutmachung“.

Es ist offensichtlich, dass Angela Merkel die Frage in solch einem Sinne nicht lösen kann. Daher werden die Gespräche in Kiew harte sein, nehmen Politologen an. Anna Schelest, Leiterin des Programms für internationale Sicherheit des Rates für Außenpolitik „Ukrainisches Prisma“, sagte in einer Sendung des Hörfunksenders „Radio NW“: „… Natürlich wird die Frage nach den Minsker Verhandlungen und nach Möglichkeiten, aus der Sackgasse herauszukommen, in der sich derzeit die Verhandlungen — sowohl die im Normandie-Format als auch die Minsker – befinden, unbedingt auf der Tagesordnung stehen. Hier muss man aber begreifen, dass Deutschland in Gestalt von Frau Merkel versuchen wird, globaler zu sprechen. (Das heißt), … sowohl die Fragen zu „Nord Stream 2“ und überhaupt zu den Beziehungen mit der Russischen Föderation als auch die zur Unterstützung der Ukraine und der Energiesicherheit einzubeziehen“.

Zur gleichen Zeit vergisst man in Kiew nicht, dass Merkel aus dem Amt der Bundeskanzlerin scheiden wird. Der ehemalige Botschafter der Ukraine in den USA, Valerij Tschalyj, sagte in einer Sendung des TV-Senders „Ukraine 24“, dass der Führungswechsel in Deutschland eine Möglichkeit für die Ukraine sei, „auf andere Weise die Karten durchzumischen“. Und das nunmehrige Treffen mit Angela Merkel erlaube nach seiner Meinung den ukrainischen Offiziellen, „für die Perspektive zu arbeiten“. Bisher ist unbekannt, was sich daraus ergeben wird. Ex-Außenminister Konstantin Gristschenko betonte in einem Kommentar für das Nachrichtenportal „RBC-Ukraine“, dass in Deutschland ein Machtantritt politischer Kräfte erwartet werde, die das Projekt „Nord Stream 2“ nicht unterstützen. „Selbst wenn man dieses Vorhaben nicht vollkommen beendet, sondern die Inbetriebnahme um drei, vier Jahre vertagt, so kann sich die Situation in dieser Zeit vollkommen verändern“, merkte er an.